Migration

Keine Belege für Kontakte zwischen Schleusern und Seenotrettern

Immer wieder taucht die Behauptung auf, Seenotretter würden in Kontakt mit Schleusern stehen. So auch aktuell im Fall von Sea-Watch. Behörden haben dafür bisher keine Belege gefunden. Wir haben auch recherchiert, wie Seenotretter über Menschen in Seenot informiert werden.

von Tania Röttger

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Die Boote, auf denen Schleuser Flüchtlinge und Migranten aussetzen, sind oft nicht hochseetauglich. Diese 47 Menschen hat Sea-Watch am 19. Januar 2019 gerettet. (Foto: Federico Scoppa / AFP)
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Unbelegt. Trotz mehrerer Ermittlungsverfahren gibt es bisher keine Beweise für die direkte Zusammenarbeit zwischen Schleppern und Seenotrettern.

Die Epoch Times veröffentlichte am 20. Juli einen Artikel, in dem es um einen angeblichen „Sea-Watch-Skandal“ geht: „Italien enthüllt gemeinsame Machenschaften von Schleppern und NGO-Schiffen“. Der Artikel wurde dem Analysetool Crowdtangle zufolge bisher mehr als 4.100 Mal auf Facebook geteilt.

Crowdtangle zeigt auch an, welche Profile einen Artikel auf Facebook und Twitter verbreitet haben. (Screenshot: CORRECTIV)

Die Epoch Times stützt ihren Bericht auf ein Video: die Reportage eines italienischen Journalisten. Darin wird behauptet, ein libyscher Schleuser habe einem Mann, der sich als Flüchtling ausgab, bestätigt: „Wir sind mit Sea-Watch in Kontakt.“ Das Gespräch wurde gefilmt. In dem Video erzählt auch ein angeblich 21-jähriger Libyer, dass ihm ein Schlepper gesagt habe, es finde eine Zusammenarbeit mit Seenotrettern statt. Der Beweis sei, dass der Schlepper die Telefonnummern von mehreren Seenotrettern gespeichert habe. Die Personenangaben und die Authentizität des gefilmten Gesprächs im Video lassen sich nicht überprüfen.

Hier spricht der Lockvogel im Video angeblich mit dem Schleuser „Lukman Zauari“. (Screenshot: CORRECTIV)

Das Ganze erregte besondere Aufmerksamkeit, weil Italiens Innenminister Matteo Salvini (Lega Nord) in einer TV-Sendung auf die Reportage einging und sagte, die Justiz habe Belege „für Anrufe aus Libyen“, sie würden Treffpunkte auf dem Meer vereinbaren (ab Minute 9). 

Konkrete nachvollziehbare Belege für diese Behauptung nennen weder die italienische Reportage noch Epoch Times

Wir haben verschiedene Behörden kontaktiert und auch mit Sea-Watch gesprochen. Unsere Recherchen ergaben: Für die Behauptungen gibt es keine Belege.

Behörden haben keine Kenntnisse über etwaige Kontakte

Die deutschen Vertreter des UN-Flüchtlingskommissars „haben dazu keine Informationen“.

E-Mail des Sprechers der UNHCR-Vertretung in Deutschland auf die Frage, ob der UNHCR Kenntnisse von Kontakten zwischen Schleppern und Seenotrettern hat. (Screenshot: CORRECTIV)

Der Vertreter des UN-Flüchtlingskommissars in Libyen, Tarik Argaz, weiß nach eigenen Angaben nichts über Berichte, nach denen Schlepper mit Seenotrettern in Kontakt stehen. 

E-Mail des UNHCR-Vertreters in Libyen. (Screenshot: CORRECTIV)

Dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) liegen ebenfalls „keine Erkenntnisse“ dazu vor.

E-Mail der Pressestelle des BAMF. (Screenshot: CORRECTIV)

Frontex, die Grenzschutzbehörde und Küstenwache der EU, schreibt per E-Mail, sie habe nicht das Mandat, Einschätzungen zu solchen Fragen abzugeben oder Ermittlungen anzustellen. Sie empfiehlt, die italienischen Behörden zu kontaktieren.

E-Mail der EU-Grenzschutzbehörde Frontex. (Screenshot: CORRECTIV)

Wir haben das italienische Innenministerium und die Staatsanwaltschaft in der italienischen Stadt Agrigento gefragt, welche den Fall der Sea-Watch 3 bearbeitet hatte, ob sie Erkenntnisse zu den Behauptungen haben und ob sie in diesem Fall ermitteln werden. Das Innenministerium antwortete auf erneute Anfrage, es sei nicht zuständig. Die Staatsanwaltschaft meldete sich nicht zurück.

Italienische Ermittler fanden in bisherigen Ermittlungsverfahren keine Belege

Die italienische Faktencheck-Organisation Pagella Politica hat zu ähnlichen Behauptungen in der Vergangenheit bereits recherchiert. 

In einem Faktencheck von Februar 2019 schrieb Pagella Politica, dass es in den vergangenen zwei Jahren mindestens vier Ermittlungen durch italienische Staatsanwaltschaften gegeben habe – allerdings sei es in keinem Fall zu einer Anklage oder Verurteilung gekommen. „Bis heute gibt es daher keine gerichtlichen Beweise für Verbindungen zwischen diesen Organisationen und Menschenhändlern“, steht in dem Artikel. Die vier Staatsanwaltschaften sind Trapani, Catania, Ragusa und Palermo, die sich alle in Sizilien befinden.

Der scheinbar aussichtsreichste Fall aus Sicht der Italiener war der in Trapani. Dort wurde im Juli 2018 laut Medienberichten gegen die Besatzung des Schiffes „Iuventa“ der Organisation „Jugend rettet“ ermittelt – unter anderem habe die Polizei Fotos gehabt, die zeigen sollten, dass die Organisation mit Schleppern zusammenarbeitet. Anklage wurde bis heute aber nicht erhoben. Die Süddeutsche Zeitung schrieb im August 2017: „Beides spricht für einen Mangel an Beweisen.“ 

Die Staatsanwaltschaften in Italien beschlagnahmten offenbar auch Telefone und Computer. Das sei bei der „Iuventa“ der Fall gewesen, berichtete damals die Zeit, und auch Sea-Watch-Sprecher Ruben Neugebauer erzählt davon in einem Telefonat mit CORRECTIV. Trotzdem konnte die Staatsanwaltschaft anscheinend bisher keine Belege finden, die für eine Anklage genügt hätten.

Sea-Watch: Zusammenarbeit ist unlogisch

Sea-Watch-Sprecher Neugebauer weist die Vorwürfe zurück. Er erklärt am Telefon, warum und was seiner Meinung nach hinter den Vorwürfen stecken könnte.

Es sei diesem Vorwurf folgend zum Beispiel unlogisch, sagt Neugebauer, dass Schleuser auch dann Boote aufs Meer schickten, während sich keine NGO-Boote in dem Gebiet zwischen Libyen und Lampedusa befinden würden. 

Vor zwei Wochen sind laut UNHCR bis zu 150 Menschen, die von Libyen nach Europa fahren wollten, im Mittelmeer ertrunken. Im Jahr 2019 sind bisher laut UNHCR-Schätzungen 823 Menschen auf dem Weg über das Meer nach Europa gestorben.

Außerdem, sagt Neugebauer, sei es natürlich zum Vorteil der Schleuser, wenn sie behaupteten, mit Seenotrettern in Kontakt zu stehen. So könnten sie die Menschen beruhigen, die über das Meer wollen, aber Sorge vor den Gefahren haben – und mehr Geld verdienen.

Es ist öffentlich, wo sich die Rettungsschiffe befinden

Die Epoch Times schreibt, ein Schleuser habe dem libyschen Mann aus dem Video gesagt: „Die Orte, an denen Schiffe wie die Sea-Watch warten würden, seien bekannt. Wenn etwas passieren würde, bekäme die Sea-Watch eine Meldung.“

Es stimmt, dass öffentlich einsehbar ist, wo sich die Schiffe der Seenotretter befinden. Das ist aber auch eine Auflage der vorigen italienischen Regierung. Die hat NGOs wie Sea-Watch im Juli 2017 einen Verhaltenskodex auferlegt. Darin steht unter anderem, dass sie ihre Ortungssysteme (AIS und LRIT) anstellen müssen. Dadurch werden ihre Standortdaten unter anderem ins Internet übermittelt – jeder kann die Schiffe über Webseiten wie Marine Traffic verfolgen. Natürlich können das auch die Schlepper tun.

Auszug aus dem Verhaltenskodex von Juli 2017, den die damalige italienische Regierung den Seenotrettungs-NGOs aufgetragen hat. (Screenshot: CORRECTIV).

Wie läuft der Kontakt zur Seenotrettung?

Auch die Behauptung, Sea-Watch bekomme Meldung, „wenn etwas passieren würde“, stimmt – aber anders, als es scheint. 

Im Jahr 2017 bekam Sea-Watch nach eigenen Angaben 60 Prozent seiner Rettungseinsätze von der Italienischen Seenotrettungsleitstelle (Italian Maritime Rescue Coordination Center) in Rom gemeldet. Inzwischen gibt es laut Neugebauer kaum noch Meldungen von dort. Andere Organisationen meldeten nun, wenn sie Boote entdecken. Per Email schreibt Neugebauer: „Seit die Rettungsleitstelle in Rom – nach unserem Verständnis widerrechtlich – nicht mehr bzw. nur noch in seltenen Fällen mit NGOs und Handelsschiffen kooperiert, sind es an allererster Stelle die Aufklärungsflugzeuge, dicht gefolgt von Alarmphone und Eigensichtungen.“

Die Organisation Alarm Phone ist nach eigenen Angaben eine Initiative von Aktivisten und zivilen Akteuren in Europa und Nordafrika, die Notrufe koordiniert und weiterleitet. Sie veröffentlicht Notrufe auch auf ihrem Twitter-Kanal.

Beispiel eines Notrufes, der an Alarm Phone ging. Veröffentlicht am 26. Juli auf Twitter. (Screenshot: CORRECTIV)

Nach eigenen Angaben war Alarm Phone in der Zeit von Mai bis Juli 2019 mit Menschen auf 54 Booten in Kontakt, insgesamt 2.000 Personen seien betroffen gewesen. Manche von ihnen seien demnach gestorben.

Eine Sprecherin vom Alarm Phone, teilte CORRECTIV per E-Mail mit, dass die Organisation nichts von Kontakten zwischen Schleppern und Seenotrettern wisse. Sie erhalte die Notrufe von Menschen auf See oder deren Angehörigen und werde erst in Kenntnis gesetzt, wenn es einen Notfall gebe: „In unserer Zusammenarbeit mit SW (Sea-Watch, Anm. d. Red.), als auch mit anderen zivilen Seenotrettungsorganisationen, ist uns ein solcher Kontakt mit ’Schleppern’ in Libyen auch nicht bekannt.“

Die Nummer vom Alarm Phone werde direkt in „migrantischen Communities in den Transitländern“ bekannt gemacht. Von wem die Meldung jeweils komme, stehe in den Berichten, die auf der Webseite „Watch the Med“ veröffentlicht werden.

E-Mail des Berliner Büros von Alarm Phone. (Screenshot: CORRECTIV)

Vom Alarm Phone an die Seenotretter

Die Meldung einer Seenot geht beim Alarm Phone oft über ein Satellitentelefon des Unternehmens Thuraya ein. Mit dem Telefon können Standort-Koordinaten übermittelt werden, was nötig ist, um mögliche Rettungsboote an die richtige Stelle schicken zu können. Die Organisation leitet die Meldungen an die Küstenwachen der anliegenden Länder weiter – im westlichen Mittelmeer also etwa an Libyen, Tunesien, Malta und Italien, aber auch in Kopie an die Seenotrettungs-NGOs in der Nähe. Das heißt, Sea-Watch und die anderen erhalten tatsächlich Meldungen – allerdings nicht direkt von den Flüchtlingen und Migranten oder den Schleppern sondern von der Initiative Alarm Phone. Wie das genau abläuft, zeigt Schriftverkehr, den Sea-Watch CORRECTIV zur Einsicht bereitgestellt hat.

In einer Meldung von Alarm Phone an Sea-Watch im Januar 2019 heißt es zum Beispiel: „Wir haben einen Anruf von einem Boot erhalten, das in Seenot ist. (…) Es sind ungefähr 62 Menschen an Bord, darunter acht bis zehn Frauen, fünf Kinder und ein Baby. (…) Das Boot ist ein blaues Schlauchboot. Der Motor ist um ca. 10:30 Uhr stehen geblieben, und fünf Personen sind krank. Sie brauchen medizinische Behandlung. Sie bitten dringend um Hilfe.“

E-Mail vom Alarm Phone, die am 19. Januar 2019 an die italienische Küstenwache und die Besatzung der „Sea-Watch 3“ ging und die Sea-Watch CORRECTIV zur Verfügung gestellt hat. (Screenshot: CORRECTIV)
Eine weitere E-Mail des Alarm Phone, die laut Sea-Watch am 3. April 2019 an die libysche Küstenwache und die Besatzung des Bootes „Alan Kurdi“ ging. (Screenshot: CORRECTIV)

Die Sprecherin des Alarmphones schreibt weiter, dass sie natürlich nicht genau wissen können, wer anruft. Das sei ihnen in dem Moment „aber egal, weil es uns in erster Linie um die Rettung der Menschen geht“. Sie versuchten jedoch, die Informationen von Dritten durch Kontakt mit den Menschen in Seenot zu bestätigen.