Bild mit teilweise irreführenden Aussagen über die SPD im Umlauf
Ein auf Facebook geteiltes Bild legt nahe, die Politik der SPD sei für Armut in Deutschland verantwortlich. Einige der Aussagen sind so nicht richtig, andere stimmen. Es ist aber fraglich, ob die kritisierten Entscheidungen und Reformen die Ursache von Armut in Deutschland sind.
Die Facebook-Seite „Politik und Zeitgeschehen“ veröffentlichte den Beitrag am 3. Juni 2019. Seitdem wurde er rund 2.300 Mal geteilt. Er enthält fünf Behauptungen über die SPD, die CORRECTIV geprüft und kontextualisiert hat.
1. Ist Hartz IV ein Produkt der SPD?
Ja, das stimmt. Das Hartz-Konzept, zu dem auch das Arbeitsmarkt-Reformbündel Hartz IV gehört, ist Teil der Agenda 2010. Diese Agenda wurde zwischen 2002 und 2005 von einer rot-grünen Regierung umgesetzt.
Die Regierungsparteien SPD und Grüne stimmten in einer Bundestagssitzung am 17. Oktober 2003 für die Umsetzung der Hartz-IV-Reformen – lediglich ein grünes Bundestagsmitglied enthielt sich. Die beiden Oppositionsparteien CDU/CSU und FDP stimmten gegen die Reform (PDF, ab S. 5799).
Die Hartz-Kommission hatte die Vorschläge erarbeitet. Unter den 15 Mitgliedern (PDF, S. 5) waren manche Mitglied in der SPD. Als Vorarbeit zu den Reformen gilt unter anderem das Schröder-Blair-Papier, das 1999 erarbeitet worden war – ebenfalls in Zusammenarbeit mit Schröder.
Es stimmt also, dass die SPD Hartz IV umgesetzt hat. Welche Folgen die Reform auf den Arbeitsmarkt und auf Armut in Deutschland hatte und hat, wird kontrovers diskutiert: In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nannten Ökonomen Hartz IV im Jahr 2008 das „Wunder am deutschen Arbeitsmarkt“. In der Fachzeitschrift Wirtschaftsdienst hingegen argumentierten im Jahr 2014 zwei Wirtschaftswissenschaftler, „dass die Hartz-IV-Gesetze keinen erwähnenswerten Beitrag zur Reduktion der Arbeitslosigkeit lieferten“.
Der Volkswirtschaftler Tom Krebs, Professor für Makroökonomie an der Universität Mannheim, zog Anfang 2019 im Wirtschaftspolitik-Magazin Makronom ein gemischtes Fazit: Zwar sei die Reform „einer von mehreren Faktoren, die zu einem Rückgang der strukturellen Arbeitslosigkeit in Deutschland geführt haben.“ Zugleich aber habe sie „die Löhne gedrückt und die Unsicherheit auf dem deutschen Arbeitsmarkt erhöht.“
2. Hat die SPD erwirkt, dass Rente versteuert werden muss?
Nein, ein Teil der Rente musste bereits vor 2005 versteuert werden: nämlich der sogenannte Ertragsanteil. Das ist ein festgelegter Prozentsatz, der vom Alter bei Renteneintritt abhängt. Wer vor 2005 mit 65 Jahren in Rente ging, musste 27 Prozent seines Einkommens versteuern.
Zum 1. Januar 2005 wurde das System geändert. Der zu versteuernde Anteil steigt seitdem kontinuierlich, bis 2040 die gesamte Rente zu versteuern ist. Wer zum Beispiel 2020 in Rente geht, muss laut Einkommensteuergesetz während der gesamten Rente 80 Prozent des Einkommens versteuern, 2040 sind es dann 100 Prozent. Im Gegenzug sinken die Beiträge zur Altersvorsorge.
Es gibt außerdem einen Teil der Rente, der auch in Zukunft nicht versteuert werden muss: der Grundfreibetrag. Das sind aktuell 9.168 Euro pro Jahr. Die Deutsche Rentenversicherung schätzt, dass derzeit fast drei Viertel aller Rentnerhaushalte keine Steuern zahlen.
Ziel der Maßnahmen ist, dass die Steuerlast umverteilt wird. Der Volkswirt Martin Grub, ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik, kam 2004 in einer Analyse der Auswirkungen der Reform in der Fachzeitschrift Wirtschaftsdienst zu dem Schluss, das „Gros der Steuerpflichtigen“ werde langfristig „spürbar entlastet“ (PDF). Jedoch bringe vor allem die Übergangsphase auch „Zusatzbelastungen und Doppelbesteuerungen“ für Bürger: „Tendenziell werden vor allem Geringverdiener schlechter gestellt.“
Beschlossen hat die Änderung 2004 tatsächlich die rot-grüne Regierung mit der SPD als Regierungspartei. FDP und CDU/CSU stimmten dagegen.
Die Aussage, die SPD habe erwirkt, dass Rente versteuert werden muss, ist also nur teilweise richtig: Die Rente musste schon vor der rot-grünen Koalition von 1998 bis 2005 versteuert werden, aber in geringerem Maße. Seit 2005 steigt der Anteil der versteuernden Rente nach einem Beschluss der SPD kontinuierlich. Dafür sinken die Beiträge zur Altersvorsorge.
3. Hat die SPD in Deutschland den größten Niedriglohnsektor Westeuropas geschaffen?
Hier wird eine wahre Aussage mit einer pauschalen Behauptung vermischt. Die aktuellsten Eurostat-Daten sind von 2014, demnach befindet sich in Deutschland der größte Niedriglohnsektor Westeuropas. Es gibt aber keine Belege, dass die Maßnahmen der SPD – beziehungsweise die Hartz-Reformen, auf die die Aussage wahrscheinlich anspielt – die alleinige Verantwortung dafür tragen
Die Bundeszentrale für Politische Bildung schrieb 2014, der Niedriglohnsektor in Deutschland habe sich „durch abnehmende Tarifbindung, Schwächen oder Fehlen des Flächentarifvertrages, Lohnzurückhaltung und arbeitsmarktpolitische Reformen deutlich ausgeweitet.“ Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung nennt die Hartz-Reformen zwar als einen der Gründe für den großen Niedriglohnsektor Deutschland, aber auch „Verschiebungen in der Wirtschaftsstruktur“. Es gibt keine Belege dafür, dass die SPD allein schuld an dem hohen Anteil unterdurchschnittlich bezahlter Arbeitskräfte ist.
4. Hat die SPD Superreichen Steuergeschenke gemacht?
In ihrem Wahlprogramm von 2017 fordert die SPD die stärkere Besteuerung von Reichen. Jedoch hat die Steuerpolitik der Partei in der Vergangenheit Kritik eingebracht: beispielsweise das Steuersenkungsgesetz, das 2001 in Kraft trat und Unternehmen steuerlich entlastete, die unternehmensfreundliche Steuerreform von 2001, das Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung von 2006 (PDF, S. 12) und die Erbschaftssteuerreform von 2008/09 (PDF, S. 67).
Christoph Butterwegge, der von 1998 bis 2016 Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln war, schrieb 2013, die CDU/CSU/SPD-Regierung habe tatsächlich „großzügige Steuergeschenke an die ‘oberen Zehntausend’“ verteilt (PDF, S. 14). Die Aussage auf dem geteilten Bild stimmt also zumindest einigen Einschätzungen zufolge insofern, als mit der SPD in der Regierung in der Vergangenheit Maßnahmen verabschiedet worden sind, die Reiche von Steuern entlasten.
5. Hat die SPD Arbeitern Belastungen gebracht?
Es ist nicht erkennbar, auf welche Belastungen für Arbeiter sich die Aussage bezieht. Die Behauptung ist zu vage, deshalb kann sie nicht bewertet werden.
Fazit: Wahre Anteile und fehlende Belege
Die Aussagen haben wahre Anteile: Eine SPD-geführte Regierungskoalition hat Hartz IV umgesetzt. Sie hat die Rentenbesteuerung erhöht – hat sie aber nicht eingeführt, sondern sie existierte bereits. Mit der SPD als Regierungspartei wurden Steuerreformen verabschiedet, die Reiche entlasten. Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor Westeuropas. Es gibt jedoch keine Belege dafür, dass ausschließlich die Politik der SPD dafür verantwortlich gemacht werden kann. Vor allem verbindet die Textcollage die Aussagen mit dem Vorwurf, die SPD sei verantwortlich für Armut in Deutschland. Die Aussagen über die SPD belegen diese These aber nur in einigen Aspekten.
Update, 13. Juni 2019: Am 12. Juni veröffentlichte die Facebook-Seite „Politik und Zeitgeschehen“ ein weiteres Bild, in dem sie auf unseren Faktencheck eingeht. Sie räumt ein, sie sei „fälschlicherweise davon ausgegangen (…), SPD und Grüne hätten die Rentenbesteuerung neu eingeführt“. Dies sei jedoch „die einzig missverständliche Formulierung “ Es stimme, dass Deutschland den größten Niedriglohnsektor in Westeuropa habe, Reiche durch eine Steuerreform entlastet wurden und „Leiharbeit nach den Hartz-Reformen deutlich zugenommen“ habe. CORRECTIV hatte das nicht bestritten, hatte aber zu Bedenken gegeben, der kausale Zusammenhang zu Armut in Deutschland sei nicht belegt und es könne nicht ausschließlich die Politik der SPD dafür verantwortlich gemacht werden. Zu dieser Bewertung schreibt „Politik und Zeitgeschehen“: „Natürlich haben die Hartz-Reformen die Armut in Deutschland massiv gefördert.“