Politik

Ja, einige Kreistags-Abgeordnete im Saalekreis nahmen nicht an Schweigeminute für den in Frankfurt getöteten 8-Jährigen teil

Die AfD-Fraktion im Kreistag Saalekreis behauptet, Abgeordnete der Linken und Grünen hätten sich des Gedenkens an den Jungen, der in Frankfurt vor den Zug gestoßen wurde, verweigert. Tatsächlich nahmen einige nicht an der Schweigeminute teil. 

von Alice Echtermann

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Die AfD-Fraktion Saalekreis forderte eine Schweigeminute für den getöteten 8-Jährigen, der in Frankfurt vor einen Zug gestoßen wurde. Vertreter anderer Parteien sahen darin eine „Instrumentalisierung“ des Falls. (Symbolfoto: Andreas Lischka / Pixabay)
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Größtenteils richtig. Einige Abgeordnete nahmen nicht an der Schweigeminute für den getöteten Jungen teil – als Zeichen gegen die AfD, die den Antrag stellte. Dass jemand den Saal demonstrativ wegen des Gedenkens verließ oder etwas aß, ist unbelegt. 

Haben Abgeordnete im Kreistag Saalekreis (Sachsen-Anhalt) eine Schweigeminute für den 8-jährigen Jungen boykottiert, der in Frankfurt vor einen Zug gestoßen wurde und starb? In einem Beitrag auf Facebook schrieb die AfD-Fraktion Saalekreis am 29. Juli, während der Sitzung des Kreistags am selben Montag seien Abgeordnete der Linken und Grünen während der Gedenkminute sitzen geblieben, hätten „bewusst“ den Saal verlassen oder etwas gegessen. Der Facebook-Beitrag wurde innerhalb von fünf Tagen rund 5.000 Mal geteilt.

Der Beitrag der AfD-Fraktion Saalekreis auf Facebook. (Screenshot am 2. August und Schwärzung: CORRECTIV)

Der Grund für die Schweigeminute war der Fall in Frankfurt am Montag; dort hatte am Hauptbahnhof laut Pressemitteilung der Polizei mutmaßlich ein 40-jähriger Mann einen 8-jährigen Jungen und dessen Mutter vor einen einfahrenden Zug gestoßen. Der Junge starb. Das Motiv ist noch unklar; es wird laut Tagesschau auch geprüft, ob der Tatverdächtige psychisch krank ist. 

Medien wie die Tagesstimme aus Österreich (30. Juli), aber auch die Mitteldeutsche Zeitung (MZ) (29. Juli, anmeldepflichtig) berichteten über die Schweigeminute im Kreistag Saalekreis. Der Artikel der Tagesstimme beruft sich als Quellen auf die MZ und einen Tweet von Daniel Schneider, stellvertretender Vorsitzender der AfD Saalekreis. Der Artikel wurde auf Facebook bisher rund 2.900 Mal geteilt und von einigen Nutzern als mögliche Falschmeldung gemeldet. 

Eine Abgeordnete blieben während der Schweigeminute sitzen

Laut AfD-Fraktion Saalekreis stellte die Partei einen Antrag auf eine Schweigeminute im Kreistag, der von 26 von 45 Abgeordneten angenommen wurde – der Mehrheit. Zuvor hatte es eine Schweigeminute für den durch Krankheit verstorbenen Landrat Frank Bannert (CDU) gegeben, wie auch die Mitteldeutsche Zeitung (anmeldepflichtig) berichtete. 

Eine Videoaufzeichnung der Sitzung gibt es nicht. Vom Offenen Kanal Merseburg, einem Bürger-Fernsehkanal, für den Freiwillige oft die Sitzungen aufzeichnen, war an dem Tag niemand anwesend, wie der Vorsitzende des Kreistags, Andrej Haufe (CDU), CORRECTIV per E-Mail mitteilte. Auf Nachfrage zum Hintergrund der Sitzung schrieb Haufe: „Am 29.07.2019 kam der Kreistag zu einer Sondersitzung zusammen, um die erforderlichen Beschlüsse zur Durchführung der leider notwendig gewordenen Landratswahl zu fassen.“ Notwendig wurde die Wahl durch den Tod des Landrats Frank Bannert.

An dem Montag waren, darin stimmen alle Berichte überein, nicht alle 54 Abgeordneten anwesend sondern nur etwa 45. Das Abstimmungsergebnis über die Schweigeminute sei von der AfD korrekt wiedergegeben worden, sagt Haufe. Die Linken und Grünen stellen mit 12 Abgeordneten eine gemeinsame Fraktion im Kreistag. Sie sind nach der CDU (15 Abgeordnete) die zweitstärkste Fraktion, vor der AfD (11 Abgeordnete). Wenn 26 Abgeordnete für den Antrag stimmten, müssen unter den 19, die nicht dafür waren, auch Vertreter anderer Parteien als Linke und Grüne gewesen sein. 

Tatsächlich seien einige Kreistagsmitglieder während der Gedenkminute sitzen geblieben, so Haufe. „Ein Kreistagsmitglied verließ nach meiner Wahrnehmung kurzzeitig aus unbekanntem Grund den Raum. Eine Einnahme von Speisen durch Kreistagsmitglieder habe ich nicht festgestellt.“ Welche Kreistagsmitglieder sitzen geblieben seien, sei nicht dokumentiert worden.

Grünen-Politiker: Abgeordnete waren in einer Zwickmühle

Laut MZ-Bericht äußerte sich der Grünen-Politiker Christof Rupf nach der Abstimmung im Kreistag zu der Schweigeminute. Auf Nachfrage teilt er CORRECTIV per Mail mit: „Nach der mehrheitlichen Zustimmung des Kreistages vor allem von liberalen bis konservativ-patriotischen Abgeordneten, habe ich eine persönliche Erklärung abgegeben, dass ich an der Schweigeminute nicht teilnehme, weil der Vorfall hier für rassistische Hetze missbraucht wird.“ 

Die AfD habe den Antrag für die Schweigeminute zum Tod des Jungen auch mit einem Verweis auf die Herkunft des mutmaßlichen Täters gestellt, so Rupf. „Leider sind viele Abgeordnete dem auf den Leim gegangen. Sie befanden sich in einer Zwickmühle, denn niemand möchte herzlos gegenüber dem getöteten Jungen erscheinen. Auch ich nicht.“ Dennoch habe er nicht an dem Gedenken teilgenommen, um sich nicht „vor den Karren der AfD spannen“ zu lassen. 

Grüne und Linke verurteilen die Tat in Frankfurt

Zu den konkreten Vorwürfen der AfD sagt Rupf, es seien neben ihm noch weitere Abgeordnete sitzen geblieben. Einige Abgeordnete hätten den Saal vorher verlassen, „was aber während jeder Sitzung passiert, so dass ein Bezug zu der Schweigeminute nicht sicher ist“. Dass jemand demonstrativ gegessen habe, könne er nicht bestätigen. „Während der Sitzung gibt es auf jedem Tisch Getränke, ich hatte auch Apfelstücke während der Sitzung gegessen, die waren aber bereits alle.“ 

In einer gemeinsamen Presseerklärung der Grünen und Linken, die am Mittwochabend veröffentlicht wurde, äußern sich die Parteien ähnlich wie Rupf: Die Reaktionen im Netz auf die Weigerung, an der Schweigeminute teilzunehmen, würden „belegen, dass es nicht um Trauer und Gedenken geht, wenn Mitglieder unserer Fraktion massiv angegriffen werden, weil sie dieser Form der Instrumentalisierung nicht folgen wollen. Wir verurteilen die Tat und trauern mit den Angehörigen genauso wie im Falle der Frau in Voerde, die vor einer Woche ebenfalls vor einen Zug gestoßen wurde.“

Die gemeinsame Presseerklärung der Fraktion der Linken und Grünen im Kreistag Saalekreis, veröffentlicht am 31. Juli 2019. (Screenshot am 1. August: CORRECTIV)