Menschen im Fadenkreuz

Rückzugsort und Lautsprecher zugleich: Die Bedeutung von Messengerdiensten für die rechtsextreme Szene

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von Jonah Lemm

Bei Brot und Wein will der Mann, der sich im Internet Teutonico nennt, den Krieg besprechen. So schreibt es der Rechtsradikale Werner S. im Januar 2020 in einen Chat auf dem Messengerdienst Telegram. „Das Risiko wird hoch, eine Veränderung im Leben jedes Einzelnen steht eventuell oder gar vermutlich auf der Agenda!“, tippt er. Zwei Wochen später trifft er sich mit zwölf weiteren Männern aus der Chatgruppe im nordrhein-westfälischen Minden. Es ist nicht ihre erste konspirative Zusammenkunft, aber an diesem Tag werden ihre Pläne konkreter: Sie wollen in kleinen Ortschaften Muslime beim Freitagsgebet angreifen. Ermorden. So viele wie möglich. Dafür sollen Waffen beschafft werden. Anfang März wollen sie sich erneut treffen und die Anschlagsziele festlegen. 

Wenige Tage danach spricht S. in einem abgehörten Telefonat von „Kommandos“: Zehn Männer sollen in zehn Bundesländern zuschlagen. Aber dazu kommt es nicht. Am 14. Februar 2020 durchsuchen Spezialeinsatzkräfte in insgesamt sechs Bundesländern die Wohnungen der Chatgruppenmitglieder sowie weitere Objekte. Sie finden Pistolen, selbst gebaute Schrotflinten, Armbrüste, Äxte, Morgensterne, Granaten, Munition. Zwölf Männer werden festgenommen, seit April 2021 stehen sie in Stuttgart vor Gericht. Die Anklage wirft ihnen die Gründung einer rechtsterroristischen Vereinigung vor. Der Prozess soll noch bis ins Jahr 2022 gehen.

Besonders an der Gruppe S., wie sie heute genannt wird, ist aber nicht nur die Brutalität, mit der ihre Mitglieder in ganz Deutschland offenbar Morde verüben wollten. Besonders ist auch: dass die meisten der Männer sich nicht aus der realen Welt kannten, etwa von Rechtsrock-Konzerten, Zeltlagern oder Stammtischen. Sondern nahezu ausschließlich aus dem Internet. 

Werner S., der als Kopf der Gruppe gilt, soll seine Kumpanen bewusst über Facebook und über Telegram-Chats rekrutiert haben. Aktiv habe er im Umfeld von rechten Bürgerwehren, Rockerclubs und Reichsbürgern nach Mitstreitern gesucht, die „intelligent, hart, brutal, schnell, zügig“, die zu „mehr als die Teilnahme an Demonstrationen“ bereit seien. Mittlerweile gilt als gesichert, dass die Gruppe S. einem Telegram-Chat mit dem Namen „Der harte Kern“ entwachsen ist. In einem Dutzend weiteren Chaträumen sollen sich die Männer, die aus verschiedenen Teilen Deutschlands kommen, gegenseitig in ihrem Hass angestachelt haben, mit Nachrichten wie: „So Bock auf ein Massaker.“ 

Zu dieser Zeit standen die wenigsten der Mitglieder im Fokus der Polizei, keiner der Männer war als Gefährder eingestuft. Hätte sich nicht einer aus der Gruppe im Herbst 2019 als Informant an die Sicherheitsbehörden gewandt, wäre die Gruppe wohl später entdeckt worden. Vielleicht zu spät.

Bis heute hat die deutsche Polizei kaum Zugriff auf Telegram. Gerade deshalb ist der Messengerdienst bei Rechtsradikalen so beliebt. Telegram sei für die rechtsextremistische Szene die „Alternative zu bekannten Instant-Messaging-Diensten wie beispielsweise ‚WhatsApp‘ oder ‚Threema‘“, schrieb die Bundesregierung im Februar 2020 als Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen im Bundestag. Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Portale, auf denen sich Rechtsextreme gern vernetzen: Da ist Discord, ursprünglich als Sprachkonferenz-Dienst für Gamer entwickelt. Über ihn organisierten bereits Akteure der rechtsextremen Identitären Bewegung zusammen mit weiteren neurechten Gruppen virtuelle Trollangriffe auf politische Gegner, Rechte in den USA nutzten Discord zur Planung von Demonstrationen. Da ist 8kun, früher 8Chan, eine Art anonymes Forum, in dem mehrere Rechtsradikale ihre Anschläge vorab angekündigten, so auch der Täter aus dem neuseeländischen Christchurch.

Telegram allerdings ist für die Rechtsextremisten mehr als ein Rückzugsort im Internet. Es ist zugleich auch ihr Lautsprecher. 

Gegründet haben Telegram im Jahr 2013 die Brüder Nikolai und Pawel Durow, ebenso Schöpfer des auch von vielen Rechten genutzten russischen Facebook-Klons „Vkontakte“. Mittlerweile nutzen Telegram nach eigenen Angaben des Unternehmens pro Monat weltweit 500 Millionen Menschen.

Auf der Website von Telegram schreiben die Gründer, dass „politisch motivierte Zensur“ gegen ihre Grundsätze verstoße. Man werde „keinesfalls Nutzer daran hindern, auf friedliche Weise alternative Meinungen zum Ausdruck zu bringen“. Und: „Bis zum heutigen Tag haben wir 0 Byte Nutzerdaten an Dritte weitergegeben, einschließlich aller Regierungen.“

Ein hochrangiger Ermittler, der im Bereich der Cyberkriminalität arbeitet, berichtet, auch ihm sei keinerlei Zusammenarbeit zwischen Telegram und den deutschen Strafverfolgungsbehörden bekannt. „Es ist ein offenes Geheimnis, dass es eine gewisse Hilflosigkeit bei den Behörden im Umgang mit Telegram gibt“, sagt der Mann am Telefon. Da sei zwar eine Adresse in Dubai, unter der angeblich das Entwicklerteam der App zu erreichen sei. Schreibt man als deutsche Behörde dorthin, bekomme man in der Regel aber gar keine Antwort. 

Ihm sei kein einziger Fall bekannt, in dem Telegram Bestandsdaten von Nutzern zur Identifizierung von potenziellen Straftätern herausgegeben hätte — obwohl das Unternehmen nach dem Telekommunikationsgesetz wohl eigentlich dazu verpflichtet wäre. „Aus Strafverfolgungssicht ist die Sache ganz klar: Auf Telegram gibt es massenhaft strafrechtlich relevante Inhalte, davon wird nur ein Bruchteil verfolgt, und davon wiederum ist nur ein Bruchteil identifizierbar“, sagt der Beamte. Das gehe in der Regel nur, wenn Verdächtige selbst Hinweise zu ihrer Identität in den Chats hinterließen. Das passiere bei Telegram aber sehr selten, auch weil Nutzerinnen und Nutzer unter selbst gewählten Pseudonymen kommunizieren könnten, ohne überhaupt ihre Telefonnummer für andere sichtbar zu machen. Gerade der Zugang zu kleinen, nicht öffentlichen Gruppen wie denen der Gruppe S. sei für die Polizei schwierig bis unmöglich. Überhaupt könne man nicht einfach V-Personen in private Chats einschleusen, wenn kein konkreter Tatverdacht bestehe.

Die Geschlossenheit von privaten Chats aber ist nicht die einzige Funktion, von der Rechte auf Telegram profitieren. Sondern auch vom Gegenteil: der extremen Öffentlichkeit. Denn auf Telegram ist gleichzeitig auch die Einrichtung sogenannter „Super-Gruppen“ mit bis zu 200.000 Mitgliedern oder Kanälen mit Hunderttausenden Followern möglich. Sie funktionieren eher wie ein Blog, nicht mehr wie klassische Chats. Die Administratorinnen und Administratoren dieser Supergruppen können im Minutentakt ihr Gedankengut an ihre Abonnentinnen und Abonnenten senden, die wiederum unter den Beiträgen per Kommentarfunktion diskutieren können. Auch Weiterleitungen von Nachrichten aus einer Gruppe in die nächste sind möglich, Nutzerinnen und Nutzer können dann wiederum auch in die Ursprungsgruppe der Nachricht eintreten. Zudem gibt es eine Suchfunktion, über die mit Stichwörtern nach Chats gesucht werden kann. 

Es ist die perfekte Lösung für das, was Expertinnen und Experten in der Vergangenheit als „online extremist‘s dilemma“ beschrieben: Rechte können plötzlich eine hohe Reichweite generieren, ohne sich Sorgen um ihre eigene Sicherheit und Identität machen zu müssen. Rassismus und Hass verbreiten sich so im Kaskadeneffekt. 

Etwa auf dem Kanal des Kochbuchautors und Verschwörungstheoretikers Attila Hildmann. An einem Freitag im April schickt er eine Umfrage an seine knapp 110.000 Followerinnen und Follower: „WAS IST MERKEL?“ Die Antwortmöglichkeiten: „DEUTSCHE SEHR SORGSAME UND SEHR GUTE KANZLERIN!“ oder „JÜDIN UND PSYCHISCH VÖLLIG GESTÖRTE MASSENMÖRDERIN & SADISTIN, DIE GESTOPPT WERDEN MUSS!“ Als Reaktion glorifizieren seine Fans den Nationalsozialismus und schreiben zutiefst antisemitische Kommentare als Antworten. „Wenn ich die Wahl hätte zwischen Juden und Hitler also ich würde direkt für Hitler sein“ steht dort oder „ES WAREN 12 JAHRE FREIHEIT OHNE JUDENKNECHTSCHAFT!“. Dazu postet ein Nutzer, der auf seinem Profilfoto eine Reichskriegsflagge in die Kamera hält, noch ein Bild. Es zeigt den Reichsadler. Gegenrede gibt es nicht. Und offensichtlich scheint auch niemand zu befürchten, für solche Postings strafrechtlich belangt zu werden.

„Ich betrachte das alles mit extrem großer Sorge: Wir sehen ganz klar eine Abwanderung von Rechten zu Telegram und ähnlichen Portalen. Menschen, die früher lange Gleichgesinnte suchen mussten, vernetzen sich plötzlich spielend leicht mit Tausenden in solchen Gruppen, stacheln sich unkontrolliert gegenseitig an. Man muss befürchten, dass es zu weiteren Straftaten in der realen Welt kommt“, sagt der Beamte.

Kurzzeitig hatten Rechtsextreme in Deutschland eigentlich ihren Zugang zu einem breiten Publikum wieder verloren, nachdem die US-amerikanischen Plattformen wie Facebook und YouTube nach massivem politischem Druck damit begonnen hatten, vermehrt und proaktiv strafrechtlich relevante Profile und Posts zu sperren — auch dauerhaft. Auf Telegram aber konnten sich Radikale, gerade während der Coronapandemie, wieder eine große Reichweite aufbauen. So seien die followerstärksten Telegram-Kanäle rechtsextremistischer Akteurinnen und Akteure seit Beginn der Pandemie um knapp 350 Prozent gewachsen, schreiben Jakob Guhl und Lea Gerster in ihrem Report „Krise und Kontrollverlust: Digitaler Extremismus im Kontext der Corona-Pandemie“ für die Denkfabrik „Institute for Strategic Dialogue“. Und weiter: „Das Ausmaß der Vernetzung zwischen verschiedenen rechtsextremen Strömungen und Verschwörungstheoretikern auf Telegram ist immens: Knapp 40 Prozent aller geteilten Posts, Videos und Audiobotschaften wurden von anderen Kanälen weitergeleitet.“

Die nordrhein-westfälische Landesanstalt für Medien veröffentlichte im November 2020 ein Screening von rechtsverstoßenden Inhalten auf Telegram, für das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Greifswald 913 Gruppen oder Kanäle überprüft hatten. 141 stuften sie als „regulierung-relevant“ ein – und 576 als „problemverschärfend“. „Hier handelt es sich nicht in erster Linie um Rechtsverstöße, sondern vorrangig um die Verbreitung von Verschwörungstheorien und mutmaßlich falschen Aussagen. Dieser Bereich weist starke extremistische Züge auf und ist durch emotionalisierend-empathielose Kommunikation geprägt“, schreiben Autor Jakob Jünger und Autorin Chantal Gärtner. Darüber hinaus fanden sie neun rechtsextremistische Kanäle und fünf Gruppen, die direkt oder indirekt zum Hass und zur Gewalt gegen Teile der Bevölkerung aufrufen. Dort fantasierten die Mitglieder darüber, Schwarzen in den Kopf zu schießen, weil sie „unwürdig seien den Hitlergruß zu machen“. Den Holocaust nannten sie „Märchen“. Diese Gruppen und Kanäle hatten bis zu 18.226 Mitglieder, erreichten im Median bis zu 8.723 Nutzerinnen und Nutzer pro Nachricht, schreiben Jünger und Gärtner. 

Zur Vorstellung der Untersuchung sagte der Direktor der Landesmedienanstalt, Tobias Schmid: „Freiheit im Netz kann (…) nur funktionieren, wenn Regeln eingehalten werden. Spätestens mit dieser Studie wird klar, dass das nicht nur für Facebook und YouTube gelten muss, sondern natürlich auch für Telegram. (…) Es wäre sicher eine gute Idee, wenn der Gesetzgeber seinen Fokus gleichfalls ausweitet.“ Schmid spielt hier auf das sogenannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz an, mit dem der Bund seit 2017 Soziale Netzwerke dazu zwingt, innerhalb von kürzester Zeit rechtswidrige Inhalte zu entfernen. Allerdings fällt Telegram nicht unter dieses Gesetz, weil es offiziell als Messengerdienst gilt. Gleichwohl haben Kanäle wie die von Attila Hildmann und anderen Verschwörungstheoretikerinnen und Verschwörungstheoretikern kaum noch etwas mit Messengern im klassischen Sinne zu tun. Es geht nicht darum, Nachrichten auszutauschen. „Der überwiegende Anteil von Kanälen zeigt, dass in den von uns erhobenen Angeboten Informationen eher im Stil einer One-to-many-Kommunikation gestreut werden, als dass gemeinsam über die Inhalte diskutiert wird“, schreiben Jünger und Gärtner in ihrer Studie.

Der Ermittler, der sich mit Cyberkriminalität befasst, sagt, er glaube nicht, dass ein einfaches Verbot von Telegram das Problem lösen könnte. „Dann ziehen die Rechten eben um, auf den nächsten Dienst. Es wird immer Alternativangebote geben.“ Dennoch: Eine bessere Strafverfolgung könnte zumindest Menschen abschrecken, ihren Hass öffentlich mit hunderttausend anderen zu teilen.

Als im Januar 2021 Anhängerinnen und Anhänger des scheidenden US-Präsidenten Donald Trump das Capitol stürmten, stand ein anderes soziales Netzwerk im Fokus der Öffentlichkeit: Parler. Auf dem Mikroblogging-Dienst hatten Extremistinnen und Extremisten ihren Angriff auf das Kongressgebäude in Echtzeit mit Videos geteilt und sich gegenseitig weiter aufgehetzt. Das Portal griff nicht ein.

Google und Apple nahmen als Reaktion den Dienst aus ihren App-Stores. Nur wenige Tage später löschte plötzlich auch Telegram eine ganze Reihe von Kanälen der verschwörungstheoretischen QAnon-Bewegung. In der FAQ des Dienstes heißt es mittlerweile: „Unsere Mission ist, ein sicheres, globales Kommunikationsmittel zu schaffen. Um das auch dort, wo es am meisten gebraucht wird, zu gewährleisten (ebenso die Verbreitung von Telegram über den App Store und Google Play), müssen wir legitime Anfragen bezüglich illegalen, öffentlichen Inhalten auf Telegram nachgehen und solche Dinge entfernen.“ Wenn Dritte das Portal denn darauf aufmerksam machen.