Menschen im Fadenkreuz

Serpil Temiz Unvar: »Wir müssen uns auf die Menschlichkeit konzentrieren«

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Interview: Sophia Stahl

Serpil Temiz Unvar verlor ihren Sohn Ferhat Unvar durch den rechtsterroristischen Anschlag am 19. Februar 2020 in Hanau. Im vergangenen Jahr rief sie die „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“ ins Leben, mit der sie unter anderem über institutionellen Rassismus aufklären möchte. Im Gespräch mit uns berichtet sie, was passieren muss, damit die rassistische Gewalt in Deutschland ein Ende findet.

Frau Unvar, die Opfer in Hanau, sagten Sie nach dem Anschlag, sollen nicht umsonst gestorben sein. Was sind wir ihnen schuldig?

Serpil Temiz Unvar: Unsere Kinder sind wegen der Herkunft ihrer Eltern gestorben. Weil wir Migranten sind. Der Täter hat gezielt migrantisch aussehende Menschen getötet. Es hätte jeden von uns mit schwarzen Haaren treffen können. Es hätte auch ich sein können. Alle der Gestorbenen waren jung, hatten gerade ihre Ausbildung beendet oder einen neuen Job. Sie standen alle mitten im Leben. Der Täter hat ihnen die Chance genommen, ihr Leben zu leben. Die Chance auf eine Familie, auf den Einstieg in den Beruf. Sie sind gestorben, weil unsere Gesellschaft ein tiefgreifendes, strukturelles Rassismusproblem hat.
Wir schulden es unseren ermordeten Kindern, dieses Problem zu lösen. Wir schulden es unseren ermordeten Kindern, das Problem zu benennen und die Strukturen zu entlarven. Wir schulden es unseren Kindern, jeden Tag dafür zu kämpfen und die Umstände aufzudecken. Und wir schulden es unseren Kindern, dafür zu kämpfen, dass ihre Namen in Erinnerung bleiben. Dass niemand vergisst, was hier in Hanau passiert ist. Dass niemand vergisst, warum sie hier ermordet wurden. Und wir schulden es unseren Kindern, dafür zu kämpfen, dass keine weiteren Kinder aus rassistischen Motiven die Zukunft geraubt wird und nie wieder eine Mutter um den Verlust ihres Kindes weinen muss.
Der Tod meines Sohnes soll das Ende der rassistischen Gewalt sein. Er soll der Anfang einer neuen, besseren Zeit sein.

Setzt Deutschland diese Forderung ausreichend um?

Nein. Es war ziemlich direkt nach der Tat klar, dass wir, die Familien, aber auch die migrantische Community, uns selbst organisieren müssen. Dass wir selbst Gerechtigkeit und Veränderung einfordern müssen. Wir, die Familien, ermitteln, recherchieren und organisieren.
Wir haben viele Fragen gestellt und haben bisher keine richtigen Antworten bekommen. Wir haben Fehler aufgezeigt und warten bis heute auf eine Entschuldigung, zum Beispiel seitens der Polizei, die in der Tatnacht den Notruf nicht richtig besetzt hatte. Es gibt viele offene Fragen – und keine Bereitschaft, uns Antworten zu geben. Unsere Gesellschaft hat sich irgendwie daran gewöhnt, dass wenn Menschen, die migrantisch gelesen werden, ermordet werden, es einen kurzen Aufschrei gibt und dann wieder Stille herrscht. Man hat sich daran gewöhnt, dass sich nur die migrantische Community selbst dafür interessiert. Und mehr als eine kurze Betroffenheit ist oft nicht zu erwarten.
Aber wir sind nicht mehr still. Wir, gemeinsam mit anderen Initiativen und Organisationen, die diesen Kampf beginnen mussten, sind nicht mehr leise. Wir solidarisieren uns und wir profitieren von der Arbeit, die vor uns geleistet wurde. Nur gemeinsam sind wir stark.

Denken Sie, dass wir als Gesellschaft versagt haben?

Ich weiß nicht, ob wir unbedingt als Gesellschaft versagt haben. Es gibt viele gute Menschen, Einrichtungen und Organisationen. Aber viele staatliche Organe haben versagt. Die Behörden haben versagt. Sie haben die Gefahr, die vom Täter ausging, nicht erkannt. Sie haben nicht rechtzeitig gehandelt. Warum, zum Beispiel, hatte dieser Mann ganz legal einen Waffenschein, obwohl er sich auffällig verhalten hatte und bereits der Polizei bekannt war?

Was also müssen wir ändern – was erwarten Sie von unserer Gesellschaft?

Wir müssen die Dinge beim Namen nennen. Wir müssen Rassismus benennen und wir müssen rassistische Strukturen benennen, erkennen und abbauen.
Ich erwarte, dass alle Menschen die Bereitschaft zeigen, sich weiterzuentwickeln. Dass die Gesellschaft als solche die Bereitschaft zeigt, sich selbst und die eigenen Strukturen zu hinterfragen. Wir müssen rassistische Denkmuster und Einstellungen entlarven und als solche benennen. Es erfordert die Bereitschaft aller, wenn wir rassistische Denkweisen auf Dauer entkräften wollen. Ich erwarte, dass Initiativen und Bildungseinrichtungen, wie die „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“, die ich gegründet habe, unterstützt werden. Ich erwarte, dass antirassistische Bildungsarbeit staatlich gefördert wird.

Wie lang, glauben Sie, ist der Weg, den wir noch gehen müssen, bis sich wirklich etwas ändern wird?

Der Weg ist lang, aber wir müssen ihn gehen. Und ich habe Hoffnung. Leider mussten viele Familien vor uns diesen Weg schon gehen. Haben vor uns schon gekämpft. Aber wir haben es mit einer neuen Generation zu tun. Die Generation meines Sohnes ist anders. Seine Freunde und Freundinnen begreifen sich anders.
Während in meiner Generation die kulturellen Unterschiede noch eine starke Rolle zu spielen scheinen, ist es für die Generation meines Sohnes eigentlich kein Thema mehr. In seinem Freundeskreis ist es egal, woher jemand kommt. Ferhat war mit ganz verschiedenen Menschen befreundet, für ihn zählte das Menschsein, nicht die Herkunft.
Und ich glaube, es geht vielen jungen Menschen seiner Generation so. Die Herkunft wird immer unwichtiger und was zählt, ist die Menschlichkeit. Und genau das ist der Weg, den unsere Gesellschaft gehen muss. Wir müssen uns auf die Menschlichkeit konzentrieren. 

Unser Buch heißt, passend dazu, „Menschen“. Was hat Ferhat als Menschen ausgemacht?

Ferhat war ein sehr begabtes Kind mit vielen Interessen. Er interessierte sich sehr für Mathematik und Philosophie und er las sehr gerne. Er war ein tiefgründiger Mensch, der sich gerne über Gott und die Welt unterhalten und viele Dinge hinterfragt hat. Er hat sich mit allen Menschen verstanden, egal welchen Alters und welcher Herkunft. Er konnte mit jedem Menschen auf Anhieb ins Gespräch kommen. Er war immer freundlich und lustig und hat seine Freunde immer zum Lachen gebracht.
Er konnte aber auch sehr ernst sein und hatte für alle Freunde und seine Geschwister immer ein offenes Ohr und hat ihre Probleme gelöst. Innerhalb weniger Sekunden konnte er von lustig auf nachdenklich umschalten. Aber nicht jeder kannte seine nachdenkliche Seite, die meisten kannten ihn als unglaublich lustigen Typ, der alles und jeden aufs Korn nehmen konnte.
Obwohl Ferhat ein so offener Mensch war, hatte er auch viele Probleme, die ihn stark belasteten. Er hatte viele Probleme mit der Schule, besonders mit der Schulpolitik. Er war der Meinung, dass die Schulleistung nichts über die Intelligenz eines Menschen aussagt. Er musste in der Schule immer kämpfen und er musste sich oft Aussagen anhören wie zum Beispiel: „Du wirst nie etwas schaffen.“ Diese Aussagen nahmen ihm die Motivation weg. Trotzdem hat er nie aufgegeben und hat seine Ausbildung geschafft. Er hat nach dem Abschluss aber nicht gefeiert, weil für ihn die Schule ein Problem war, das er lösen musste.
Deswegen habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, antirassistische Bildungsarbeit zu machen. Ich will Ferhats Problem lösen. Nicht nur für Ferhat, sondern für alle Kinder, die mit solchen Problemen konfrontiert werden.

Was können wir alle von Ferhat lernen?

Ferhat war ein offener Mensch und seine Offenheit ist etwas, was ich mir für unsere Gesellschaft wünsche. Unvoreingenommen und vorurteilsfrei. Man konnte von ihm viel über Nächstenliebe und das Menschsein lernen.
Und Ferhat hat nie aufgeben, egal wie schwer seine Situation war, er hat immer weitergekämpft. Ferhat war ein Kämpfer. Ich nehme meine Kraft von ihm. Ich kämpfe für ihn weiter, ich kämpfe seinen Kampf weiter. Für Ferhat, für Hanau und für eine bessere Zukunft für uns alle.

Beim rechtsterroristischen Anschlag in Hanau am
19. Februar 2020 starben neun Menschen. Das sind ihre Namen:

Ferhat Unvar
Gökhan Gültekin
Sedat Gürbüz
Said Nesar Hashemi
Mercedes Kierpacz
Hamza Kurtović
Vili Viorel Păun
Fatih Saraçoğlu
Kaloyan Velkov