Menschen im Fadenkreuz

Von rechtsextremen Netzwerken in der Bundeswehr

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von Jens Eumann

Wie eine Killermaschine sah der Mann auf der Anklagebank im Schurwollpulli gar nicht aus. Dennoch hatte die Bundeswehr bei Philipp S.‘ Inhaftierung per Brief die Leitung der Haftanstalt Dresden gewarnt. Der Oberstabsfeldwebel des Kommandos Spezialkräfte (KSK) habe eine Nahkampfausbildung durchlaufen. Diese befähige ihn auch zu „waffenloser Gefährdung Dritter“. Besondere Sicherungsmaßnahmen in der U-Haft hielt man für geboten. Immerhin ist das vormals als Eliteeinheit gerühmte KSK für heikle Auslandseinsätze der Bundeswehr zuständig: Geiselbefreiung oder Festnahme von Kriegsverbrechern, die den Einsatz von auch „letaler Gewalt“ einschließen. Vermerke wie dieser sorgten dafür, dass Philipp S. in der U-Haft einer „Absonderung“ und straffen Sicherheitsmaßnahmen unterlag. 

Mit Nato-Medaillen ist Philipp S. hochdekoriert. In vier Einsätzen in Afghanistan und einem im Kosovo hat sich der 45-Jährige bewährt. Doch auch vom militärischen Lorbeer war zum Prozessstart im Schwurgerichtssaal am Leipziger Landgericht im Januar 2021 nichts zu spüren. Der wegen Diebstahls von Kriegsgerät angeklagte kahlköpfige Mann verlas eine Erklärung. Beim Satz „Ich möchte mich hiermit aus tiefstem Herzen für meine gemachten Fehler entschuldigen“ brach ihm die Stimme. Leises Schniefen. Er wischte sich die Augen. Seine Anwältin bat um Pause. Was bis zum Prozessende unklar blieb, war, ob Philipp S.‘ Berührtheit tatsächlich einer Reue entsprungen war oder eher einer Angst vor Strafe. 

Vor Gericht rang Philipp S. um Verständnis. Dafür, dass er als Soldat im Feld seine Waffe „24/7“ bei sich trage, also 24 Stunden lang, sieben Tage die Woche. Verständnis dafür, dass Waffen, Munition und Sprengmittel für einen Soldaten Dinge des täglichen Lebens seien. Und dafür, dass er sich das Bunkern von Munition angewöhnt habe. Zunächst angeblich durchs Zurücklegen von Material für Übungen. Bei denen habe so oft Mangel an Munition geherrscht. Als Ausbilder beim KSK in der Graf-Zeppelin-Kaserne im baden-württembergischen Calw habe er die ihm anvertrauten Soldaten aber doch so gut wie möglich vorbereiten wollen. 

Die Dinge, die sich dann bei ihm daheim angesammelt hätten, seien aber „delaboriert und ungefährlich“ gewesen. Delaboriert, also unschädlich gemacht? Das stimmte nicht – oder nur sehr bedingt. Mochte die abgefeuerte Einweg-Panzerfaust, die die Ermittler bei ihrer Razzia vom 13. und 14. Mai 2020 in Philipp S.’ Einfamilienhaus im sächsischen Collm unter dem Dachboden hervorkramten, in der Tat nicht mehr schießtauglich sein. Das AK-47-Sturmgewehr, das man in einem Erddepot fand, als die Ermittler den Garten umpflügten, war es sehr wohl. Hinzu kamen rund 7.000 Schuss Munition – viele der Patronen panzerbrechend –, womit sie unter Beschränkung des Kriegswaffenkontrollgesetzes fallen. In eingebuddelten großen Plastikboxen hatte Philipp S. sich bevorratet, mit Munition, mit zwei Kilogramm Plastiksprengstoff Nitropenta (PETN) in vier 500-Gramm-Paketen, mit für Flächensprengung geeigneter Sprengfolie, mit Zündern, mit Fernzünde-Sprengschnüren, Rauchgranaten und vielem mehr. Bevorratet – nur wofür? Dass Philipp S. das Kriegsgerät vorsorglich für Manöver deponiert haben wollte, 500 Kilometer von der Kaserne entfernt, darin sah der Vorsitzende Richter eine Schutzbehauptung. Wieso sollte illegal abgezweigtes Material leichter für Manöver zur Verfügung stehen, als wenn es in der Kaserne wieder in den Bestand einsortiert worden wäre? 

Allerdings war in der Kaserne in Calw vieles, statt wieder einsortiert zu werden, abgezweigt worden – nicht nur von Philipp S. Das zeigte die im Februar 2021 bekannt gewordene Amnestie-Aktion, die Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) in Bedrängnis brachte: eine mit Gesetzen kaum in Einklang zu bringende Rückholaktion. 2020 hatte man KSK-Soldaten die Möglichkeit gegeben, entwendete Munition wieder abzugeben – ohne Konsequenzen fürs Abzweigen fürchten zu müssen. Berichten zufolge wurden rund 50.000 Schuss Munition abgegeben wie auch Handgranaten. 

Wegen der inoffiziellen Handhabung geriet nicht nur der Kommandeur des KSK, Markus Kreitmayr, unter Druck, sondern auch die Ministerin, die Fehler einräumte. Beim Auffliegen des mit Rechtsextremismus in Verbindung gebrachten Munitionsdiebstahls von Philipp S. hatte KSK-Kommandeur Kreitmayr sogar selbst einen Notruf abgesetzt – in Form eines öffentlichen Briefes. „Eines ist schon jetzt klar, dieser Fall stellt eine neue alarmierende Qualität dar“, schrieb der Kommandeur über den Fall Philipp S. „Waffe, Munition und Sprengmittel, sein Motiv und seine mögliche Vernetzung mit Gleichgesinnten“ stünden im Mittelpunkt der Aufklärung. 

Motive und Vernetzung? Immerhin waren bei den Razzien, nach denen man Philipp S. in U-Haft nahm, auch viele Nazi-Devotionalien gefunden worden. Unter anderem „Nation & Europa“-Magazine eines rechten Vordenkerverlags, propagandistische Postkarten aus der Nazi-Zeit und nicht zuletzt ein Liederbuch mit Kampfgesängen der SS.

Beim Prozess von  Philipp S. stand die Frage im Raum, wie sehr der Soldat in weitere Organisationen, in Netzwerke eingebunden war. Schließlich stammte er aus jener Kompanie, die Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer zwischenzeitlich hatte komplett auflösen lassen, weil es selbst innerhalb der Kaserne zu rechtsextremen Vorfällen gekommen war. 

Allem voran war da jene Abschiedsfeier für Kompaniechef Pascal D. im April 2017. Zu der schleuste man eine Frau auf den Schießstand der Kaserne, die den scheidenden Kompaniechef hätte sexuell beglücken sollen. Dazu kam es wohl nicht, vielmehr wirbelten Zeugenaussagen ebendieser Frau später den ersten Staub auf. Sie berichtete von seltsamen Partyspielen, bei denen geworfene Schweineköpfe eine Rolle spielten. Mit rechtsextremer Musik hätten die Elitesoldaten sich beschallt. Salutiert worden sei mit Hitlergruß. Angeblich auch von Philipp S., den die damalige Zeugin als den „Nazi-Opa“ geschildert hatte. 

Im Zuge dieser Ermittlungen flog auch das sogenannte Hannibal-Netzwerk auf, über das 2017 als Erstes die Tageszeitung taz berichtet hatte. Ein rechtsextremes Chat-Netz, das vom ebenfalls beim KSK Dienst tuenden Soldaten André S. (beim Militärischen Abschirmdienst MAD unter dem Codenamen „Hannibal“ geführt) koordiniert wurde und bis in Sicherheitsbehörden unterschiedlicher Bundesländer reichte. Kontakte zu der rechtsextremen Prepper-Gruppe Nordkreuz in Mecklenburg-Vorpommern wurden ausgemacht (Prepper vom Englischen: to be prepared – vorbereitet sein). 

Die Nordkreuzler schienen sich nicht nur auf Stromausfall und Zusammenbruch der Infrastruktur vorzubereiten. Die Gruppe plante den „Tag X“, an dem man zu den Waffen greifen und links stehende politische Gegner ausschalten müsse. Ob „ausschalten“ internieren oder töten heißen sollte, blieb zunächst unklar. Dann wurde bekannt, dass die Gruppe bereits 200 Leichensäcke auf einer Materialbestellliste hatte. 

Zum engsten Kreis gehörten ein SEK-Beamter und ein Anwalt, der zum Schießtraining einen Wettbewerb eingeführt und nach dem Rostocker NSU-Opfer Mehmet Turgut benannt hatte. Zum erweiterten Kreis der Gruppe zählten weitere Polizisten und ein Reservisten-Kommandeur der Bundeswehr. Auch traf sich Hannibal offenbar mehrfach mit dem rechtsextremen Soldaten Franco A., der mit einer falschen Identität als Flüchtling Anschläge plante, um die Stimmung im Land gegen Flüchtlinge zu beeinflussen. Und nicht zuletzt gab es den von André S. alias Hannibal selbst gegründeten, ebenfalls unter Rechtsextremismus-Verdacht stehenden Verein „Uniter“, eine Art Sammelbecken für Elitesoldaten.

Grundlegende Frage: Wie eng waren all die bundesweiten Vorfälle miteinander verbunden? Waren es Einzelfälle oder gab es ein Netzwerk? 2018 hatte MAD-Chef Christof Gramm diese Frage noch damit beantwortet, dass man keine rechtsextremen Netzwerke in der Bundeswehr ausmache. 2019 fiel die Einschätzung schon vorsichtiger aus. „Vernetzung“ sah die MAD-Führung da sehr wohl, von „Netzwerk“ mochte sie immer noch nicht sprechen. 

Seit 2020, auch unter dem Eindruck des Falls Philipp S., räumt man selbst behördlicherseits „Netzwerke und Strukturen“ ein. Allerdings hatte sich auch der Militärische Abschirmdienst (MAD), dessen Chef Christof Gramm zwischenzeitlich in einstweiligen Ruhestand geschickt wurde, zur Zeit dieser Ermittlungen selbst nicht mit Ruhm bekleckert. 

Der Militärgeheimdienst hatte „Hannibal“ nicht nur als V-Mann geführt. Hannibals V-Mann-Führer, MAD-Oberstleutnant Peter W., stand zeitweise selbst vor Gericht. Wegen des Vorwurfs des Geheimnisverrats. Er soll seinen V-Mann „Hannibal“ vor Razzien, die das BKA in der Graf-Zeppelin-Kaserne plante, gewarnt haben. Obwohl „Hannibal“ nach Zeugenaussagen anderer Soldaten zielgenau kompromittierende Daten auf einem Computer noch vor den Razzien fortschaffen ließ, war dem V-Mann-Führer vom MAD in seinem Prozess nicht mehr zu beweisen, als dass er „Hannibal“ vorab von „zeugenschaftlichen Vernehmungen“ in Kenntnis gesetzt hatte. Vom Geheimnisverrat sprach man Oberstleutnant Peter W. am Landgericht Köln frei. 

Zu ähnlichen Indiskretionen kam es dann im Falle der Razzien bei Philipp S. in Collm durch einen weiteren MAD-Oberstleutnant, noch dazu aus derselben MAD-Abteilung, der auch Peter W. angehörte: Extremismus-Aufklärung. Peter W.s Geheimdienst-Kollege sandte Bilder des bei Philipp S. sichergestellten Kriegsmaterials an Mitglieder des KSK in Calw und riet zur Vorsicht. 

Während die Aufklärung im Fall des zweiten MAD-Oberstleutnants noch aussteht, wurde Philipp S. inzwischen aus der Bundeswehr entlassen. Der Strafsenat in Leipzig verurteilte den Ex-Elitesoldaten zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren. Seine mögliche Verbindung zu einem rechtsextremen Netzwerk aber liegt nach wie vor im Dunkeln. Ob Philipp S. das Liederbuch der SS auch benutzte? Diese Frage blieb dem Mann, dem zum Prozessauftakt vor Berührtheit die Stimme brach, in seiner sechstägigen Verhandlung komplett erspart.