Entzündungshemmer im EM-Quartier
Viele Fussballspieler nehmen vor wichtigen Spielen starke Schmerzmittel und Entzündungshemmer. Die Präparate tauchen nicht in der Liste der verbotenen Dopingmittel auf. Pharmakologen und Sportmediziner warnen dennoch vor den Nebenwirkungen und dem vorbeugenden Gebrauch dieser Präparate. Zum Müll der deutschen Nationalmannschaft war kein Durchkommen.
Diese Recherche erscheint ebenfalls auf „SpiegelOnline“, im „Tagesspiegel“, der „Neuen Osnabrücker Zeitung“, der „Deutschen Apotheker Zeitung“, in der „Hamburger Morgenpost“, 11freunde, im „Deutschlandfunk“ und in internationalen Medien wie Watson (Schweiz), Slate (Frankreich) und Interia Sport (Polen).
[Update 5. Juli: Die Uefa hat nach Aussagen der NADA Ermittlungen zu dem Medikamentenfund bei der Ukrainischen Nationalmannschaft begonnen. Dabei würden auch die Polizeidienststellen in Frankreich eine Rolle spielen. Auf Anfrage von CORRECTIV wollte sich die Uefa dazu nicht konkret äußern, dementierte die Meldung aber auch nicht. Die Pressestelle schrieb uns nur: „Die UEFA steht im engen Kontakt mit den zuständigen französischen Behörden.“]
[Update 1. Juli: Als Reaktion auf unsere hier aufgeführte Recherche hat die Nationale Anti-Doping Agentur (NADA) den europäischen Fußballverband (Uefa) kontaktiert. Das bestätigt NADA-Geschäftsführer Lars Mortsiefer auf Anfrage von Correctiv.org. In dem Schreiben fordert die NADA die Uefa dazu auf, eine Stellungnahme vom ukrainischen Fußballverband einzuholen. Spannend ist zum Beispiel die Frage, wer im Team eine Infusion benötigt hat und ob dabei nicht die erlaubte Grenze von 50ml überschritten wurde. Die Ukraine zählt zu den drei Ländern bei der Euro 2016, mit denen die Uefa keinen Anti-Doping Kooperationsvertrag fürs Turnier unterzeichnet hat, weil die zuständige Behörde vor Ort derzeit umstrukturiert wird.]
In einem Mülleimer vor dem Hotel der ukrainischen Nationalmannschaft haben wir einen Sack mit 14 Medikamenten, Spritzen und Infusionsbesteck gefunden, dazwischen lag die Kapitänsbinde mit dem Schriftzug „No to racism – Respect“, die die Spielführer aller Mannschaften bei dieser EM tragen. Bei den Medikamenten fallen sechs verschiedene Schmerzmittel und Entzündungshemmer auf. Sie lassen darauf schließen, dass der Einsatz von Medikamenten im Fußball verbreitet ist.
Auf der Liste verbotener Dopingmittel stehen die Präparate nicht. Der Einsatz von Spritzen ist allerdings zum Beispiel im Radsport schon seit fünf Jahren verboten. Im Radsport gilt seit den großen Dopingskandalen eine No-Needle-Policy, keine Nadeln ohne klaren medizinischen Zweck. Pharmakologen warnen zudem vor dem bedenkenlosen Einsatz von Schmerzmitteln und Entzündungshemmern.
Das Mannschaftshotel der Ukraine in Aix-en-Provence liegt an einer wenig befahrenen Straße. Hier stellen die Hotelangestellten abends den Müll raus. Zwei große Tonnen sind bis oben hin mit Säcken gefüllt. Das Küchenpersonal macht Zigarettenpause, nur wenige Meter entfernt.
Am Abend zuvor, dem 21. Juni 2016, hat die Ukraine das letzte Gruppenspiel gegen Polen mit 1:0 verloren und dann direkt den Rückflug nach Kiew genommen. In ihrem Hotel in Aix-en-Provence war das Team zum letzten Mal rund 24 Stunden vor Anpfiff. Jetzt erinnern noch zwei Übertragungswagen des ukrainischen Fernsehens an die Präsenz der Fußballer.
Und der Müll, den sie hinterlassen haben: Wir finden benutzte Spritzen, Medikamentenpackungen und kleine Ampullen, gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit. Die Medikamente sind kyrillisch bedruckt, auf russisch und ukrainisch (siehe Foto). Außerdem kommen eine blaue Kapitänsbinde der Uefa, ein Aufwärmshirt, eine Liste mit der Zimmerbelegung der ukrainischen Spieler und mehrere leere Flaschen Schnaps zum Vorschein.
Bei keinem der gefundenen Medikamente handelt es sich um eine Substanz, die auf der Liste verbotener Dopingmittel steht. Das bestätigt der Sprecher des Kölner Zentrums für präventive Dopingforschung Mario Thevis. Es handelt sich in erster Linie um Entzündungshemmer wie Diclofenac-Natriumlösung und Nimesulid. Außerdem ist Diphenhydramin dabei, ein Antiallergikum, das auch als Schlaf- und Beruhigungsmittel eingesetzt wird. Wir finden auch eine Sorbex-Packung: Kohletabletten, die den Körper entgiften sollen. Außerdem Glucose-Infusionsbeutel. Wie ist diese Mischung an Substanzen zu bewerten?
„Glucose-Infusionen sind nur in Notsituationen sinnvoll“, sagt Perikles Simon, Leiter der Sportmedizin an der Universität Mainz. Verboten ist eine Infusion generell ab einer Menge von mehr als 50 Milliliter (ml). Zudem darf innerhalb von sechs Stunden jeweils nur eine Infusion verabreicht werden. Im Müll der Ukrainer lagen zwei leere 50ml-Beutel Glucose-Infusion.
Dopingexperte Simon kann sich nur wenige Ausnahmesituationen vorstellen, in denen eine solche Infusion angebracht ist: „Das kann für einen Diabetiker gelten, der an Unterzuckerung leidet oder einen Marathonläufer im absoluten Erschöpfungszustand.“ Aber für junge, gesunde Profi-Fußballer? Für die könnten solche Infusionen nur dann Sinn ergeben, wenn sie zum Beispiel in extremer Hitze spielen und akut den Zuckerspeicher im Körper aufstocken müssten. Davon kann in Frankreich aber keine Rede sein. In der Vergangenheit sind Dopingfälle in Verbindung mit Glucose bekannt geworden, weil bei der Infusion Glucose mit Insulin gemischt wurde. Das wäre verboten, sagt Simon. Ein Hinweis auf ein Insulin-Präparat fand sich im Müll der Ukrainer aber nicht.
Der ukrainische Fussballverband wollte sich auf Anfrage von CORRECTIV nicht zu dem Fund im Müll des Mannschaftshotels äußern. Auch die ukrainische Anti-Dopingbehörde, die Welt-Anti-Doping-Agentur und die Uefa ließen entsprechende Anfragen unbeantwortet.
Neben der Glucose-Infusion fallen vor allem die vielen starken Schmerzmittel auf. Im Müll der Ukrainer fanden wir sechs unterschiedliche Präparate. „Der Begriff Schmerzmittel wäre eine Verharmlosung“, sagt der Heidelberger Pharmakologe Ulrich Schwabe, dem wir den Fund präsentiert haben. „Die Wirkung der Mittel ist entzündungshemmend.“ Schwabe war Mitglied der ersten Freiburger Dopingkommission, die die Vergabe leistungsfördernder Mittel durch Mitarbeiter der Universität Freiburg untersuchte. Er betont, dass die bei den Ukrainern gefunden Entzündungshemmer auch ein Nebenwirkungspotenzial haben. Wichtig sei, dass die Mittel nicht vorbeugend und nur unter ärztlicher Anordnung genommen werden, sagt Schwabe.
Vor den Nebenwirkungen warnt auch der Mainzer Dopingexperte Perikles Simon. Gerade die leichten Schmerzmittel wie Paracetamol oder Diclofenac seien für rund 1.700 Todesfälle pro Jahr in Deutschland verantwortlich, sagt er. „Das passiert, weil die Leute nicht genügend über Nebenwirkung wissen“, sagt Simon. Viele Menschen wüssten zum Beispiel nicht, dass es nichts bringe, mehr als eine Tablette zu nehmen. „Leber und Niere können langfristig geschädigt werden. Die Mittel können spontane Blutungen im Magen-Darm Trakt auslösen“, sagt Simon.
Den Direktor des Instituts für Sportwissenschaft an der Universität Tübingen, Ansgar Thiel, überrascht der offensichtlich massive Einsatz von starken Medikamenten bei der Fussball-Europameisterschaft nicht. Thiel forscht seit Jahren zum Gesundheitsmanagement von Spitzensportlern. „Krank oder gesund ist im Sport keine medizinische Diagnose, sondern die Frage, ob Sport möglich ist oder nicht“, sagt Thiel. „Das medizinische Personal im Sport übernimmt diese Denklogik. Es geht nicht ums Heilen, sondern ums Reparieren.“
Ein internationales Turnier sei eine solch seltene Gelegenheit, da werde alles getan, um den Körper fit zu halten. „Solange Mittel nicht auf der Dopingliste stehen, haben die Sportler kein Unrechtsbewusstsein.“ Im Spitzensport herrsche eine Kultur des Schmerzes. Schon junge Sportler lernten, dass Schmerz kein Warnsignal sei, sondern überwunden werden muss. Die Kontrolle über das eigene Schmerzempfinden werde mit der Zeit häufig an den Trainer und die Betreuer abgegeben. „Der Trainer sagt, wann es nicht mehr geht. Nicht der Spieler.“
Insgesamt hat CORRECTIV die Hotels von fünf EM-Teams aufgesucht, darunter die von drei Viertelfinalisten. Neben der Unterkunft der Ukraine waren wir am Quartier der Schweizer Mannschaft und der Isländer. Dort haben wir keine verdächtigen Medikamente im Müll gefunden. Die Müllcontainer der Italiener und der deutschen Mannschaft waren nicht zugänglich.
Die Teams haben zum Teil spezielle Vorkehrungen getroffen. Beispiel Italien: Die reguläre Müllabfuhr der Stadt Montpellier hat in den vergangenen drei Wochen nicht einmal das italienische Hotel angefahren. Die Müllmänner durften sich angeblich aus Sicherheitsgründen dem Hotel nicht nähern, sagte eine Mitarbeiterin des „Courtyard Marriott“ Hotels, in dem die italienischen Fussballspieler übernachten.
Die Schweizer haben ihr Hotel in Juvignac, einem Vorort von Montpellier. Dort ist der Müll nur über einen umzäunten Parkplatz erreichbar. Rund 400 Kilometer nördlich liegt die Stadt Annecy am Fuße der Alpen. Hier hat mit Island die Überraschungsmannschaft des Turniers sein zentrales Lager. Die Polizei ist auch am „Hotel les Tresoms“ der Isländer auffällig präsent. Als unser Reporter ein Müllhäuschen am Personalparkplatz betritt und die ersten zwei Säcke anschaut, vergeht kaum eine Minute, bis der Sicherheitsdienst erscheint. Wenig später steht ein halbes dutzend Polizisten um ihn herum. Sie nehmen seine Personalien auf.
Am Mittwoch dieser Woche reiste unser Reporter nach Evian zur deutschen Mannschaft, die im dortigen Luxushotel „Ermitage“ einquartiert hat. Von den fünf besuchten Mannschaftshotels ist das deutsche Hotel am besten abgeriegelt. Das Hotel ist von großen Sichtschutzwänden umgeben. Die Mülltonnen sind hier noch nicht einmal in Sichtweite.
Bei der Tour de France hatte die französische Anti-Doping-Behörde AFLD vor einigen Jahren noch aktiv die Mülleimer mehrerer Radteams durchsucht. Damals hatten die Dopingfahnder verschiedene Dopingpräparate gefunden. Auf eine Anfrage von correctiv.org, ob die Behörde auch bei der Fußball-EM den Müll der Teams durchsucht, hat die AFLD bislang nicht geantwortet.
Es gibt zahlreiche Hinweise, dass die Einnahme von Medikamenten im Fußball weit verbreitet ist. In den vergangenen Jahren haben verschiedene Studien des Weltverbandes Fifa gezeigt, wie exzessiv Fußballer Schmerzmittel und andere Medikamente einsetzen.
Bei der WM 2014 in Brasilien schluckten zwei von drei Spielern mindestens einmal im Turnier Medikamente, davon nahmen 40 Prozent vor jedem Spiel etwas. Bei einem Team hatte sogar jeder einzelne Spieler während des Turniers Medikamente genommen, darunter auch Ersatzspieler, die nicht eine einzige Minute auf dem Feld standen. In diesem Team hatte jeder Spieler im Schnitt fast fünf verschiedene Medikamente genommen, schreibt die Fifa in einem Bericht. Zwei Spieler hatten sogar neun verschiedene Medikamente in den 72 Stunden vor dem Anpfiff genommen. Dabei betreffen diese Statistiken nur die offiziell dokumentierten Mittel, die jede Mannschaft an die Fifa melden muss.
Am beliebtesten waren dabei mit großen Abstand verschiedene Schmerzmittel und Entzündungshemmer. Jeder zweite Spieler griff zu diesen Präparaten. Je länger das Turnier dauerte, desto mehr Medikamente bekamen die Spieler. Das beliebteste Mittel war Diclofenac. Die Fifa untersucht seit 2002 systematisch, welche Mittel die Spieler bei großen Turnieren nehmen. Selbst bei den Junioren-Weltmeisterschaften, von der U-20 bis runter zur U-17, nahmen 43 Prozent mindestens einmal während des Turniers Schmerzmittel.
Immer wieder wird die Frage diskutiert, ob die Welt-Anti-Doping-Agentur Schmerzmittel nur mit Genehmigung zulassen sollte und alles andere als Doping werten müsste. Schließlich hätten Fußballer ohne Schmerzmittel oft nicht die Chance über ihre normale Leistungsfähigkeit hinaus zu gehen oder könnten teilweise vor Schmerzen gar nicht auf dem Platz stehen. Bislang spricht sich die Welt-Anti-Doping-Agentur gegen eine härtere Kontrolle oder ein Verbot von Schmerzmitteln aus.
Mitarbeit: Annika Jöres, Margherita Bettoni