Neue Rechte

AfD in NRW: Kernschmelze oder Abkühlung

Auf dem Parteitag in Kalkar kämpfen Höcke-Unterstützer und frühere Anhänger des ehemaligen Parteichefs Marcus Pretzell um die Ausrichtung der Partei im bevölkerungsreichsten Bundesland. Es sieht so aus, als ob die „Beutegemeinschaft“ des Ehemanns von Ex-Parteichefin Frauke Petry die Nase vorne hat.

von Marcus Bensmann

AfD-Chef von NRW Martin Renner

AfD-Chef Martin Renner will Landeschef im zerstrittenen Landesverband von NRW bleiben.© Ivo Mayr/ CORRECTIV.ORG

Das niederrheinische Kalkar war in den 1980iger Jahren ein Mekka der Freunde der Atomenergie. Sie planten hier den „Schnellen Brüter“, ihre Themen waren nukleare Stromerzeugung und die Wiederaufbereitung radioaktiver Brennelemente. Jetzt zieht Kalkar wieder das Medieninteresse auf sich. An diesem zweiten Adventswochenende treffen sich hier die Delegierten des NRW-Landesverbandes der AfD – zu einer Art politischen Wiederaufbereitung. Der stärkste Landesverband der rechtspopulistischen Partei mit über 4000 Mitgliedern ist nach dem Austritt von Marcus Pretzell führungslos und zerstritten. In Kalkar wird es hoch hergehen. Es geht um personelle Intrigen – und die ideologische Ausrichtung.

Bisher hat das ehemalige Pretzell-Lager die Nase vorn, aber Parteitage der AfD sind voller Überraschungen. Der Ehemann von Frauke Petry, der früheren AfD-Bundeschefin, hatte den Landesverband mit ihm ergebenen Leuten straff geführt. Der Gefolgschaft sicherte er Mandate in Landtagen und im Bundestag. Die Seilschaft um Pretzell begreift sich als „realpolitisch“ und „moderat“. Aber sie standen in den letzten zwei Jahren in erbitterter Fehde mit dem völkischen oder „patriotischen Lager“, das in den bisherigen Parteiversammlungen bis auf wenige Male immer knapp unterlag.

„Patrioten“ drängen nach vorn

Der AfD-Landesverband hatte bis zum Weggang von Pretzell nach der Bundestagswahl im September eine Doppelspitze. Der zweite, gleichberechtigte AfD-Vorsitzende des Landesverbandes, Martin Renner, wurde in dem Machtkampf gegen Pretzell vom „patriotischen Lager“ unterstützt. Dieses Lager half dabei, Pretzells Anlauf zu stoppen, Co-Landeschef Renner auf einem Sonderparteitag im Januar 2017 in Oberhausen abzusetzen. Renner, der sich selbst als nationalkonservativer Intellektueller sieht, konnte sich dann im Februar gegen den Willen des Pretzell-Lagers an die Spitze der Landesliste für den Bundestag setzen.

Er siegte damals mit einer völkischen Rede. Er verteidigte den rechtsradikalen Björn Höcke, dieser habe in seiner „Denkmal-der-Schande“-Rede „die Themen richtig“ angeschnitten, nur eben in einer falschen Form wie in einer „Ufa-Wochenschau“ vorgetragen. Er, Renner, würde seit Jahren über genau die gleichen Themen sprechen. Zudem käme die Zuwanderung einer „Selbstzerstörung unserer Kultur“ gleich, sagte Renner. Linksgrüne Ideologen würden zusammen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel die „Identität“ des deutschen Volkes zerstören. Die Bürger würden zu „Systemsklaven“ des linksgrünen „Establishments“.

Renner will in Kalkar wieder als Landeschef antreten. Zuvor muss der Parteitag entscheiden, ob den Landesverband eine Einzel-, Doppel- oder Dreierspitze anführt. Renner ist ein politischer Einzelgänger. Er halte Teams in der Politik für „schädlich“, denn die seien nichts anderes als eine „Beutegemeinschaft“, die den Landesverband unter Pretzell zerissen habe, sagt Renner. Er wirft dem potenziellen Gegenkandidaten, dem Bundestagsabgeordneten Jörg Schneider, vor, immer noch in diesem System zu denken. Schneider ist wie die meisten der 14 verbliebenen Bundestagsabgeordneten der AfD aus NRW ehemaliger Pretzellianer.

Vor allem die Bundestagsabgeordneten wollen verhindern, dass die Völkischen den Landesverband kapern. Eine Übernahme könnte tatsächlich abgewehrt werden, denn anders als in der Bundespartei sind die Höcke-Anhänger in Nordrhein-Westfalen zerstritten. Renner gilt dort vielen als zu moderat. Das „patriotische Lager“ würde auch Renner lieber austauschen. Er sei ihnen zu „lasch“ und zu „selbstverliebt“.

Der „Bevölkerungsaustausch“

So wird auch die Kandidatur von Michael Schild erwartet. Er gehört zu denen, die vor einem „Bevölkerungsaustausch“ warnen. Der „Bevölkerungsaustausch“ ist ein rechtsradikaler Kampfbegriff, der davon ausgeht, dass dunkle Mächte und Kanzlerin Angela Merkel einem geheimen Plan folgen, das deutsche Volk zu vernichten. Aber Schild hatte auch mit Pretzell gekungelt, um sich einen Platz auf der Landesliste für den Landtag zu ergattern, der aber dann nicht zog.

Das „patriotische Lager“ würde am liebsten die stramm rechte Sonja Schaak aus Lippe als Parteichefin sehen. Aber sie hat nur Außenseiterchancen – es sei denn, sie kann die Delegierten in Kalkar so aufheizen, wie es die rechtsradikale Doris von Sayn Wittgenstein auf dem Bundesparteitag in Hannover machte.

Wer wird vorn liegen?

Bisher sieht es danach aus, dass das Kalkül der ehemaligen Pretzell-Truppe aufgehen könnte. So sieht es auch Thomas Matzke. Matzke ist ein versierter Strippenzieher des „patriotischen Lagers“. Pretzell hatte beinahe geschafft, ihn aus der Partei zu werfen, gegen den AfD-Politiker aus Siegburg läuft immer noch ein Parteiausschlussverfahren. Matzke hat die Köpfe in Kalkar gezählt. Von den 400 Delegierten gehören an die 50 Prozent dem Pretzell-Lager an. Viele von ihnen würden nach wie vor von der „Beutegemeinschaft“ zehren, sie hätten entweder Mandate oder würden für die Abgeordneten arbeiten, sagt Matzke. Zudem hätten über 20 Mitglieder aus dem „patriotischen Lager“ ihren Delegierten-Status über Tricksereien verloren. Eine Überraschung hält Matzke für unwahrscheinlich: Die Pretzellianer würden sich durchsetzen.

Entlastung? Bitte verschieben…

Vor der Wahl des neuen Vorstandes steht die Entlastung des alten Vorstandes. Das Magazin Compact, inoffizielles Sprachrohr der Höcker-Anhänger in der AfD, veröffentlichte diese Woche eine Geschichte, die behauptet, dem NRW Landesverband würden über 500 000 Euro fehlen. Das Blatt zitiert Gerüchte, dass Pretzell und Petry ihre Hochzeit auf Kosten des Landesverbandes gefeiert hätten.

Landeschef Renner weist diesen Bericht als „Unsinn“ zurück und sagt, dass bereits rechtliche Schritte gegen die Zeitschrift in Gang gesetzt seien. Die Kasse sei geprüft worden, sagt Renner, und man habe lediglich einen Betrag von 200,- Euro gefunden, der ohne Beleg sei. Zudem würde der Landesverband einen Flug von Frauke Petry von Dresden nach Düsseldorf monieren. Der Sprecher von Petry will sich zu „wilden Spekulationen“ nicht äußern.

Gleichwohl will Renner die Entlastung verschieben. Das soll nicht in Kalkar geschehen und auf einen Zeitpunkt verschoben werden, zu dem die AfD wieder einen vollzähligen Vorstand habe. Dann könnten die Belege noch einmal geprüft werden. Es ist fraglich, ob er dafür die Mehrheit bekommt.

Erst SPD, dann AfD

Es gibt eine weitere Gruppierung. Mit dem Bergarbeiter Guido Reil und Kay Gottschalk vertreten seit dem Parteitag in Hannover zwei ehemalige Sozialdemokraten NRW im AfD-Bundesvorstand. Reil nennt sich mal „nationaler Sozialdemokrat“ oder „patriotischer“ Arbeitervertreter. Gottschalk forderte in Hannover, die AfD zu einer neuen SPD zu machen. Das ist gegen das AfD-Programm. Dort schützt die Partei die Interessen der Wohlhabenden. Die AfD will keine Vermögenssteuer und keine Erbschaftssteuer.

Gottschalk kommt ursprünglich aus Hamburg und war ein Pretzell-Geschöpf. Er habe auf der Landesliste in NRW für den Bundestag kandidieren dürfen, da er die Versammlung geleitet habe, die ihn im Januar 2017 absetzen sollte, sagt Renner, das sei ein „politisches Tauschgeschäft“ gewesen. Nach dem Austritt von Petry und Pretzell versicherte Gottschalk dem neuen starken Mann in der AfD Alexander Gauland die Treue.

NRW büßt Einfluss ein

Lagerübergreifend lehnen AfD-Mitglieder in NRW die „Sozialdemokratisierung“ der AfD ab. Der völkische Matzke warnt gar vor der „Proletarisierung des patriotischen Lagers“, eine Sorge, die der Parteichef Renner teilt, allerdings in nicht so „drastischen Worten“.

Auch Renate Zillessen aus dem AfD-Landesvorstand und lange treue Unterstützerin von Pretzell und Petry, wehrt sich gegen die „Sozialdemokratisierung“ der Partei. Für sie sei die AfD immer noch wirtschaftsliberal, sagt die AfD-Frau, und stünde gegen den „Etatismus“.

Die so offensichtliche Zerstrittenheit führt inzwischen zum Machtverlust des zahlenmäßig größten Landesverbandes in der Gesamtpartei. Und die Wiederaufbereitung der AfD steht in Kalkar vor dem Siedepunkt. Kommt es zur Kernschmelze? Oder zur Abkühlung? Der echte schnelle Brüter wurde übrigens nie in Betrieb genommen. Heute bietet das Gelände Platz für einen Freizeitpark.