Von Kammerdienern und Kammerjägern
Bisher galten die deutschen Wirtschaftskammern als unantastbar. Doch seit einiger Zeit steht das Kammerwesen kräftig unter Druck. Immer mehr Gerichte geben Klagen gegen die verbindlichen Mitgliedsbeiträge recht. Die Landesregierung müsste eigentlich kontrollieren, ob die insgesamt 23 Kammern in NRW ihre Beiträge und Privilegien nicht für überhöhte Rücklagen und Profit nutzen. Doch das Wirtschaftsministerium vernachlässigt die Kontrolle der Kammern. Mit Absicht.
Die Berichte des Landesrechnungshofs (LRH) haben ein großes Gewicht. Überparteilich kontrolliert der LRH das Finanzgebaren der öffentlichen Hand. In seinem aktuellen Jahresabschlussbericht schoss der Rechnungshof massiv gegen das Kammersystem in NRW und dessen zuständige Aufsichtsinstanz, das nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerium: „Die bisherige Wahrnehmung der Aufsicht ist nicht ausreichend.“ Der Haushalts und Stellenplan der Handwerkskammern werde nur per Checkliste abgesegnet. Also per Häkchen hinter formalen Kriterien wie ordnungsgemäßer Einladung, Beschlussfähigkeit und ähnlichem. Es finde keine wirkliche Prüfung der Zahlen oder Gehälter statt. Das Ministerium habe daher keinen Überblick zu den Entwicklungen der Haushalte und vor allem zu den Vermögenswerten der Kammern.
Warum ist das brisant?
Nordrhein Westfalen zählt insgesamt 16 Industrie- und Handelskammern und 7 Handwerkskammern mit rund 1,27 Millionen Mitgliedsbetrieben. Als Körperschaften des öffentlichen Rechts übernehmen die mitgliedschaftlich organisierten Verbände öffentliche Aufgaben. Sie sollen die Interessen der Wirtschaft vertreten, die Ausbildung überwachen und den Unternehmen beratend zur Seite stehen. Umgekehrt ist jeder Gewerbetreibende zur Mitgliedschaft in seiner Kammer verpflichtet und damit zur Zahlung von Beiträgen, die für nicht-gedeckte Kosten der Kammern dienen sollen. Das alles ist per Gesetz diktiert. Genauso die Aufsicht des Landes durch das Ministerium für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk (MWEIMH) in NRW. Soweit jedenfalls die Theorie.
Zwar ist es den Kammern erlaubt, Rücklagen zu bilden, allerdings in angemessener Weise. Überschüsse sollten mit geringeren Mitgliedsbeiträgen ausgeglichen werden. Doch ob die Kammern sich daran halten, ist unklar, so der Rechnungshof, es fehle an einer Überprüfung durch das Ministerium, es bleibe „ungeprüft, ob gebildete Rücklagen zulässig und plausibel sind“. Das Ministerium ist mit diesem vergleichsweise laxen Vorgehen bisher gut gefahren. Klagen gegen überhöhte Beiträge wurden in der Regel von den Gerichten abgeschmettert. Gehälter und Haushaltspläne seien Kammersache, fielen unter das geschützte Hoheitsrecht, so die Begründung. Eine aufgabenkritische Diskussion fand kaum statt. Bis zu einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2015, das sich versteckt in einer Fußnote LRH-Berichtes findet. Es ist ein Wendepunkt.
Gerichtsurteile und Folgen
Bei dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Dezember 2015 (BverwG 10 C 6.15) geht es um ein Unternehmen aus Rheinland-Pfalz, die IHK-Koblenz und die Höhe und damit Unzulässigkeit der Mitgliedsbeiträge. Nach Stationen vor dem Verwaltungs- und dem Oberverwaltungsgericht in Koblenz war es die letzte Etappe in diesem über zwei Jahre andauernden Rechtsstreit. Der Kläger bekam in allen Punkten Recht. Die Kammer-Rücklagen waren unangemessen hoch. Das Bundesverwaltungsgericht traf eine gleich mehrfach wichtige Entscheidungen.
Erstens: Die Rücklagen wie die Haushaltsplanung der Kammern können verwaltungsgerichtlich überprüft werden. Damit entschied das Bundesverwaltungsgericht gegen die gängige Argumentation der Kammern, die ihre „Wirtschafts- und Finanzhoheit“ bisher als Teil ihrer „Selbstverwaltungsgarantie“ betrachtet haben.
Zweitens: Finanziert eine IHK Aktivitäten, die vom Kammergesetz, das die Grundlage des Kammersystems bildet, nicht gedeckt werden, dürfen sich diese nicht auf die Beiträge auswirken und können gegebenenfalls angefochten werden. 2013 gab es zum Beispiel einen solchen Fall in Dortmund: Die IHK der Ruhrgebietsstadt stand wegen ihres Engagements bei einem Forschungs- und Technologiezentrum Ladensicherung im nordrhein-westfälischen Selm („Lasise“) in der Kritik. Die Ermittlungen wurden damals eingestellt.
In dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts heißt es weiter – drittens: „Hieraus folgt nicht nur, dass die Kammer eine überhöhte Rücklagenbildung nicht bilden darf, sondern auch, dass sie eine überhöhte Rücklage möglichst bald wieder auf ein zulässiges Maß zurückführen muss. Die Entscheidung über das Vorhalten einer Rücklage und über deren Höhe muss die Kammer bei jedem Haushaltsplan (Wirtschaftsplan) – und damit jährlich – erneut treffen.“ Neben der jährlichen Neuplanung sei die IHK auch dem „Gebot der Schätzgenauigkeit“ verpflichtet.
Die gleiche Prüfstelle seit 50 Jahren
Der letzte Punkt ist spannend. Der LRH hat auf eigene Faust die Entwicklungen der Rücklagen bei den Kammern genauer unter die Lupe genommen: „Dabei fiel auf, dass bei einzelnen IHK die Rücklagen stark gestiegen sind.“ Das Ministerium entgegnete darauf nur, dass man sich bei der Feststellung der Rücklagen auf die Rechnungsprüfungsstelle für die Industrie- und Handelskammern in Bielefeld (RPSIHK) verlasse.
Auch hier sieht der LRH Grund zur Kritik: Die Jahresabschlussprüfung der IHKn werde ohne Unterbrechung bereits seit über 50 Jahren von der Rechnungsprüfungsstelle in Bielefeld durchgeführt. Laut LRH hat das Ministerium seit 2009 nur noch vereinzelt, seit 2011 gar nicht mehr die Jahresabschlüsse geprüft. Von einer eigenen Auswertung ganz zu schweigen.
Erfolgreiche Widersprüche
Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sind die Kammern geschwächt. Die IHKn in Arnsberg und Lippe zu Detmold haben ihre Beitragsbescheide aufgehoben, nachdem Anfang 2016 von einzelnen Mitgliedern Klage gegen diese eingereicht wurden. „Der Anspruch auf Aufhebung des Bescheids wird anerkannt“, hieß es in einem Schreiben der IHK Detmold an den Kläger. Die IHK Arnsberg schrieb: „Wir gehen davon aus, dass die Klage hiermit erledigt ist.“
„Die Kammern wollen dadurch vermeiden, dass die Vermögensbildung tatsächlich einen Rechtsverstoß darstellt“, sagt Kai Böddinghaus, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes für freie Kammern (bffk), einem kammerkritischen Verein, der sich seit 20 Jahren gegen die Pflichtmitgliedschaft einsetzt. Ein tatsächlich festgestellter Rechtsverstoß hätte gravierende Folgen für die Kammern, denn wenn die Kammern ihre Vermögenswerte abbauen müssten, müssten auch die Beiträge „zugunsten aller Mitglieder“ gesenkt werden. Mit über 15 Widersprüchen und Klagen gegen Mitgliedsbeiträge war der bffk in den vergangenen Jahren erfolgreich. In der Regel wurden die Bescheide, als es zur Klage kam, aufgehoben.
Das Vergütungssystem der Kammern
„Das MWEIMH hat darauf verzichtet, sich mit den Stellenplänen und infolge mit der Vergütung der Mitarbeiter, insbesondere der Leitungsebene, zu befassen. Das Ministerium hat es somit unterlassen, der Einhaltung der rechtlich verankerten Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit nachzugehen“, schreibt der LRH in dem Abschlussbericht: „Damit ließ es insbesondere ungeprüft, ob der gesetzlich festgelegten Kostendeckung der Beiträge Rechnung getragen wurde.“
Das Ministerium erfasst nicht die Höhe der Gehälter auf der Leitungsebenen der IHKn. Die verschiedenen Kammern suggerieren zwar Transparenz auf ihrer Internetseite und veröffentlichen – jedenfalls die meisten – die Gesamtsumme für die IHK-Führungsebene sowie die Anzahl der Führungskräfte. Aber wirkliche Erkenntnisse liefern diese Zahlen nicht. Es bleibt Auslegungssache der Kammern, wie viele Personen der Führungsebene zugerechnet werden.
CORRECTIV.Ruhr hat die 16 IHK in NRW miteinander verglichen. Im Schnitt – und je nach Größe der IHK – bekommen die einzelnen Führungskräfte zwischen 100.000 und 150.000 Euro. Rechnet man die Zahl der Führungskraft auf die Mitgliedsunternehmen zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede. Kommen in Münster über 22.000 Mitgliedsunternehmen auf eine Führungskraft, sind es in Dortmund und Bochum nur um die 5.000. Die IHK Lippe zu Detmold, die sich bis zuletzt geweigert hatten, eine Summe der Führungsgehälter zu nennen, kommt auf rund 2.700 Mitglieder pro Führungskraft. Damit scheint es einen gewissen Interpretationsspielraum zu geben, wer zur Führungsebene gehört und wer nicht. Auf Anfrage teilte der Hauptgeschäftsführer der relativ kleinen IHK Wuppertal mit, sein Jahresgehalt läge bei 180.000 Euro.
Kontrolle als Verschwendung?
Die Reaktion des Wirtschaftsministeriums auf den Bericht des Landesrechnungshofes lässt ein Einsehen kaum erkennen. „Die Rechtsaufsicht stütze sich auf die Erkenntnisse der Abschlussprüfer und werde nicht selbst investigativ tätig. Das Ministerium gehe nicht davon aus, dass durch die Form der Aufsicht ‘Folgen’ nachteiliger Art bedingt seien“, heißt es im LRH-Bericht. Und weiter: „Das Wirtschaftsministerium sieht keinen Anlass, die knappen Ressourcen des Landes für eine stärkere Überwachung von Wirtschaftskammern einzusetzen“.
Und vielleicht folgt die vernachlässigte Kontrolle durch das Ministerium wirklich der Ressourcenlogik. Großzügige Rücklagen der Kammern können durchaus im Interesse des Ministeriums sein. „Da Insolvenzverfahren über das Vermögen der Kammern nicht zulässig sind, könnte sich für den Fall der finanziellen Schieflage einer Kammer die Frage nach einer Belastung des Landeshaushalts stellen“, schreibt der Landesrechnungshof.
Kammer-Befürworter und -Gegner in NRW: Warum so viele Industrie- und Handelskammern aus der Zeit gefallen sind
Kleiner Fun Fact zum Schluss
Am 27. April erhielt NRW-Wirtschaftsminister Garrelt Duin (SPD) das Ehrenzeichen des Westdeutschen Handwerkskammertages. Auf Twitter freute er sich und bedankte sich noch einmal für die gute Zusammenarbeit mit den Kammern.