Umfrage zur Landtagswahl: Erdogan-Anhänger tendieren zu Kleinstparteien
Rund eine halbe Million Deutsch-Türken können mit ihrer Stimme am 14. Mai den Landtag bestimmen. Wie werden sie wählen? Wir haben eine Umfrage unter 1000 Teilnehmern durchgeführt. Viele Befürworter der Verfassungsreform in der Türkei sympathisieren in NRW mit Kleinstparteien, die Erdoğan nahestehen.
„Ich fühle mich von keiner deutschen Partei vertreten“, sagt der 27-jährige Yilmaz Yanar aus Duisburg. Der Deutsch-Türke hat kurze dunkle Haare und sitzt mit ausgewaschener Jeansjacke in einem türkischen Dessertladen im Stadtteil Marxloh. „Da ich mich nicht vertreten fühle, ignoriere ich den Wahlaufruf der Stadt“, sagt er trotzig auf türkisch. Yanar ist überzeugt, dass sich die deutsche Politik nicht um seine Belange kümmert.
Am 14. Mai stehen die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen an. Knapp eine Million Menschen mit türkischen Wurzeln leben hier. Unter ihnen besitzt etwa die Hälfte die deutsche Staatsbürgerschaft und ist somit berechtigt an der Wahl teilzunehmen. CORRECTIV.Ruhr wollte wissen, welchen Einfluss die Positionierung zum türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dessen Politik auf das Wahlverhalten in Deutschland hat? Deswegen haben wir die deutsch-türkische Community in NRW befragt. Unsere Online-Umfrage richtete sich gezielt an die Deutsch-Türken, die von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Es ist nicht nachzuvollziehen, welche politischen Kreise oder Milieus die nicht repräsentative Umfrage erreicht hat.
Teilnehmer konnten sich drei Gruppen zuordnen: türkisch, deutsch-türkisch (Doppelstaatler), deutsch (türkeistämmig). Die erste Frage bezog sich auf die Abstimmung zur Verfassungsänderung in der Türkei, die zweite und dritte Frage auf die anstehenden Wahlen in Deutschland – Mitte Mai in NRW und im Herbst auf Bundesebene. Über 1000 Rückmeldungen kamen.
Für welche Parteien entscheiden sie sich in NRW?
Von den Befragten mit deutschem und türkischem Pass – also den Doppelstaatlern – die an unserer Umfrage teilgenommen haben, wollen rund 80 Prozent auch in Deutschland abstimmen. Der Großteil aus der jüngeren Generation zwischen 18 und 35 Jahren. Interessant wird es, wenn man schaut, wie je nach Positionierung zur Verfassungsänderung die Parteipräferenzen in Deutschland wechseln.
Nach unserer Umfrage würden Mitte Mai 35 Prozent der Doppelstaatler, die sich pro Erdogan ausgesprochen haben, für die Allianz Deutscher Demokraten (ADD) oder das Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit (BIG-Partei) stimmen. Also etwa jeder dritte. Beide Parteien stehen in enger Verbindungen zur Erdoğan-nahen UETD, der Union Europäisch-Türkischer Demokraten. Ein ähnlich großer Prozentsatz, 36,3 Prozent, werden nicht wählen und 15,6 Prozent ihre Stimme der SPD geben.
Bei den Erdogan-kritischen Wählern sind es nur 2,3 Prozent, die ADD oder BIG unterstützen würden. 17,8 Prozent wollen nicht wählen. Und 37,2 Prozent stimmen für die SPD, die traditionell unter türkischstämmigen Wählern hohes Ansehen genießt.
Bei den Umfrageteilnehmer mit ausschließlich deutscher Staatsbürgerschaft sind die Tendenzen sehr ähnlich – mit etwas höherem Zuspruch für die Sozialdemokraten. Und das unabhängig davon, ob sich nun pro oder contra Verfassungsänderung positioniert wurde.
BIG und ADD mobilisieren Nicht-Wähler
„Durch die Gründung dieser zwei neuen Parteien, die Migranten ansprechen, wird es viele ehemalige Nicht-Wähler geben, die ihre Stimme diesmal doch abgeben“, sagt Integrationsforscher Caner Aver vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) in Essen. Bei der letzten Landtagswahl 2013 in NRW hätten etwa 30 Prozent der Doppelstaatler nicht gewählt.
Yilmaz Yanar aus Marxloh, der Doppekstaatler ist und sich wie 75 Prozent der türkischen Wähler aus dem Ruhrgebiet für eine Verfassungsänderung in der Türkei ausgesprochen hat, sieht in diesen Kleinstparteien einen Ausweg für sein allgemeines Misstrauen gegenüber der deutschen Politiklandschaft. „Die negative Einstellung der deutschen Politik gegenüber Erdoğan und der Türkei stößt mich ab. Politiker, wie Sevim Dagdelen oder Cem Özdemir betreiben eindeutig Türkei-Bashing und arbeiten quasi fast für nichts anderes mehr. So eine Partei kann ich als Deutsch-Türke nicht wählen“, sagt Yanar im Café in dem Duisburger Stadtteil. Deswegen werde er seine Stimme der BIG oder ADD geben – auch wenn keine von ihnen eine Chance hat, ins Parlament einzuziehen.
Sozialpsychologe Andreas Zick von der Universität Bielefeld kann diese Gründe gut nachvollziehen. Er sieht in ihnen den Ursprung für die Defizite der deutschen Integrationspolitik. Deutschland habe Türken keine echte Heimat gegeben und auch die dritte und vierte Generation quasi wie Gastarbeiter behandelt. Letztlich arbeite das türkischen Politikern wie Erdoğan zu und führe gleichzeitig zu einer Entfremdung von Deutschland: „Je weniger man eine politische Heimat in dem Land findet, in das man einwandert, umso stärker ist auch der Einfluss aus den Herkunftsregionen“, sagt Zick.
Integriert oder nicht?
Auch der Solinger Politikwissenschaftler Jörg Becker erlebt nach wie vor, dass der türkischen Bevölkerung zum Beispiel auf kommunaler Ebene nicht ebenbürtig begegnet wird. „Man gibt ihnen ein paar Nettigkeiten, Höflichkeiten. Das ist so ein herablassendes Wohlwollen. Das ist aber kein Dialog auf Augenhöhe“, sagt Becker.
Eine andere Interpretation liefert der kanadische Migrationsforscher Doug Saunders, wie die FAZ berichtet. Er sieht in Deutschland ein Paradebeispiel für gelungene Integration. Diasporagemeinden stimmten „nicht auf der Grundlage gelebter Erfahrungen, sondern beeinflusst von nationalen Symbolen und Persönlichkeiten“ ab – deswegen nehmen sie häufig im Bezug auf ihr Heimatland reaktionäre politische Positionen ein. Dieselben Wähler hätten in ihren Gastländern dagegen liberalere Präferenzen. In Deutschland stimmten Türkeistämmige häufig für SPD oder Grüne.
Diese Aussagen werden auf Bundesebene gestützt von wissenschaftlich erhobenen Daten: Laut der 2016 erschienenen Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration ist die SPD unter Türkeistämmigen weiterhin unangefochten Partei Nummer 1. Fast 70 Prozent stehen den Sozialdemokraten nahe. Die Grünen kommen auf 13,4 Prozent, die Linke auf knapp 10 Prozent. Die Ergebnisse der Studie stützen bisherige Forschung auf dem Gebiet.
SPD traditionell vorn, Linke und Grüne mit schwerem Stand
Auch Serdar Urhan (27), ein stämmiger und gut integrierter Deutsch-Türke aus Düsseldorf, will die SPD wählen. Kanzlerkandidat Martin Schulz überzeuge ihn mit seiner Rhetorik und seinen Versprechen. Aber er sei schon lange für die SPD, weil sie sich am ehrlichsten für die Belange der Deutsch-Türken einsetze: „Das hat schon mit der guten Behandlung der Generation meines Großvaters begonnen, der als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen ist. Heute hätten wir ohne die SPD keine doppelte Staatsbürgerschaft – auch wenn dieses Modell gerade nur eingeschränkt verfügbar ist.“
Urhan erzählt aber auch aus Gesprächen mit türkischen Freunden, dass andere politische Ansichten existieren, „dass Äußerungen der Bundestagsabgeordneten Dağdelen, die PKK sei keine Terrororganisation, alle wirklich wütend machen“. Letztendlich müsse man anfangen, miteinander zu reden, vor allem aber einander wieder mit allen Ängsten, Sorgen und Meinungen ernst zu nehmen.
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