Liebe Leserinnen und Leser,
es ging hoch her, es ging lange, es war emotional. Am Ende hat der Bundestag vor einigen Minuten GEGEN den Gesetzentwurf für schärfere Migrationspolitik gestimmt. Das Abstimmungsergebnis war mit Spannung erwartet worden – weil CDU-Chef Friedrich Merz es damit schon wieder auf eine Mehrheit dank Stimmen der AfD angelegt hatte. Mehr dazu im Thema des Tages.
Das andere wichtige Thema derzeit im Bundestag: die Diskussion um ein mögliches AfD-Verbotsverfahren. Wir von CORRECTIV waren gestern dabei. Hier lesen Sie die Analyse unserer Verbotsverfahren-Reporterin Marie Bröckling.
Außerdem: In der Grafik des Tages zeigen wir, wie viele Menschen im Land es richtig finden, dass die AfD die CDU bei ihrem Antrag von Mittwoch unterstützt hat. Und in der „Leserfrage der Woche“ erklärt SPOTLIGHT-Reporter Robin Albers, was die „Doomsday Clock“ ist.
Morgen schreibt Ihnen Justus von Daniels, ich wünsche Ihnen schon mal ein schönes Wochenende – und schreiben Sie mir mit Hinweisen: anette.dowideit@correctiv.org.
Thema des Tages: Antrag: abgelehnt!
Der Tag auf einen Blick: Das Wichtigste
Bundestagswahl-Spezial: BSW im Wahlprogramm-Check von Salon5
Leserfrage der Woche: Was ist die Doomsday Clock?
Faktencheck: Angebliches Video von AfD-Unterstützern
CORRECTIV-Werkbank: Unsere Merz-Recherche führt zu großen Emotionen
Grafik des Tages: CDU-Anhänger: AfD-Stimmen sind kein Problem
Zum Ende dieser ereignisreichen Woche atmen viele im Land auf. Denn es sieht so aus, als ob die Brandmauer vielleicht nur Risse bekommen haben könnte. Die Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag stimmte gegen den Gesetzentwurf der CDU-Fraktion zum „Zustrombegrenzungsgesetz“. Das Wichtigste dazu:
Worum ging es noch mal in dem Gesetzentwurf?
Geflüchteten mit „eingeschränktem Schutzstatus“ sollte es laut Entwurf nicht mehr möglich sein, ihre Familie nach Deutschland nachzuholen. Eingeschränkter Schutzstatus ist eigentlich kein offizieller Begriff – betroffen gewesen wären auch Kriegsflüchtlinge, etwa aus Syrien oder Afghanistan.
Wie abgestimmt wurde:
338 Ja-Stimmen
350 Nein-Stimmen
5 Enthaltungen
Überraschend dabei ist, dass CDU/CSU, FDP, BSW und AfD zuvor ihre Zustimmung angekündigt hatten und so eigentlich eine Mehrheit gehabt hätten. Es müssen sich also einige Politikerinnen und Politiker dieser Fraktionen umentschieden haben.
Wie die einzelnen Abgeordneten abgestimmt haben, war bis zu unserem Redaktionsschluss allerdings noch nicht bekannt. Wenn Sie nachlesen mögen, was an diesem aufregenden politischen Tag alles im Bundestag passiert ist, empfehle ich Ihnen den Live-Ticker der Kolleginnen und Kollegen des Spiegel.
Wie ausgerechnet die FDP-Fraktion sich heute (zunächst) gegen Merz stellte:
Sie kündigte kurz vor der Bundestagssitzung am Vormittag an, sie wolle heute keine Abstimmung im Parlament. Stattdessen solle der CDU-Antrag noch mal in den Innenausschuss – also die zuständige Arbeitsgruppe im Bundestag – zurückgeschickt werden.
FDP-Fraktionschef Christian Dürr begründete das so: Die FDP finde die Inhalte des Gesetzentwurfs zwar richtig. Aber sie wolle durch diese Extra-Runde dafür sorgen, dass sich eine „Mehrheit in der demokratischen Mitte“ des Bundestags finde. Also, im Klartext, ohne die AfD.
Das allerdings war, wie gesagt, am Vormittag. Danach wurde die Sitzung auf Antrag der CDU-Fraktion unterbrochen, im Hinterzimmer verhandelten die Fraktionschefs mehrere Stunden lang, dann wurde weiter im Plenum debattiert.
So oder so: Zur demokratischen Bankrotterklärung von Friedrich Merz am Mittwoch ist heute noch eine faktische Niederlage hinzugekommen.
CORRECTIV: Eine Schweizer Perspektive auf das rechte Treffen in Zürich
Sie kennen vielleicht unsere Undercover-Recherche über das Treffen von AfD-Politikern und Neonazis vom Dezember. Unsere Kollegen von CORRECTIV in der Schweiz haben weiter recherchiert – und herausgefunden, dass auch bekannte Querdenker und ein Mitglied der Jungen SVP, der Jungpartei der stärksten Kraft im Schweizer Parlament, mit dabei waren:
correctiv.org
37 Tage in Abschiebehaft
Ali Shreteh hat keine Straftat begangen – trotzdem wurde der 21-jährige Syrer kurz vor seiner Abschiebung nach Kroatien inhaftiert. Eine Praxis, die traumatisierend ist – und immer häufiger stattfindet.
taz.de
Lokal: Wieso Thüringer die AfD gewählt haben
Zwei Drittel der Menschen in Thüringen haben bei den Wahlen im vergangenen Jahr der AfD ihre Stimme aus politischer Überzeugung gegeben. Laut einer neuen Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena spielen andere Faktoren eine kleinere Rolle.
mdr.de
Investigativ: Der russische Angriffskrieg zerstört auch die Umwelt
Der Krieg in der Ukraine verursacht massive Umweltschäden durch zerstörte Wälder, verseuchte Böden und kontaminiertes Wasser. Experten warnen vor langfristigen Folgen für Gesundheit und Ökosysteme, während die Kosten für die Sanierung auf Milliarden geschätzt werden.
tagesschau.de
Bundestagswahl-Spezial
Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) wird voraussichtlich als neue Partei in den nächsten Bundestag einziehen. Es setzt im Wahlkampf vor allem auf wirtschaftliche Themen: Das BSW will Kosten senken, den Mindestlohn erhöhen und Hilfen für die Ukraine einstellen. Auch die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland plant die Partei der langjährigen Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht wieder aufzunehmen.
Unsere Jugendredaktion Salon5 hat Jugendliche gefragt, was ihnen bei der Bundestagswahl am wichtigsten ist und die Programme darauf geprüft – hier sind die Ergebnisse für das BSW:
instagram.com
Leserfrage der Woche
Barbara O. fragt:
„Könnt ihr eure Leserinnen und Leser über die Doomsday Clock informieren?“
In der deutschen Sprache wird mit der Redewendung „Es ist fünf vor zwölf!“ umschrieben, dass es allerhöchste Zeit ist etwas zu tun, bevor es zu spät ist. Normalerweise ist der Ausdruck „Morgen ist auch noch ein Tag“ die perfekte Antwort darauf. Der kann bei der Weltuntergangsuhr, der Doomsday Clock, allerdings nicht so einfach angewendet werden. Steht sie auf 12 Uhr Mitternacht, hat die menschliche Zivilisation ihr Ende erreicht.
Zumindest ist das die Auffassung der Wissenschaftler und Forscher vom Magazin Bulletin of the Atomic Scientists. Das wurde 1945 von Albert Einstein und anderen Wissenschaftlern des Manhattan-Projekts gegründet, nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki. Ursprünglich, um über die Gefahren des damals noch neuen nuklearen Zeitalters aufzuklären. Heute gehören auch Klimawandel, Technologien und biologische Waffen zu den Themen.
Die erste Doomsday Clock wurde im Jahr 1947 auf 7 Minuten vor Mitternacht gestellt, kurz vor Beginn des Kalten Kriegs. 1953, sechs Jahre später, rückt sie auf 2 Minuten vor 12 Uhr vor, weil die USA und Sowjetunion erste Wasserstoffbomben testen. 1991 – der Kalte Krieg ist vorbei, es wird abgerüstet, die Mauer ist gefallen – waren es nur 17 Minuten vor Mitternacht. Der beste Zeigerstand bislang.
Am vergangenen Dienstag, mehr als 70 Jahre später, stellen die Wissenschaftler die Weltuntergangsuhr auf ihren bislang kritischsten Zeigerstand. Die Menschheit hat demnach nur noch 89 Sekunden bis Mitternacht Zeit. Das führen die Wissenschaftler vor allem auf den andauernden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zurück, von dem eine große nukleare Gefahr ausgeht. Ebenso sind der Nahostkonflikt, Chinas militärische Aktivitäten vor Taiwan und die Raketentests Nordkoreas riskant. Aber auch der Klimawandel ist ein Problem – obwohl 2024 das bisher wärmste Jahr der Geschichte war, unternimmt die Menschheit noch zu wenig.
Sie haben Fragen, Hinweise oder Ideen für Recherchen? Dann schreiben Sie mir gerne: robin.albers@correctiv.org
Auf TikTok verbreiten AfD-freundliche Profile Videos, die angeblich Unterstützer der Partei zeigen. Darin sind Menschenmassen zu sehen, die „Ost, Ost, Ostdeutschland“ rufen. Doch die Tonspur wurde nachträglich ersetzt. Die Aufnahmen zeigen eigentlich Demonstrationen gegen Rechtsextremismus.
CORRECTIV.Faktencheck
Endlich verständlich
Die Aufregung darüber, dass die CDU am Mittwoch für ihren Antrag „Fünf Punkte für sichere Grenzen und das Ende der illegalen Migration“ auch die Stimmen der AfD akzeptierte, sorgte für viel Aufregung. Kritisch ist der Antrag aber auch aus rechtlicher Perspektive und wirft grundlegende Fragen auf. Winfried Kluth vom Verfassungsblog hat ihn genauer angeschaut.
verfassungsblog.de
So geht’s auch
Ab sofort haben Wählerinnen und Wähler auf abgeordnetenwatch.de die Möglichkeit, alle Direktkandidat:innen zur Wahl kennenzulernen und direkt zu befragen. Auf dem Wahlportal stehen mehr als 2.500 Kandidierende aus 299 Wahlkreisen für den öffentlichen Austausch zur Verfügung.
abgeordnetenwatch.de
Fundstück
Verstehen Sie alles, was in den Wahlprogrammen steht? Unsere Jugendredaktion Salon5 testet, wie verständlich Wahlprogramme wirklich sind. Übrigens: Forscher der Universität Hoheim haben die aktuellen Wahlprogramme analysiert. Ihr Ergebnis: Die Programme sind zwar kürzer geworden, aber immer noch unverständlich geschrieben.
instagram.com
Das Thema „Merz und seine Lobbynetzwerke“ ist offenbar ein brisantes – in den sozialen Medien sorgt unsere Recherche in dieser Woche für Wirbel. Gereizt reagiert vor allem die neoliberale Bubble auf X. Thorsten Alsleben von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) schlägt uncharmante Töne an: Man dürfe über die „umstrittene Aktivistenplattform“ Correctiv sagen, „dass sie Lügen verbreite (gerichtlich bestätigt)“.
Aber dafür Worte der AfD-Politikern Beatrix von Storch zu zitieren, um die es bei dem genannten Urteil ging, das muss man wollen. Auch Medien wie Nius und Russia Today arbeiteten sich an der Recherche ab; beide behaupteten, das Kanzleramt finanziere die „Aktivisten“ von Correctiv, damit sie – also wir – Merz im Wahlkampf mit Propaganda aus dem Feld schießen. Das alles wäre weniger gruselig, wenn nicht auch aus dem Pressebüro des CDU-Kanzlerkandidatens Merz eine E-Mail kam, die unseren Bericht als „Kampagnentext“ bezeichnete.
Liebe Freunde des Marktes im aufstrebenden Mittelstand: Versuche, Reporter zu diskreditieren und missliebige Texte pauschal als Kampagnen zu bezeichnen, sind ein Milieumerkmal, das so eindeutig funktioniert wie Acrylfingernägel mit Glitzersteinen. Es besagt: Interesse an Meinungsfreiheit grundsätzlich vorhanden, Verständnis für unabhängige Presse aber nicht vollständig ausgeprägt.
Diese Woche prägten vor allem die Ereignisse im Bundestag. Am Mittwoch bekam der umstrittene Entschließungsantrag der CDU/CSU-Fraktion, der unter anderem mehr Kontrollen und Zurückweisungen an Grenzen sowie Abschiebungen fordert, eine Mehrheit.
Auch wenn der Antrag rechtlich nicht bindend ist und lediglich eine Art Appell an die Bundesregierung darstellt, ist das Votum von Bedeutung. Denn die Unionsparteien konnten sich die Mehrheit nur mit Stimmen der AfD-Abgeordneten sichern. Ein Novum, weil CDU und CSU bislang, wie auch die anderen Parteien, eine Zusammenarbeit mit der AfD verweigerten. Vor allem Friedrich Merz hat die Brandmauer regelmäßig stark betont. Die öffentliche Empörung ist groß, in ganz Deutschland wurde demonstriert. Auch Mitglieder des Bundestags, gerade von SPD, Grüne und Linke, kritisieren die CDU für diesen Schritt aufs Schärfste.
Aber wie stehen die Wahlberechtigten dazu? Dem aktuellen ZDF-Politbarometer zufolge ist das Stimmungsbild insgesamt relativ ausgeglichen, wie Sie in unserer Grafik des Tages sehen können. 47 Prozent finden es gut, dass die Union für ihren Antrag AfD-Stimmen akzeptiert, 48 Prozent nicht. Anders sieht es unter den Anhängern von CDU und CSU aus. Nur 28 Prozent sind nicht von dem Weg, den ihre Partei gegangen ist, angetan. 66 Prozent halten die Stoßrichtung für richtig.
zdf.de
Hinweis: Das Politbarometer ist zwar repräsentativ, allerdings wurden die Teilnehmenden vor der Abstimmung am Mittwoch befragt.
An der heutigen Ausgabe haben mitgewirkt: Robin Albers, Till Eckert
CORRECTIV ist spendenfinanziert
CORRECTIV ist das erste spendenfinanzierte Medium in Deutschland. Als vielfach ausgezeichnete Redaktion stehen wir für investigativen Journalismus. Wir lösen öffentliche Debatten aus, arbeiten mit Bürgerinnen und Bürgern an unseren Recherchen und fördern die Gesellschaft mit unseren Bildungsprogrammen.