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Liebe Leserinnen und Leser,
heute schreiben wir Ihnen zu zweit, weil es ein historischer Tag ist: Der Tag nach jener Bundestagswahl, bei der zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik nicht mehr Union und SPD die beiden größten Fraktionen im Parlament bilden werden – sondern eine in Teilen rechtsextreme Partei die zweitstärkste Kraft ist.
Im Thema des Tages ordnen wir ein: Warum es trotzdem – oder gerade jetzt – Anlass zur Hoffnung gibt.
Außerdem im SPOTLIGHT: In einer besonderen „Werkbank“ schreiben die Leiter all der mit CORRECTIV verbundenen Exil-Redaktionen – unter anderem aus der Türkei und Russland: Wie blicken sie auf die Wahlergebnisse bei uns? Woran fühlen sie sich erinnert? In der Rubrik „Bundestagswahl-Spezial“ zeigt das Faktencheck-Team, welche Falschbehauptungen am Wochenende im Zusammenhang mit der Wahl kursierten.
Wir wollen heute von Ihnen wissen: Wie blicken Sie auf das Wahlergebnis, beunruhigt oder erleichtert? Was macht Ihnen Hoffnung daran – und was bereitet Ihnen Sorge? Machen Sie hier mit, per Klick aufs Bild:
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Der Tag auf einen Blick: Das Wichtigste
Bundestagswahl-Spezial: Diese Falschmeldungen prägten die Bundestagswahl 2025
Faktencheck: Bundestagswahl 2025: Mit Bleistift abgegebene Stimmen sind gültig
CORRECTIV-Werkbank: Perspektiven unserer Exil-Redaktion zum Wahlergebnis
Die beste Nachricht des gestrigen Abends zuerst: Seit der Wiedervereinigung gingen nie so viele Menschen zur Bundestagswahl, es waren etwa 83 Prozent der 59,2 Millionen Wahlberechtigten. (Andererseits kann man sich auch fragen, weshalb 17 Prozent bei einer Schicksalswahl wie dieser nicht zur Wahl gingen. Das waren immerhin etwa zehn Millionen Leute).
Dennoch: Die Menschen im Land sind im Schnitt wieder politischer geworden – die meisten teilen offenbar die Einschätzung, dass es um sehr viel geht. Dazu gehört auch die Lage der Ukraine, die in den folgenden Wochen für uns bestimmend sein wird. Auf der anderen Seite die zündelnde Trump-Truppe. Selten hat die Weltpolitik eine Wahl so mitbeeinflusst.
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Trotzdem bleibt unter dem Strich die schale Erkenntnis, dass die AfD, eine in Teilen gesichert rechtsextreme Partei, jetzt die zweitstärkste Kraft im Bundestag ist (auch aufgrund vieler bisheriger Nicht-Wähler). Ein paar Einordnungen zur Bedeutung dieser Wahl:
Hauch im Nacken der Parlamentarier:
Gestern Abend wiederholte AfD-Chefin Alice Weidel jene Parole, die ursprünglich von ihrem Vorgänger Alexander Gauland stammte: Man werde die anderen Bundestagsabgeordneten in der kommenden Legislaturperiode „jagen“. Was sie damit konkret meint, kennen die Parlamentarier schon aus den letzten Jahren, es wird jetzt aber wohl deutlich zunehmen:
Mit etwa doppelt so vielen AfD-Abgeordneten wie bisher, voraussichtlich 152, wird sich die Atmosphäre im Parlament verschärfen: Die AfD’ler werden stören, sie werden die anderen Abgeordneten bei ihren Reden im Plenum auslachen und ausbuhen, man wird sich an eine noch ruppigere Umgangsweise gewöhnen müssen. Die AfD wird diese Wahlperiode ganz einfach als langen, ausgedehnten Wahlkampf für die nächste Bundestagswahl begreifen, in der sie so viel Stunk macht, wie es geht.
Und auch in den Bundestagsgebäuden wird sich das Klima ändern, weil all die neuen AfD-Abgeordneten jeweils eine handvoll Mitarbeiter anstellen dürfen. Die Partei wird also deutlich stärker als bisher das Bild im politischen Berlin prägen.
Ende der „Großen Koalition“:
Union und SPD werden aller Voraussicht nach gemeinsam die neue Regierung bilden. Es ist die einzige Option, wenn man davon ausgeht, dass CDU und CSU Verhandlungen mit der AfD komplett (und damit auch für eine Minderheitsregierung) ausschließen. Aber: Von einer „Großen Koalition“ kann man eigentlich nicht mehr sprechen, denn die SPD gehört ja nun nicht mehr zu den beiden größten Parteien.
Wir müssen uns als Land daran gewöhnen: Der gestrige Abend hat eine tektonische Plattenverschiebung im Parlament gebracht.
Bewährungsprobe für die anderen Parteien:
Diese Plattenverschiebung hat auch ihr Gutes. Die Parteien im demokratischen Spektrum, insbesondere die wahrscheinlichen Regierungsparteien Union und SPD, können und müssen die kommenden vier Jahre als Bewährungsprobe verstehen. Das gilt vielleicht sogar für die Grünen und die Linken, wenn es um eine Reform der Schuldenbremse geht (denn dafür braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit).
Sie müssen jetzt zeigen, dass sie diejenigen Themen wirklich anpacken können, in denen die Unzufriedenheit so vieler Wähler begründet liegt: die wirtschaftliche Lage des Landes, und die Verteidigungsfähigkeit in einem Europa, das sich auf die USA als Partner gegenüber Russland offenbar nicht mehr verlassen kann.
Ukraine: Drei Jahre russischer Angriffskrieg
Am Morgen des 24. Februar 2022 begann Russland eine Invasion, mit dem Ziel, die ukrainische Regierung zu stürzen und das Land zu erobern. Der seit drei Jahren andauernde Krieg hinterlässt Spuren in der Ukraine. Nicht nur in Form von Zerstörung, unzähligen Verletzten und Todesopfern, sondern auch psychisch. Das Volk ist erschöpft. Außerdem: Die EU kündigte weitere Hilfen für das Land an und hat weitere Sanktionen gegen Russland verhängt.
tagesschau.de
BSW plant Bundestagswahl anzufechten – Habeck und Lindner ziehen sich zurück
Das Bündnis Sahra Wagenknecht erreichte nicht die Fünfprozenthürde. Unter anderem sei dafür die angeblich gescheiterte Briefwahl vieler Auslandsdeutscher verantwortlich – deshalb hält Wagenknecht die Wahl für anfechtbar. Derweil kündigte der Grünen-Spitzenkandidat Robert Habeck an, dass er keine Führungsrolle mehr einnehmen möchte. Auch Christian Lindner teilte bereits am Sonntag seinen Rückzug aus der Politik mit, nachdem die FDP es nicht in den Bundestag geschafft hatte.
zeit.de
Leak: Unternehmen müssen wohl bald weniger auf Menschenrechte und Klimaschutz achten
CORRECTIV hat bereits vor zwei Wochen darüber berichtet, wie deutsche Lobbyverbände versuchen, das europäische Lieferkettengesetz zu ihren Gunsten aufzuweichen. Anscheinend mit Erfolg: Ein durchgesickertes Dokument der EU-Kommission zeigt Pläne, die Haftungs- und Klimaschutzvorgaben in der Lieferkette zu lockern, um die Kosten für europäische Unternehmen zu senken.
taz.de
Investigativ: Fragwürdige Spender einer Deepfake-Porno-App an Opferhilfe
Mit „Clothoff“ können Nacktbilder generiert werden, indem sie mithilfe von künstlicher Intelligenz Kleidung von Fotos entfernt. Die Betreiber der App behaupten, dass sie eine Organisation unterstützen, die Betroffenen dieser KI-Pornografie hilft. Recherchen von Bellingcat zufolge ist das jedoch nicht belegbar.
bellingcat.com
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Bundestagswahl-Spezial
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Stehen Wahlen an, ist Desinformation nicht weit. So auch in den Wochen vor der Bundestagswahl 2025: Da waren Fakes rund um Migration, die Energiewende oder den Ukraine-Krieg, aber auch Kandidierende, die mit falschen oder irreführenden Zahlen argumentierten – und nicht zuletzt gab es versuchte Einflussnahme aus Russland. CORRECTIV.Faktencheck gibt den Überblick.
CORRECTIV.Faktencheck (Hintergrund zur Bundestagswahl 2025)
Übrigens: Eine Übersicht über die gängigsten Desinformations-Narrative, die immer wieder auftauchen, und Strategien dagegen gibt es hier:
CORRECTIV.Faktencheck (Hintergrund zu Wahlen)
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Online kursiert ein Foto, das vermeintlich eine Wahlkabine in München zeigt. Weil dort ein Bleistift ausliege, warnen Nutzerinnen und Nutzer vor Wahlbetrug. Doch das Foto zeigt keinen Bleistift und unabhängig davon können auch Bleistifte bei der Stimmabgabe genutzt werden.
CORRECTIV.Faktencheck
Endlich verständlich
Das neue Wahlrecht hat dafür gesorgt, dass der Bundestag wieder kleiner geworden ist. Allerdings hat es auch eine Kehrseite: Einige Direktkandidaten ziehen nicht in den Bundestag ein, obwohl sie ihren Wahlkreis gewonnen haben. Wer betroffen ist, erklärt das ZDF.
zdf.de
So geht’s auch
Wien legt vor: Als erstes österreichisches Bundesland bindet es sich per Gesetz an die Klimaziele. Bis 2040 soll Wien klimaneutral sein.
derstandard.at
Fundstück
Auch gestern gab es sie wieder – die Elefantenrunde, bei der noch am Wahlabend die Spitzenvertreterinnen und -vertreter der Parteien aufeinandertreffen und das Ergebnis kommentieren. In der Vergangenheit liefen diese Termine allerdings nicht immer glatt. Besonders in Erinnerung: ein allzu selbstsicherer Gerhard Schröder und ein offenbar angetrunkener Franz Josef Strauß.
deutschlandfunk.de
Nach den deutschen Wahlen hatte ich ein Déjà-vu, es erinnert mich an die Slowakei. Die AfD, nun zweitstärkste Partei, wird von Misserfolgen anderer profitieren und die politische Landschaft verändern. Wie in der Slowakei wird die AfD von der Relativierung von Hassreden und einem zunehmenden Misstrauen in der Gesellschaft hinsichtlich ihrer Zukunft profitieren. Die deutsche Gesellschaft steht nun an einem Scheideweg. Sie muss sich entscheiden: die demokratischen Werte und das Gemeinwohl bewahren oder der Konformität zu erliegen – und ihre Rechte für den Reiz des russischen Gases, der chinesischen Chips und der amerikanischen neokolonialen Politik opfern.
Der Vergleich der deutschen Wahlen mit der politischen Landschaft der Türkei offenbart wichtige Lektionen: Der Ausschluss einer anti-demokratischen Partei kann riskant sein; wenn etablierte Parteien schwächeln, entsteht ein Vakuum, das andere, wie Erdoğan in der Türkei, füllen können. Parteien, die in der Vergangenheit gegen die AfD waren, laufen Gefahr, ihre Politik zu imitieren und dadurch ihre Ideen zu legitimieren, was auch in der Zukunft ein Risiko darstellen könnte. Zudem zeigt die Wahlkarte ungelöste Probleme in Ostdeutschland; wachsende Sicherheitsbedenken erschweren das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit. Wenn Parteien dies nicht bewältigen, verlieren sie an Boden gegenüber jenen, die „weniger Freiheit für mehr Sicherheit“ fordern. Die Verteidigung der Demokratie – in Solidarität – ist wichtig, aber es bedarf auch Lösungen für den Änderungsbedarf der Menschen.
Als ein im Exil lebender Russe bin ich beeindruckt. Eine Wahlbeteiligung von 83 Prozent, frei von Zwang oder Betrug, sieht nach einem Fest der Demokratie aus. Aber ich bin auch besorgt, dass Frustration und Unzufriedenheit vorherrschen könnten. Kann eine Regierung, die auf einer Koalition einer unsicheren Mehrheit basiert, entscheidende politische Maßnahmen umsetzen? Wird sie die richtige Botschaft und Lösungen finden, um zu verhindern, dass weitere Wähler zur AfD abwandern? Die zentrale Herausforderung sind dringende Reformen. Deutschland muss in der Lage sein, dem Druck von Putin im Osten und jetzt Trump im Westen standzuhalten und die Demokratie zu bewahren. Putin könnte versuchen, Deutschland mit dem gleichen Deal zu verführen, den er auch Trump anbietet. Wird die neue Regierung in der Lage sein, solch einer Versuchung zu widerstehen? Die Wahlversprechen der Gewinner bieten etwas Hoffnung. Ich hoffe, sie halten sie ein.
Die deutschen Wahlen werden sich auf afghanische Flüchtlinge und die Diaspora in Deutschland auswirken, von denen viele Angst vor Einschränkung beim Asylrecht haben. Diejenigen, die vor den Taliban fliehen, sowie die, die in Pakistan oder Iran gestrandet sind, sind von Abschiebung in das von den Taliban kontrollierte Afghanistan bedroht. Die afghanische Diaspora hat erheblich zur deutschen Wirtschaft beigetragen. Die neue Regierung muss ihr generationsübergreifendes Trauma anerkennen und eine Politik sicherstellen, die diejenigen unterstützen, die unvorstellbare Not erlitten haben – anstatt sie zu bestrafen. Afghanen benötigen Schutz und Stabilität, nicht weitere Vertreibung und Unsicherheit.
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Die AfD ist bundesweit zweitstärkste Kraft geworden. Allerdings fallen die Ergebnisse innerhalb Deutschlands extrem unterschiedlich aus. In allen ostdeutschen Bundesländern (außer Berlin) landete die in Teilen rechtsextreme Partei auf Platz eins, mitunter mit sehr großem Abstand. Mit Gelsenkirchen und Kaiserslautern gewann sie zudem zwei westdeutsche Wahlkreise nach Zweitstimmenanteilen für sich.
Wie sehr sich die politische Landschaft verändert hat, zeigt der Vergleich mit der vorigen Bundestagswahl.
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An der heutigen Ausgabe haben mitgewirkt: Robin Albers, Till Eckert, Sebastian Haupt und Jule Scharun.
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