Liebe Leserinnen und Leser,
heute vor einem Jahr um diese Zeit, also am frühen Abend des 10. Januar 2024, war hier bei uns in der Berliner CORRECTIV-Redaktion Ausnahmezustand. Wir hatten an dem Morgen einen Text veröffentlicht, von dem wir natürlich gehofft hatten, dass ihn viele andere Nachrichtenportale, Zeitungen und Fernsehsender aufgreifen würden. Und dann überrannten sie uns mit Interview-Bitten. Fernsehteams standen in unserer Redaktion Schlange, es war total irre.
Denn das Thema war und ist extrem relevant. Führende Figuren der AfD hatten mit Neonazis und mit potenziellen Geldgebern zusammengesessen – und ernsthaft darüber diskutiert, wie man Millionen anderer Deutscher aus dem Land vertreiben könnte.
Was am Tag der Veröffentlichung passierte, würde ich im Nachhinein so beschreiben: Wir wurden von einer riesigen Welle überspült. Einer Welle der Aufmerksamkeit, die über unseren Köpfen hereinbrach –und die bis heute nicht abgeebbt ist. Die Welle brachte viel Liebe und positive Aufmerksamkeit, sie brachte aber auch enorme Belastung: rechte Shitstorms, persönliche Beleidigungs-Angriffe auf Mitarbeiter (auch auf mich).
Und sie hat uns als vergleichsweise kleine Redaktion ungeplant in eine neue Rolle geworfen: Heute kennt eigentlich jede und jeder im Land CORRECTIV, jeder hat eine Meinung über uns, und mittlerweile werden wir ständig dazu aufgefordert, uns zu allen möglichen politischen Fragen öffentlich zu äußern – fast so, als wären wir Politiker. Ich will mich über die Aufmerksamkeit nicht beschweren, im Gegenteil. Aber: Sie ist auch anstrengend. Nicht nur für uns in der Chefredaktion, sondern für alle, die bei CORRECTIV arbeiten.
Im Thema des Tages geht es darum, was sich seit der Veröffentlichung in Deutschland verändert hat. Eine Sache vorweg: Geändert hat sich, dass die Rechtsaußen-Vertreter in der Politik sich heute deutlich weiter vorwagen. Zum Beispiel Alice Weidel. Die AfD-Chefin war gestern Abend bei X-Chef Elon Musk zum Live-Gespräch eingeladen. Und behauptete dort doch tatsächlich: Hitler sei kein Nazi gewesen. Sondern Kommunist. Mich erinnerte das an dieses Cover der Satirezeitschrift Titanic von 2002: „Schrecklicher Verdacht: War Hitler Antisemit?“
Die E-Mails unserer Leser, die das Gespräch zwischen Weidel und Musk angeschaut haben, waren im Tenor alle gleich: Es sei ein peinlicher Auftritt gewesen, der vielleicht dazu führen könnte, dass Musk wieder von der AfD abrückt.
Heute Abend feiern wir von CORRECTIV in Hamburg ein großes Fest für Vielfalt und Demokratie – als Teil unserer Tournee „Schwarz-Rot-Braun“. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende! anette.dowideit@correctiv.org.
Thema des Tages: Ein Jahr nach Potsdam
Der Tag auf einen Blick: Das Wichtigste
Faktencheck: Keine „Ostdeutschland“-Rufe von Menschenmasse: Falsche Audiospur bei Tiktok-Video
CORRECTIV-Werkbank: Trumps Grönland-Fantasien: Was die Menschen dort ausmacht
Grafik des Tages: Rückblick: Deutschlandweite Demos gegen Rechtsextremismus
Was hat sich seit – und zum Teil auch durch – unsere Recherche zum Geheimtreffen in Potsdam getan? Ein Überblick:
Menschen aktiv gegen Rechtsaußen:
Es gab die größte Welle an Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik. SPOTLIGHT-Redakteur Sebastian Haupt hat für die heutige Grafik des Tages einen Überblick erstellt, siehe weiter unten.
Medien aktiv gegen Rechtsaußen:
Natürlich haben schon vorher einige Redaktionen intensiv über Rechtsextremismus, Rechtspopulismus und insbesondere die AfD recherchiert. Aber: Seit dem vergangenen Januar wurden insbesondere die Lokalmedien stark aktiv. Über unser bundesweites Netzwerk CORRECTIV.Lokal kamen seither enorm viele weitere Schweinereien von Rechtsaußen ans Licht. Mein Kollege Jonathan Sachse hat sie hier zusammengetragen.
Andere Medien dagegen: Kill the Messenger
Ich habe es weiter oben schon angeschnitten: Seit der Veröffentlichung stehen wir als Redaktion unter Dauerbeschuss. Rechtspopulistische Medien, die AfD, rechtsaußengesteuerte Chatgruppen und Rechtsanwälte der AfD streuen gezielt Falschinformationen über uns – mit dem Ziel, uns als unglaubwürdig darzustellen. Also den Überbringer einer Nachricht ins Zentrum des Interesses zu rücken und so von der eigentlichen Nachricht (Vertreibungspläne für Millionen von Menschen) abzulenken.
Und diese Strategie verfängt zum Teil. Gerade auch deshalb, weil Medien, die gerade noch so auf der Kante zwischen konservativ und rechtspopulistisch balancieren (zum Beispiel NZZ, Cicero, Berliner Zeitung und WELT) diese Narrative der Rechtspopulisten aufgreifen.
Jüngstes Beispiel: Die Berliner Zeitung behauptet dieser Tage, unsere Recherche sei widerlegt worden. Das ist zwar kompletter Unsinn, aber dennoch wurde ernsthaft eine Redakteurin der Zeitung losgeschickt, um Olaf Scholz, Nancy Faeser und Frank-Walter Steinmeier zu fragen, ob sie sich jetzt entschuldigen wollten, dass sie uns Glauben geschenkt haben. Immerhin: Alle antworteten stabil, dazu gebe es keinen Grund.
Damit übrigens allen unmissverständlich klar wird, worüber wir hier reden: Wir haben aktuell nochmal die Kernaussagen des Neonazis Martin Sellner per Video zusammengestellt. Also dem Mann, der in Potsdam den „Masterplan“ vorstellte. Und unsere Jugendredaktion Salon5 liefert hier einen Überblick, warum die AfD gar nicht so demokratisch ist, wie sie sich offiziell gibt.
Wird jetzt die AfD verboten?
Man hatte im Laufe des vergangenen Jahres streckenweise das Gefühl, jetzt werde sicher Bewegung in ein AfD-Verbot kommen. Aber: Es ist nach wie vor kein Verbotsverfahren angestrengt worden.
Das liegt unter anderem daran, dass der Verfassungsschutz sein Gutachten über die AfD (ist sie als Gesamtpartei rechtsextrem oder nicht?) offenbar noch immer nicht fertiggestellt hat. Wir hatten ja vor ein paar Wochen versucht, das Gutachten zu bekommen – unter anderem mit Anklopfen vor der Tür des Verfassungsschutzes. Und als Antwort gab es die ernüchternde Auskunft: Wir sind noch nicht so weit.
An diesem Wochenende trifft sich die AfD übrigens zum Parteitag in Riesa. Wir von CORRECTIV sind vor Ort (obwohl die AfD uns erst nicht reinlassen wollte). Wir berichten.
Elon Musk und Alice Weidel bald zusammen beim Springer-Speed-Dating?
Erst gestern trafen die AfD-Spitzenkandidatin und der US-Milliardär im virtuellen Space auf X aufeinander (Empfehlung dazu: Faktencheck vom RND). In wenigen Wochen könnten sie ihr Gespräch face-to-face fortführen. Laut Spiegel-Informationen sollen beide zu einem Wirtschaftsgipfel der Welt eingeladen werden.
spiegel.de (€)
Los Angeles: Mittlerweile zehn Menschen durch Brände gestorben
Über 9.000 Gebäude gelten als zerstört, und mindestens 130.000 Bewohner sind zur Evakuierung aufgerufen. Die verheerenden Feuerstürme in Kalifornien nehmen kein Ende. Die Los Angeles Times berichtet live über die neuesten Entwicklungen.
latimes.com
Lokal: AfD in Sachsen könnte weiter den Verfassungsschutz kontrollieren
Bald werden die fünf Abgeordneten für das Aufsichtsgremium der Behörde im Landtag Sachsen gewählt. Das Problem: Der sächsische AfD-Landesverband wurde im Dezember 2023 vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft. Und eigentlich stünde der AfD ein Sitz zu.
saechsische.de
Analyse: 2024 war das wärmste Jahr seit 1850
Laut dem Copernicus-Klimareport lag die globale Durchschnittstemperatur erstmals 1,6 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau. Es ist ein Signal für die Dringlichkeit, den Klimaschutz zu verstärken, um extreme Wetterereignisse wie Überschwemmungen und ungewöhnliche Hitze in Europa zu begrenzen.
tagesschau.de
Leserfrage der Woche
Leser Christian S. aus Singen in Baden-Württemberg hat uns gefragt:
„Die AfD erhält staatliche Fördermittel, zudem sind Mitgliedsbeiträge sowie Spenden steuerlich begünstigt. Die Landesverbände in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen gelten laut Verfassungsschutz als ‚gesichert rechtsextremistisch‘. Reicht das, um sie von staatlicher Finanzierung und Steuervorteilen auszuschließen?“
Die Parteienfinanzierung ist im Parteiengesetz geregelt, umgesetzt wird sie von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) und der Bundestagsverwaltung. Auf eine Anfrage von CORRECTIV verweist der Bundestag auf das Bundesverfassungsgericht – denn es entscheidet alleine darüber, ob eine Partei als verfassungswidrig gilt und damit von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen werden kann (Artikel 21 Absatz 4 Grundgesetz).
„Was die Verfassungsschutzbehörden entscheiden, ist insofern irrelevant“, sagt Sophie Schönberger, Rechtswissenschaftsprofessorin an der Universität Düsseldorf. Sie merkt auch an, dass das Bundesverfassungsgericht nur auf Antrag tätig wird. Dazu sind der Bundestag, der Bundesrat und die Bundesregierung berechtigt – getan haben sie das bislang jedoch nicht. Diese Hürde, dass eine Feststellung durch den Verfassungsschutz eben nicht genügt, soll Parteien davor schützen, dass sie nicht wie Vereine einfach von Behörden verboten werden können, ergänzt Gertrude Lübbe-Wolff, ehemalige Richterin am Bundesverfassungsgericht.
Um gegen verfassungsfeindliche, aber nicht verbotene Parteien vorgehen zu können, wurde im Sommer 2017 der Finanzierungsausschluss ins Grundgesetz aufgenommen. Denn Anfang 2017 hatte das Bundesverfassungsgericht einen Verbotsantrag für die NPD (inzwischen Die Heimat) zurückgewiesen, da sie zwar verfassungsfeindlich, aber politisch bedeutungslos sei. 2024 wurde sie nach einem weiteren Verfahren schließlich für sechs Jahre von der Parteienfinanzierung ausgeschlossen. Bei der AfD gebe es jedoch keinen Grund, sich nur auf den Finanzierungsausschluss zu beschränken, meint Lübbe-Wolff. Wenn ein Antrag beim Bundesverfassungsgericht gestellt wird, wäre demnach bei der AfD „nur ein Verbotsantrag konsequent“, so die frühere Richterin.
Ob den als gesichert rechtsextremistisch eingestuften AfD-Landesverbänden der staatliche Geldhahn zugedreht werden kann, ist unklar. Per Gesetz gelten Parteien als eine Einheit – die Fördermittel fließen über die Bundesverbände. Zwar können auch Teile einer Partei gerichtlich als verfassungswidrig festgestellt werden (§ 46 Absatz 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz) – ein Verbotsverfahren wäre also möglich, wenn auch laut Lübbe-Wolff umstritten und gerichtlich bisher nicht geklärt. Eine gesetzliche Grundlage für eine solche Beschränkung bei der Parteienfinanzierung fehlt allerdings. Sophie Schönberger geht jedoch davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht einen solchen Antrag akzeptieren würde – aber der müsste eben auch erst gestellt werden.
Millionenfach wurde ein Tiktok-Video angesehen, das eine Menschenmasse zeigt, die „Ost, Ost, Ostdeutschland“ ruft. Doch die Tonspur wurde nachträglich hinzugefügt. Das Video zeigt etwas völlig anderes.
CORRECTIV.Faktencheck
Endlich verständlich
Die bevorstehenden Neuwahlen haben viele überrascht – besonders die Helferinnen und Helfer im Wahlkampf. Einer von ihnen ist Etienne, 17 Jahre alt und Mitglied der Schülerunion, einer Jugendorganisation der CDU/CSU. Im Gespräch mit unserer Jugendredaktion Salon5 erzählt er, was ihn im Wahlkampf erwartet, wie der Wahlkampf überhaupt funktioniert und welche Herausforderungen ihn auch stressen.
Salon5 (Interview)
So geht’s auch
Frauenhäuser sollen vor häuslicher Gewalt schützen. Aber deutschlandweit gibt es zu wenige Plätze, viele Einrichtungen arbeiten außerdem am finanziellen Limit. Thüringen macht es nun anders und räumt Frauen einen Anspruch auf einen Schutzplatz ein – finanziert über das Land.
wdr.de
Fundstück
Ein Stück Musikgeschichte offenbar versehentlich vernichtet: Das Haus, in dem die Brüder Malcolm und Angus Young ihre Kindheit verbracht haben und die legendäre Band AC/DC gründeten, gibt es nicht mehr. Es stand zwar auf einer Liste national historisch bedeutsamer Gebäude Australiens, aber die Baufirma hat nach eigener Aussage davon nichts gewusst. heraldsun.com.au / spiegel.de
Tikilluarit heißt „Willkommen” auf Kalaallisut – die Sprache, die die meisten der 60.000 Grönländerinnen und Grönländer sprechen. Als ich vor einigen Monaten im Süden Grönlands unterwegs war, habe ich dieses Wort sehr häufig gehört.
Grönland ist die größte Insel der Welt, nur die eisfreien Küstenstreifen sind dauerhaft besiedelt. Aber selbst die sind noch so groß wie Schweden. Menschen werden deshalb immer willkommen geheißen, egal ob einheimisch oder fremd.
Als meine Mitreisenden und ich zum Halbmarathon nach Tasiussaq (30 Seelen) wollten, steuerte Organisator Karta mit dem eigenen Motorboot durchs dichte Packeis, um uns abzuholen. Und räumte sein Haus für uns.
Solche Freundlichkeit ist uns in Mitteleuropa fremd. Manch einer mag sie mit Naivität verwechseln. Doch die grönländische Bevölkerung ist nicht naiv. Sie weiß, dass ihre Heimat dank Rohstoffvorkommen und strategischer Lage für andere Staaten und deren Unternehmen immer attraktiver wird. Und sie wehrt sich dagegen, fremdbestimmt zu werden. Die grönländische Flagge zeigt eine über dem Eis aufgehende Sonne, sie ist überall zu sehen. Den Danebrog dagegen sah ich nirgendwo (die Stars and Stripes natürlich auch nicht), und mein mühsam rausgekramtes Dänisch sprachen auch nur dänische Zuwanderer. Die Rockband sang zum grönländischen Nationalfeiertag (natürlich) auf Kalaallisut.
Grönland glaubt an seine Zukunft – in eigener Verantwortung. Die Grönländer, die ich getroffen habe, finden es mit Sicherheit absurd, dass Donald Trump ihr Land erobern will. Gefragt hat sie bisher niemand. Die Fähren nach Tasiussaq fahren erst wieder im Juni – vorausgesetzt, das Packeis taut.
Millionen von Menschen gingen letztes Jahr im Anschluss an die veröffentlichte Geheimplan-Recherche auf die Straßen, um gegen Vertreibungsphantasien und Rechtsextremismus zu demonstrieren. Die Grafik des Tages zeigt die Demo-Orte, die wir zwischen Januar und März dazu erfasst haben. Dabei stechen auch Regionen heraus, in denen die AfD stark ist. Setzt man etwa die Zahl der Protestierenden mit der Bevölkerungszahl ins Verhältnis, waren in Sachsen besonders viele Menschen auf der Straße – nur übertroffen von den Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin.
An der heutigen Ausgabe haben mitgewirkt: Robin Albers, Till Eckert und Sebastian Haupt.
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