
Liebe Leserinnen und Leser,
ein mehr als fragwürdiger Rohstoff-Deal mit der Ukraine; eine russlandnahe UN-Resolution (wir berichteten); und zuletzt fabulierte US-Präsident Trump, Europa sei gegründet worden, um die USA übers Ohr zu hauen. Auf dem Kurzprotokoll der letzten Tage stehen gewaltige Zumutungen. Die wichtige Botschaft daraus ist: Statt weltpolitischer Verantwortung gibt es bei den USA nun Deals nach Gutdünken, statt Herrschaft des Rechts verschiebt sich der internationale Kompass weiter Richtung Recht der Stärkeren.
Was genau heißt das jetzt für Europa? Darum geht es im Thema des Tages.
Außerdem im SPOTLIGHT: In Österreich bahnt sich fünf Monate nach der Wahl eine neue Regierung an. Und: Im Schatten der Präsidentschaft Trumps breiten sich autoritäre und rechtspopulistische Strategien in Europa aus, sie machen auch vor der Schweiz nicht Halt.
Ich vertrete heute meine Kollegin Anette Dowideit, schreiben Sie mir gern unter sebastian.haupt@correctiv.org.
Thema des Tages: Europa (unsicher) allein zu Haus?
Der Tag auf einen Blick: Das Wichtigste
Bundestagswahl-Spezial: Handeln statt Versprechen – Ihre Erwartungen an die neue Bundesregierung
CORRECTIV-Werkbank: Die Schweizer FDP flirtet mit den Autoritären
Grafik des Tages: Diese Partei hat die meisten Wähler an die AfD verloren
Die Ereignisse der letzten Wochen kündigen einen Wandel in der Weltpolitik an. Für Europa lautet die Kernbotschaft: Es wird mehr für seine eigene Sicherheit tun müssen. Aber was heißt das genau? Welche Fragen jetzt zu klären sind:
Ukraine-Unterstützung und Sicherheitsgarantien:
Ob der neue US-Kurs wirklich auf absehbare Zeit einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine fördert, ist vollkommen offen. Die europäischen Partner müssen dringend klären: Kann und will Europa einen möglichen Wegfall der US-Hilfen kompensieren? Bisher agierte Deutschland bei Fragen der Unterstützung ohne die USA extrem zögerlich. Wird sich das ändern? Darum wird es auch auf dem Sondergipfel am Wochenende in London gehen.
Langfristig aber ist die Kernfrage diejenige nach Sicherheitsgarantien. Das bedeutet: Käme es zu einem Waffenstillstand, wie schreckt man Putin vor weiteren Aggressionen ab? Etwa durch weitreichende Abkommen, eine potenzielle EU-Mitgliedschaft der Ukraine oder sogar Friedenstruppen in der Ukraine? Trump signalisiert: Das ist ein Problem der Europäer.

Europäische Verteidigung:
Auf die Rückkehr von Donald Trump wirkte die europäische Politik seltsam unvorbereitet. Nach seinen ersten Monaten im Weißen Haus heißt die Frage klar: Kann sich der europäische Teil der NATO gegen mögliche Aggressionen selbst verteidigen, wenn auf die USA kein Verlass ist? Und: Was wird das kosten?
Zu diesem Punkt erreichen uns auch immer wieder Mails von Leserinnen und Lesern, die damit Bauchschmerzen haben oder das als Angstmache bezeichnen. Das Problem an Sicherheitspolitik: Sie ist in die Zukunft gerichtet und so lange abstrakt, bis ein Konflikt ausbricht. Wer dann unvorbereitet ist, kommt zu spät. So glaubte lange kaum jemand hierzulande, dass Russland eine Invasion in die Ukraine wagen würde.
Zudem ist Deutschland bereits heute Ziel verdeckter Operationen, vor allem aus Russland. Das zeigen unsere Recherchen zu versuchter Wahlbeeinflussung (hier) ebenso wie zu möglichen Spionagedrohnen (hier).
Ausrüstung der Bundeswehr und Wehrpflicht
Die Bundeswehr ist nur bedingt einsatzfähig, trotz der 100 Milliarden Euro (Stichwort Zeitenwende). Fachleute werben für eine gehörige Aufstockung. Auch die Frage nach einer Wehrpflicht wird an Relevanz gewinnen.
Was hat das alles mit der Bundestagswahl zu tun?
Der konkrete Kern: Wie soll das alles finanziert werden? Die Mehrheitsverhältnisse im kommenden Bundestag lassen wenig Spielraum. Linke (gegen eine pauschale Aufrüstung der Bundeswehr) und AfD (russlandnahe Außenpolitik) haben mit gemeinsam 216 der 630 Parlamentssitze eine Sperrminorität. Entscheidungen, für die eine Zweidrittelmehrheit nötig ist – wie ein weiteres Sondervermögen der Bundeswehr, das derzeit debattiert wird – dürften schwierig werden. Mehr dazu in unserer Kategorie „Endlich verständlich“.
Meine Kollegen Marcus Bensmann und Niclas Fiegert haben analysiert, ob sich bei AfD und Linken Abgeordnete finden lassen, die gegen ihre Parteilinie stimmen könnten. Das Resultat: Es sind zu wenige (zum Artikel).
Das heißt: Union und SPD müssen sich als wahrscheinliche Koalitionspartner frühzeitig einigen. Soll noch im alten Bundestag ein Sondervermögen beschlossen oder die Schuldenbremse reformiert werden? Bislang dominiert ein Hin und Her, handlungsfähig ist Deutschland damit nicht. Finden sie nicht bald zusammen, hat eine neue Koalition das gleiche Problem wie die Ampel: Sie müssen woanders Mittel streichen, um die sicherheitspolitischen Herausforderungen zu meistern. Verteilungskampf vorprogrammiert.
Österreich: Schwarz-Rot-Pinke Regierung stellt Programm vor
Fünf Monate nach der Wahl sieht es so aus, als ob eine Koalition zustande kommt. Die konservative ÖVP, die sozialdemokratische SPÖ und die liberalen Neos haben ihr Regierungsprogramm vorgestellt. Unter anderem soll es eine Mietpreisbremse und ein verschärftes Asylrecht geben. Hundertprozentig sicher ist die Regierungsbildung allerdings noch nicht.
derstandard.at
Witwe von Walter Lübcke kritisiert Friedrich Merz
Irmgard Braun-Lübcke, die Frau des von einem Rechtsextremisten erschossenen Kasseler CDU-Regierungspräsidenten, findet die Aussagen des CDU-Chefs befremdlich. Merz hatte kurz vor der Bundestagswahl auf einer Veranstaltung in München behauptet, dass sich linke und liberale Gruppen nicht für den Mord an Walter Lübcke interessiert hätten. Seine Witwe sieht das anders – und es gibt sogar juristische Belege, die Merz Aussagen widerlegen.
zeit.de
Anfrage im Stadtrat Leipzig zeigt, dass syrische Staatsangehörige längst integriert sind
Im Bundestagswahlkampf wurde viel über Migration und nicht integrierte Geflüchtete gesprochen. Zahlen aus Leipzig zeigen, dass die meisten arbeiten, viele davon sogar in systemrelevanten Berufen. Weshalb es „spürbare Auswirkungen auf die Stadt“ haben würde, wenn sie „heute auf morgen ausreisen oder zurückgeschickt werden“, so eine FDP-Politikerin.
l-iz.de
Das ist bei der Briefwahl aus dem Ausland schiefgelaufen
Viele Auslandsdeutsche, die an der Bundestagswahl teilnehmen wollten, haben ihre Briefwahlunterlagen zu spät erhalten. Auch einige SPOTLIGHT-Leserinnen und Leser haben sich deshalb bei uns gemeldet. Die Süddeutsche Zeitung und der NDR haben herausgefunden, dass das Problem oftmals bei den Kommunen angefangen hat.
tagesschau.de
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Bundestagswahl-Spezial
Was sind Ihre Wünsche an die neue Regierungskoalition? Diese Frage haben wir unseren Leserinnen und Lesern in der wöchentlichen Umfrage gestellt. Innenpolitisch vorn steht die Hoffnung nach Stabilität und Sicherheit in Deutschland. Doch zugleich weisen viele auf die Bedeutung von Sozial-, Klima- und Bildungspolitik hin und betonen, dass diese Politikfelder nicht in den Hintergrund gestellt werden dürfen.
Insgesamt wird deutlich: Die meisten wünschen sich vor allem ein schnelles Handeln der neuen Regierung, nicht nur innenpolitisch, sondern auch außenpolitisch.
Bezüglich der Außenpolitik erwarten unsere Leserinnen und Leser eine gewisse Kommunikationsfähigkeit der neuen Regierungskoalition, dies könnte wichtig bei Gesprächen mit den USA sein. Aber auch untereinander sollten die Parteien Kompromissbereitschaft zeigen können – etwas, das bei der Ampel zuletzt nicht mehr möglich war. Außerdem wird ein entschlossener Umgang mit populistischen Tendenzen gefordert, unsere Leserinnen und Leser wünschen sich diesbezüglich eine klare Abgrenzung von solchen Tendenzen.

Einen Tag nach der Bundestagswahl berichtet das rechtspopulistische Internetportal Nius, der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz überlasse das Innenministerium der SPD. Nius bezieht sich dabei auf eine Meldung der Deutschen Presse-Agentur, doch die hat es nie gegeben.
CORRECTIV.Faktencheck
Endlich verständlich
Friedrich Merz müsste für wichtige Gesetze in Zukunft mit der Linken oder der AfD zusammenarbeiten. Das liegt an der sogenannten „Sperrminorität“. Denn für wichtige Gesetze benötigt die zukünftige Regierung mehr Stimmen als Union, SPD und Grüne zusammen haben. Aber: Eine Zusammenarbeit mit der AfD hat Merz ausgeschlossen, auch mit der Linken wollen die Konservativen nicht kooperieren. Deswegen überlegen manche Parteien jetzt, noch schnell im alten Bundestag bestimmte Gesetze zu beschließen oder zu ändern. Warum das so ist, erklärt unsere Jugendredaktion Salon5.
Instagram (Salon5)
So geht’s auch
Das Streusalz für den Winter bringt Umweltprobleme mit sich. Eine mögliche Alternative: Gurkenwasser.
srf.ch
Fundstück
Wie gelingt das perfekte Frühstücks-Ei? Mit dieser Frage haben sich Forschende aus Italien auseinandergesetzt – und angeblich eine Lösung gefunden. Den Hintergrund erklären sie im Interview.
t3n.de
Schweizer Regierungs- und Parlamentsmitglieder der FDP flirten mit Trump, Vance und Milei. Als oft genannte Vorzeige-Demokratie ist es bedenklich, wenn autoritär auftretende Regierungen Zuspruch von der Schweiz erhalten.
Die liberale Finanzministerin Karin Keller-Sutter bezeichnete die Rede des US-Vizepräsidenten J.D. Vance an der Sicherheitskonferenz in München als „Plädoyer für die direkte Demokratie.“
Fast gleichzeitig „begrüßt“ das Außendepartement unter der Leitung von Ignazio Cassis (FDP) die Friedensgespräche der USA mit Russland. Dabei diskutieren Donald Trump und Wladimir Putin, wie es mit der Ukraine weitergehen soll. Was Selenskyj beziehungsweise die Ukraine will, bleibt außen vor.
Kurz davor geriet der Ständeratspräsident Andrea Caroni (FDP) in Kritik. Das Schweizer Parlament besteht aus Stände- und Nationalrat, beide Räte haben einen Präsidenten. Kritisiert wurde Caroni, weil er ein Bild von sich auf Instagram mit dem argentinischen Präsidenten Javier Milei teilte. Sie trafen sich in Zürich, als Milei den Röpke-Preis für Zivilgesellschaft 2025 des Liberalen Institutes erhielt.
Seit Jahren tritt die FDP populistischer auf. Ihre Taten und Worte senden das falsche Signal innerhalb eines sich nach rechts bewegenden Europas. Sie sind ein Affront gegen alle, die sich für eine starke Demokratie einsetzen.
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Die AfD hat ihr Ergebnis im Vergleich zur vorigen Bundestagswahl verdoppelt. Die Analysen zur Wählerwanderung zeigen: Sie konnte nicht nur zahlreiche bisherige Nichtwähler für sich gewinnen, sondern hat auch von anderen Parteien kräftig abgeworben. Am meisten von der Union. Obwohl CDU und CSU die stärkste Fraktion sind, konnten sie trotz ihres deutlichen Rechtskurses nicht die AfD-Wähler für sich gewinnen.
Auch bei einigen Konservativen sorgt das Ergebnis für Stirnrunzeln. Der Vorsitzende der Jungen Union forderte eine Aufarbeitung, warum die Partei nicht über 30 Prozent gekommen ist.
faz.de
An der heutigen Ausgabe haben mitgewirkt: Robin Albers, Till Eckert und Jule Scharun.
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