
Liebe Leserinnen und Leser,
vor ein paar Tagen nahm ich, gut gelaunt nach meiner morgendlichen Joggingrunde, mein Handy in die Hand, öffnete (wie leider so oft und reflexartig) die App Instagram – und konnte kaum fassen, was ich sah:
Einen Video-Schnipsel, in dem WELT-Herausgeber Ulf Poschardt über die Linken-Politikerin Heidi Reichinnek herzog. Und zwar kein bisschen inhaltlich, sondern in unterster Stammtisch-Manier: Ihre Tattoos würden „so wirken, als sei es irgendetwas Junges“, in Wahrheit sei Reichinnek aber „schon ranzig geworden“. Und so weiter. Fast 5.600 Leute bei Instagram klickten auf „Like“. Reichinnek reagierte später mit diesem Video.

So viel Menschenverachtung vom Vertreter eines Medienunternehmens, das Abonnements verkaufen will – war das nur ein Ausrutscher oder Geschäfts-Kalkül? Ich vermute Letzteres, schließlich haben die Verantwortlichen für den Instagram-Kanal der Medienmarke ja entschieden, den Schnipsel auf der Plattform hochzuladen.
Spaltung als Geschäftsmodell – darum geht es heute im Thema des Tages. Und Sie können sich beteiligen: mit Ihren Ideen, was dagegen helfen könnte.
Thema des Tages: Geld verdienen mit Hass
Der Tag auf einen Blick: Das Wichtigste
Grafik des Tages: Leistung muss sich wieder lohnen – alte Forderung wieder populär
Thema des Tages
So absurd es für viele klingen mag: Mit Hass, Hetze und Gesellschaftsspaltung lässt sich mittlerweile gutes Geld verdienen. Wir von CORRECTIV wollen gemeinsam mit Ihnen den Blick auf dieses Phänomen lenken – und versuchen, gegenzusteuern.
Wo Geld damit verdient wird:
Vor allem in drei „Branchen“:
- in der Politik, in der populistische Parteien Feindbilder wie „die Migranten“ aufbauen und mit dieser Strategie gute Wahlergebnisse einfahren,
- in Sozialen Netzwerken, wo Algorithmen es mit hoher Reichweite belohnen, wenn man seine Botschaften zuspitzt wie einen Speer,
- in den Medien, wo einige Anbieter offenbar verstanden haben, dass sich Abonnements dann besonders gut verkaufen, wenn man die Vorurteile seiner Zielgruppe immer weiter bedient und sie weiter anheizt.
Fakten spielen in allen drei Fällen keine besonders große Rolle, sie werden schon mal verdreht oder gezielt weggelassen.

Was tun?
Wir von CORRECTIV finden: Im ersten Schritt könnte es helfen, diese Zusammenhänge zu thematisieren, damit den Leuten überhaupt bewusst wird, was hier gerade in unserer Gesellschaft passiert.
Das haben wir heute auf der re:publica gemacht, einem jährlich stattfindenden, mehrtägigen „Festival für die digitale Gesellschaft“ in Berlin, zu dem Tausende Medienschaffende, Digitalexpertinnen und politisch Interessierte kommen.
Wir waren dort mit einer Reihe von Diskussionsrunden und Vorträgen – zum Beispiel haben Justus von Daniels und Sophie Timmermann vorgestellt, wie man Menschen gut zuhört und dadurch der Spaltung entgegenwirkt.
Ein Ansatz, den wir ja auch im SPOTLIGHT täglich verfolgen.
Zuhören? Aber wie?
Darum ging es auch in der Diskussionsrunde, die ich dort heute zusammen mit dem Schriftsteller, Känguruh-Erfinder und kritischen Denker Marc-Uwe Kling moderiert habe: „Geschäftsmodell Gesellschaftsspaltung – geht es heute überhaupt noch anders?“
Unsere Antwort ist natürlich: Ja! (Hoffentlich).
Das Diskutieren wiederentdecken:
Deshalb wollen wir ein neues Projekt starten, und zwar mit Ihrer Unterstützung: Wir wollen ein eigenes CORRECTIV-Debatten-Format starten, bei dem sich Leute mit unterschiedlicher Meinung treffen – und zwar nicht nur online, sondern auch „in echt“.
Auf diese Weise wollen wir mithelfen, dass wir als Land das Diskutieren wieder lernen. Also respektvolles Zuhören, Anerkennen der Argumente der anderen, konstruktive Suche nach gemeinsamen Lösungen.
Das Problem, auf dem wir in der Redaktion schon seit ein paar Monaten herum denken, ist aber: Wie bekommen wir denn diejenigen dazu, mitzudiskutieren, die nicht ohnehin schon in unserer „Bubble“ sind?
Und hier kommen Sie ins Spiel:
Wir brauchen Ihre Einschätzungen und Ideen. Machen Sie bei unserer Umfrage mit – per Klick hier oder aufs Bild und sagen Sie uns:
Was sind die Themen, die Ihrer Meinung nach am meisten die Gesellschaft spalten, was kann man dagegen tun? Und wie müsste ein Debatten-Format aussehen, damit möglichst viele mitmachen?

In den nächsten Tagen schreiben wir Ihnen im SPOTLIGHT, was die Umfrage ergeben hat.
Bundeskanzler Friedrich Merz kritisiert israelische Kriegsführung im Gazastreifen
„Die Zivilbevölkerung derart in Mitleidenschaft zu nehmen, wie das in den letzten Tagen immer mehr der Fall gewesen ist, lässt sich nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen”, sagte der amtierende Bundeskanzler.
spiegel.de
Auto-Attacke bei Liverpool-Meisterfeier: Polizei geht nicht von Terror aus
Während einer Parade fuhr der mutmaßliche Täter in eine Menschenmenge und verletzte dabei 27 Menschen. Die Polizei nahm einen 53-Jährigen kurz darauf fest. Die Polizei in Liverpool geht nicht von einem Anschlag aus.
zeit.de
Hessen: Rassistische Durchsage in der Regionalbahn
In der Regionalbahn von Mannheim nach Frankfurt nutzte ein Zugbegleiter in der Durchsage Begriffe wie „Analphabeten“ und „Kopftuchgeschwader“. „Danach war erst einmal Stille“, beschrieb ein Student aus Frankfurt. Mehrere Fahrgäste meldeten den Vorfall der Deutschen Bahn. Der hessische Verkehrsminister Mansoori sprach von „Null Toleranz“ für Rassismus im öffentlichen Raum.
hessenschau.de
Recherche: Abzocke auf dem Mietmarkt
Eine SWR-Recherche deckt eine neue Masche auf: Fake-Makler, die illegale Vermittlungsprovisionen kassieren. Undercover mit einer versteckten Kamera nehmen sie eine Wohnungsbesichtigung in Berlin auf, bei der der angebliche Makler eine Vermittlungsprovision von mehr als 2.500 Euro von den Reportern einfordert.
swr.de

Faktencheck

Ob Deutschland die Ukraine mit Taurus-Marschflugkörpern unterstützen soll, wurde immer wieder diskutiert. Online heißt es, die USA hätten Deutschland Ende April eine Lieferung verboten. Doch hinter der Behauptung, die auch von AfD-Politikern verbreitet wurde, steckt ein russischer Propaganda-Blog – Belege gibt es dafür keine.
correctiv.org
Endlich verständlich
Wenn Menschen eine Essstörung entwickeln, hat das viele Ursachen. Manchmal spielen genetische Faktoren eine Rolle. Auch traumatische Erfahrungen oder ein schwieriges Umfeld können eine Essstörung auslösen. Schönheitsideale können das verstärken. Aber welche Essstörungen gibt es überhaupt und ab wann spricht man von einer? Das fasst unsere Jugendredaktion Salon5 zusammen.
Instagram
So geht’s auch
Forschung zeigt: Gewaltfreier Widerstand kann sehr erfolgreich sein. 34 Prozent aller gewaltfreien Widerstandsbewegungen in den letzten 15 Jahren sollen erfolgreich einen Umbruch des Status Quo bewirkt haben.
goodnews-magazine.de
Fundstück
Jede Anfrage an Systeme wie ChatGPT verbraucht Wasser zur Kühlung der Rechenzentren – „das verdunstet und ist damit vorerst der Umwelt entzogen“. Der Tagesspiegel sprach darüber mit dem KI-Experten Rainer Rehak vom Weizenbaum-Institut.
Youtube
Während sich im Bundestag die Ausschüsse formieren, inszeniert sich die AfD in ihrer Paraderolle: als Opfer. Obwohl die Partei bei der Bundestagswahl knapp über 20 Prozent der Stimmen erhielt und nun die zweitstärkste Fraktion stellt, blieb ihr der Vorsitz eines Ausschusses verwehrt. Auch bei den Stellvertreterposten sieht es düster aus. Der Hintergrund: Das Bundesamt für Verfassungsschutz stuft die AfD als „rechtsextremistisch“ ein – eine Bewertung, die derzeit gerichtlich überprüft wird.
Thomas Röwekamp (CDU), Vorsitzender des Verteidigungsausschusses, erklärte im Deutschlandfunk, warum ein AfD-Abgeordneter für den Stellvertreterposten nicht infrage komme. Neben der Einschätzung des Verfassungsschutzes nannte er die Russlandnähe der Partei, ihre NATO-Skepsis und die Weigerung, die Ukraine im Krieg gegen Russland zu unterstützen. Das gelte auch für Rüdiger Lucassen, verteidigungspolitischer Sprecher der AfD-Fraktion, und ehemaliger Oberst im Generalstab.
Doch Lucassen selbst liefert Gründe, die ihn disqualifizieren. Am 84. Jahrestag des deutschen Angriffs auf Kreta feierte der AfD-Bundestagsabgeordnete am 20. Mai 2025 in einem Post auf X die Luftlandeoperation der Wehrmacht als „heroischen Akt“. Als Reporter, der die AfD beobachtet, gehört es zur Aufgabe, die Äußerungen ihrer Politiker in sozialen Medien zu verfolgen. Lucassens Beitrag sticht durch seine Geschmacklosigkeit hervor. Er lobt die „soldatische Leistung“ der deutschen Fallschirmjäger und schreibt, ihre „persönlichen Schicksale rühren zu Tränen“. Zudem zitiert er Winston Churchill, der von der „Blüte des deutschen Mannestums“ sprach. Doch Lucassen verschweigt die Massaker, die diese „Blüte“ an der kretischen Zivilbevölkerung verübte. Seine Erklärung für den Lobgesang: Sein Vater habe an der Operation teilgenommen.
„Lucassens Kommentar zum Jahrestag des Angriffs auf Kreta zeigt, dass er für eine verantwortungsvolle und repräsentative Position wie den stellvertretenden Vorsitz im Verteidigungsausschuss ungeeignet ist“, schrieb Röwekamp auf Anfrage von CORRECTIV. Der Fall Lucassen verdeutlicht, wie die AfD mit ihren radikalen Äußerungen selbst die Brandmauer errichtet – für jeden sichtbar und nachlesbar.

Mehr Leistungsbereitschaft, mehr Flexibilität, auch Rentnerinnen und Rentner sollen arbeiten, weniger Work-Life-Balance – das ist der Forderungskatalog der Union an die Bevölkerung. Dabei fällt häufiger der Satz: „Leistung muss sich wieder lohnen“ – etwa jüngst von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann in einer Fernsehtalkshow.
Unserem Kollegen Martin Böhmer fiel auf: Dieser Satz ist gar nicht neu, sondern gehört seit mindestens Ende der 1970er zum Repertoire der Union. Dahinter stand schon damals die Forderung, Steuern und Abgaben zu reduzieren – zugleich jedoch, Sozialleistungen des Staates einzuschränken.
Wie häufig der Satz in den Plenardebatten des Bundestages gesagt wurde, lässt sich über das Dokumentationssystem des Parlaments nachvollziehen: Die Stichwortsuche ergab über 100 Treffer seit 1977. Allerdings äußerten ihn auch Angehörige anderer Parteien, etwa SPD- und Grünen-Abgeordnete. Dann allerdings mit kritischem Unterton. Denn faire Löhne oder flächendeckende Kinderbetreuung, damit mehr Frauen einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen können, gehören traditionell nicht zur Forderung, dass sich Leistung wieder lohnen müsse.
An der heutigen Ausgabe haben mitgewirkt: Samira Joy Frauwallner, Sebastian Haupt und Jule Scharun.
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