Liebe Leserinnen und Leser,
einen Tag vor Weihnachten gibt es in den Medien fast nur dieses eine Thema: den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg, bei dem fünf Menschen starben und mehr als 200 verletzt wurden. Statt Schockstarre gibt es aber wilde Diskussionen: Sind die Weihnachtsmärkte gut genug geschützt? Vor allem aber: Hätten Behörden wissen müssen, dass von Taleb A. eine Gefahr ausgeht und hätten sie handeln müssen? Diese Frage steht jedes Mal nach einem Anschlag im Raum – diesmal aber ist sie noch komplizierter zu beantworten als sonst. Darum geht es im Thema des Tages.
Außerdem im Spotlight: eine Übersicht über die „erfolgreichsten“ Falschinformationen des Jahres im Faktencheck. Und in den „Guten Sachen“ unter anderem die Frage, wie man die Opfer von Magdeburg oder ihre Hinterbliebenen unterstützen kann.
Hier noch eine Info: Unsere Klage gegen den Verfassungsschutz hat in einem wichtigen Punkt schon mal Klarheit geschaffen. Das Gutachten zur Einstufung der AfD ist noch in Arbeit: „Die von dem damaligen Präsidenten des BfV am 14.10.2024 erwähnte Überprüfung ist noch nicht abgeschlossen”, schreibt der Verfassungsschutz in seiner Erwiderung per Anwalt. In den vergangenen Wochen war genau diese Frage offen und sorgte für Verwirrung, ob es schon ein fertiges Gutachten gibt und ob das Innenministerium schon Kenntnis davon hat. Die Anwälte schreiben weiter, dass es daher noch nicht feststehe, „wann das Schriftstück an das BMI übermittelt werden wird”. Jetzt ist jedenfalls vom Verfassungsschutz selbst bestätigt, dass dieses Gutachten noch in Arbeit ist und das Innenministerium das „Schriftstück” noch nicht hat. Wir bleiben dran.
Dies ist der letzte SPOTLIGHT für dieses Jahr. Wir lesen uns am 2.1. wieder. Ich freue mich auf das neue Jahr mit Ihnen und wünsche Ihnen friedliche Festtage. Schreiben Sie mir gern mit Ihren Anregungen und Wünschen für 2025: anette.dowideit@correctiv.org.
Thema des Tages: Was, wenn Täter durchs Raster fallen?
Der Tag auf einen Blick: Das Wichtigste
Leserfrage der Woche: Warum ist das Abblendlicht in der dunklen Jahreszeit keine Vorschrift?
Faktencheck: Heiße Motoren und schmelzende Gletscher: Die meistgelesenen Faktenchecks 2024
CORRECTIV-Werkbank: Last-Minute-Weihnachtsgeschenk: Für den AfD-Onkel und alle Medieninteressierte
Grafik des Tages: Wo Weihnachtsmann und Christkind die Geschenke bringen
Taleb A. – diesen Namen kannten einige schon, bevor er zum Attentäter wurde. Zum Beispiel unsere Reporterin Shammi Haque. A. kontaktierte Haque zum ersten Mal 2019, damals noch als Reporterin für ein anderes Medium. Er schlug ihr mehrmals Recherchethemen vor und bot an, Kontakte zu vermitteln. Es ging um angebliches Systemversagen in der Flüchtlingshilfe.
Haque hatte Kontakt mit ihm, merkte allerdings schnell, dass sein Verhalten auffällig war, seine Hinweise so nicht stimmten und sich Frauen unangenehm von ihm bedrängt fühlten. Am Wochenende haben wir einen Text zu ihren Erfahrungen mit Taleb A. veröffentlicht.
Auch andere Reporter wurden von ihm kontaktiert und machten ähnliche Erfahrungen, zum Beispiel Zeit-Journalist Christian Fuchs (Text hinter der Bezahlschranke). Und auch bei Flüchtlingshilfeeinrichtungen fiel er unangenehm auf. Jetzt diskutieren Medien und Politik, ob Behörden hätten wissen müssen, dass von ihm eine Gefahr ausging.
Ist da etwas dran?
Taleb A. war zwar auffällig – eine gute Übersicht bietet dieser Text der Tagesschau. Es schien aber nicht so, dass er zu Gewalttaten neigen würde. Sein Fall ist also komplizierter und vielschichtiger als andere – er war zum Beispiel nicht mit einem Messer auf Leute losgegangen oder hatte jemanden auf andere Weise körperlich bedroht.
Heute Morgen fasste Konstantin Kuhle, Innenpolitiker der FDP, im Bundestag das Problem in einem Radiointerview so zusammen: Taleb A. sei durch das Raster gefallen, nachdem die Sicherheitsbehörden potenzielle Gefährder identifizieren.
Ist die Debatte trotzdem zielführend?
Im Prinzip ja – wenn es nicht um diesen speziellen Fall geht, sondern um das Grundproblem: Es gibt tatsächlich häufig Fälle, in denen Behörden nachweislich versagen. Das haben wir von CORRECTIV vor etwa einem Jahr in einer Recherche aufgezeigt:
Mehr als eine Million Menschen aus anderen Ländern, die in Deutschland Schutz suchen, werden trotz teils schwerer psychischer Erkrankungen nicht therapiert. Manche von ihnen werden zur Gefahr für andere.
Insofern ist die Forderung von FDP-Politiker Kuhle und anderen legitim, die Behörden müssten ihre Raster erweitern – das heißt, einen breiteren Blick dafür entwickeln, wer aus welchen Gründen näher beobachtet (und gegebenenfalls psychologisch betreut) werden muss.
Grüne versprechen Wirtschaftsförderung
Gehen die Grünen bei der Bundestagswahl bei potenziellen FDP-Wählern auf Stimmenfang? Ein wenig wirkt es so, denn die Parteivorsitzende Franziska Brantner hat Entbürokratisierung versprochen – und finanzielle Anreize für Firmen, die in Deutschland investieren.
deutschlandfunk.de
Slowakischer Präsident rückt näher an Putin
Robert Fico, Präsident der Slowakei, hat bei großen Teilen seiner Bevölkerung Entsetzen ausgelöst: mit einem Überraschungsbesuch bei Russlands Präsident Putin. Fico ging es offenbar darum, russische Gaslieferungen an sein Land zu sichern.
welt.de
Görlitz: Brutaler Angriff auf Lokalpolitikerinnen
Eine Gruppe mutmaßlicher Rechtsextremisten hat am Wochenende fünf Menschen brutal angegriffen, zu denen auch zwei Lokalpolitikerinnen der Linken gehörten. Nun ermittelt das Landeskriminalamt.
mdr.de
Investigatives: Kein gemeinsames System bei der Digitalisierung
Um die Gesundheitsämter zu digitalisieren, haben die Bundesländer millionenschwere Software-Projekte aufgesetzt, teils mit Bundesmitteln. Allerdings laufen die Entwicklungen parallel, ein einheitliches System soll es nicht geben. Fachleute kritisieren das als vergebene Chance.
mdr.de
Leserfrage der Woche
Leserin Claudia S. aus Ramberg in Rheinland-Pfalz hat uns gefragt:
„Jetzt, in der dunklen Jahreszeit, bei Nebel und schlechter Sicht, ärgert es mich besonders, dass die Autofahrerinnen und Autofahrer nicht ihr Abblendlicht einschalten, sondern nur das Tagfahrlicht – dabei hat es kein Rücklicht! Warum ist das Abblendlicht in unserem sonst so überregulierten Land keine Vorschrift?“
Wir haben mal nachgeschaut: Laut Straßenverkehrsordnung muss das Abblendlicht eingeschaltet werden, wenn es „die Sichtverhältnisse erfordern“. Das ist natürlich eine ziemlich schwammige Aussage.
Also haben wir bei der zuständigen Stelle nachgefragt, dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr. Die Antwort: Die oben genannte Regelung in der Straßenverkehrsordnung reiche aus, denn sie decke ja schon ab, dass man bei schlechten Sichtverhältnissen verpflichtet ist, das Abblendlicht einzuschalten.
Außerdem, so die Auskunft des Ministeriums, habe eine Untersuchung der Bundesanstalt für Straßenwesen gezeigt, dass generelle Nutzung von Abblendlicht am Tag im Verhältnis nicht genug zusätzliche Sicherheit bringe, dass sich dafür die zusätzliche Belastung für die Umwelt (durch mehr Kraftstoff-Verbrauch) rechtfertigen ließe.
Aufregung um Mülltrennung in Niedersachsen, ein Audi, der angeblich zu klimafreundlich war und ein Kanzlerkandidat im Fokus – unsere meistgelesenen Faktenchecks liefern einen Rückblick auf die hitzigsten Debatten des Jahres.
CORRECTIV.Faktencheck
Endlich verständlich
Wer am Freitagabend in den Sozialen Netzwerken unterwegs war, dem begegneten nicht nur zahlreiche Posts zum Anschlag in Magdeburg, sondern auch eine regelrechte Flut an Falschnachrichten und Hetzbotschaften. Wie vor allem Rechtsextremisten und -populisten damit versuchten, die Tat noch am selben Abend für ihre politischen Ziele zu instrumentalisieren, zeichnen das RND und die Tagesschau nach.
tagesschau.de / rnd.de
So geht’s auch
Wie kann man den Opfern des Anschlags helfen? Um finanzielle Hilfen zu ermöglichen, haben die Organisationen DRK, Caritas und Diakonie ein gemeinsames Spendenkonto eingerichtet. Für die Familie des jüngsten der fünf Todesopfer, den neunjährigen André, hat die Freiwillige Feuerwehr, bei der er Mitglied war, ebenfalls ein Spendenkonto eingerichtet.
Fundstück
Eine solche Tat hinterlässt Spuren auch bei denjenigen, die nicht dabei waren: Neben Trauer oder Wut ist das oft Angst. Was hilft, mit solchen Ereignissen umzugehen und was kann man selbst tun, um die Angst nicht gewinnen zu lassen? Hier möchten wir Ihnen zwei Interviews dazu aus diesem Sommer empfehlen:
stern.de / www.zeit.de
Eine kleine Ansage an alle, die ein schnelles und sehr besonderes Weihnachtsgeschenk suchen: Es gibt noch Tickets für meine Tour zum Geheimplan gegen Deutschland. Das Tolle an diesen Tickets ist, dass sie für den AfD-Onkel und die etwas zu radikal-neokonservativ-libertär geprägten Enkelkinder genauso spannend sind, wie für alle, die einfach gerne mehr über investigativen Journalismus erfahren wollen.
Im Januar und Februar reise ich durch Deutschland. Ob Bremen, Saalfeld, Cottbus, Trier oder Wiesbaden – schauen Sie doch mal, ob Ihre Stadt dabei ist. Ein bis zwei Stunden knackiges Programm: wie wir die Geheimplan-Recherche hinbekommen haben, wie der rechte Rand reagierte und was eine Kölner Kanzlei damit zu tun hat. Ich erzähle von unserer neuesten Recherche und überlege mit Ihnen, welche Methoden nun angepackt werden sollten, wenn der traditionelle Journalismus uns vor Faschismus nicht mehr schützen kann.
Es wird ein Ritt, den ich mir da vorgenommen habe, und während ich von Stadt zu Stadt reise, recherchiere ich im Zug weiter. Eigentlich keine übliche Form für einen Journalisten, seinen Alltag zu verbringen. Doch mir ist wichtig, nicht nur in Berlin zu sitzen, denn Reisen bildet ja bekanntlich.
Übrigens: Die neueste Recherche veröffentlichen wir schon am 27. Dezember auf dem Chaos Communication Congress in Hamburg um 11 Uhr und unter streaming.media.ccc.de – Ich freue mich auf Sie!
Hier gibt es noch WEIHNACHTS-TICKETS: correctiv.tickettoaster.de
Anders als häufig angenommen ist der Weihnachtsmann keine Erfindung von Coca-Cola, sondern hat einen viel älteren Ursprung. Verantwortlich dafür, dass er überhaupt zur zentralen Gestalt werden konnte, ist aber wohl jemand, der niemals eine Koffein-Limo getrunken hat: Luther. Vor der Reformation gab es die Geschenke nämlich zum Nikolaustag. Weil die Protestanten die Heiligenverehrung ablehnten, besannen sie sich auf die Geburt Christi.
Die konfessionellen Spuren innerhalb Deutschlands sind noch heute sichtbar – allerdings in kurios anmutender Weise: Während sich das Christkind in den protestantischen Regionen relativ schnell durchsetzte, dominiert heute dort klar der Weihnachtsmann. Dagegen hat das Christkind ziemlich lange gebraucht, um in katholisch geprägten Regionen Fuß zu fassen, ist dort aber bis heute präsent.
An der heutigen Ausgabe hat mitgewirkt: Sebastian Haupt
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CORRECTIV ist das erste spendenfinanzierte Medium in Deutschland. Als vielfach ausgezeichnete Redaktion stehen wir für investigativen Journalismus. Wir lösen öffentliche Debatten aus, arbeiten mit Bürgerinnen und Bürgern an unseren Recherchen und fördern die Gesellschaft mit unseren Bildungsprogrammen.