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Was Journalismus aus der Forschung von More in Common lernen kann

Forschung zum gesellschaftlichen Zusammenhalt lässt uns als Journalistinnen und Journalisten besser verstehen, wie wir Diskurs und Austausch ermöglichen und wer in unserer Berichterstattung zu wenig vor kommt. Drei Dinge, die wir uns zu Herzen nehmen sollten.

von Tobias Hauswurz

Tommy Chavannes: Bristol Cable - Avonmouth Members Meeting

Die internationale NGO More in Common untersucht seit einigen Jahren den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland. Einige Erkenntnisse aus der Forschung sind interessant für Journalistinnen und Journalisten. In unserem StartHub-Know-Lunch im Oktober 2024 hatten wir Sarah Wohlfeld von More in Common zu Gast. Sie hat uns einige Forschungsergebnisse vorgestellt, die Community-zentrierten Redaktionen in ihrer alltäglichen Arbeit Orientierung geben kann. Drei davon haben wir hier noch mal zusammengefasst.

1. Deutschland ist anders geteilt, als wir häufig glauben

More in Common hat in der Grundlagenstudie „Die andere deutsche Teilung” sechs gesellschaftliche Typen identifiziert, die die Spaltung unserer Gesellschaft beschreiben.

  • Die Offenen: Stehen gesellschaftlichem Wandel am aufgeschlossensten gegenüber, hinterfragen traditionelle Denkweisen kritisch und setzen sich für eine offene Gesellschaft ein.
  • Die Involvierten: Glauben besonders an das gesellschaftliche Miteinander, pflegen gesellschatliches Engagement und glauben an lebendiges, demokratisches Miteinander.
  • Die Etablierten: Sind eher älter und konservativ, stechen durch ihre große Zufriedenheit und den großen Glauben an das Gemeinwesen heraus.
  • Die Pragmatischen: Sind auf den eigenen Erfolg konzentriert und finden, die Gesellschaft sollte allen eine gute Ausgangsposition für ihr persönliches Fortkommen bieten.
  • Die Enttäuschten: Finden in der Gesellschaft am wenigsten positiven Halt, ihre persönliche Lage ist vor allem von Abstiegsängsten und Zweifel an der eigenen Wirkmächtigkeit geprägt.
  • Die Wütenden: Gehen mit der Gesellschaft hart ins Gericht und sind pessimistisch, empört und unzufrieden, wenn es um Politik und die Gesellschaft geht.
Quelle: More in Common

Aus den sechs Typen ergibt sich wiederum eine dreigeteilte Gesellschaft, bestehend aus:

  • Den gesellschaftlichen Stabilisatoren (Etablierte und Involvierte)
  • Den gesellschaftlichen Polen (Offene und Wütende)
  • Dem unsichtbaren Drittel (Pragmatische und Enttäuschte)

Trotz der Dreiteilung dominieren in der medialen Berichterstattung vor allem die gesellschaftlichen Pole und die Stabilisatoren. Das unsichtbare Drittel findet kaum statt. More in Common schreibt dazu in der Studie: „Vor allem das unsichtbare Drittel verdient Aufmerksamkeit, findet es doch in unserer Gesellschaft am wenigsten Halt. Dies ist ganz wortwörtlich zu verstehen: Während 30 Prozent aller Befragten sagen, dass sie einsam sind, ist dieses Gefühl im unsichtbaren Drittel überdurchschnittlich stark ausgeprägt. Zugleich ist der Glaube, das eigene Schicksal selbst in der Hand zu haben, bei den Pragmatischen und den Enttäuschten besonders schwach.”

So unterschiedlich die gesellschaftlichen Typen auch ticken mögen, so einig sind sie sich darüber, wo die Trennlinien in unserer Gesellschaft verlaufen. Mit einigem Abstand sagen alle gesellschaftlichen Typen übereinstimmend, dass die wichtigste Trennlinie in der deutschen Gesellschaft die Schere zwischen Arm und Reich ist. Andere Spaltungen, zum Beispiel die zwischen Rechts und Links, Ost und West oder Jung und Alt, spielen für die Befragten eine weit weniger wichtige Rolle. Diese Erkenntnis können wir in unsere Berichterstattung einfließen lassen.

2. Lokaljournalismus kann dort sein, wo die Menschen sind

More in Common hat Menschen befragt, welche Orte sie regelmäßig aufsuchen. Supermärkte, Restaurants und Einkaufszentren liegen auf den ersten Plätzen. Das klingt logisch und ist an sich vielleicht keine große Erkenntnis. Aber warum findet Journalismus dann nicht genau an diesen Orten statt?

Quelle: More in Common

Lokaljournalismus ist besonders prädestiniert dafür, Menschen dort zu erreichen, wo sich ihr Leben abspielt. Trotzdem ziehen sich große Verlage mehr und mehr aus dem Lokalen zurück. Lokalredaktionen sind für die Menschen immer schwerer erreichbar oder auch gar nicht mehr vor Ort.

Statt Barrieren aufzubauen, sollten wir uns eher überlegen, wie Journalismus im Rewe, Aldi oder Edeka um die Ecke aussehen könnte. Was ist ein journalistisches Format, das Menschen im Biergarten erreicht? Wie können wir Menschen in der Pflanzenabteilung des Baumarkts am Journalismus beteiligen? Können wir Leerstände in Einkaufszentren nutzen, um Pop-Up-Redaktionen aufzumachen?

Tolle Projekte wie die Dialogbox von Tactile.News machen greifbar, wie das aussehen könnte. Oder das Bürgerportal Bergisch Gladbach, das mit einem Demokratiefestival auf dem Marktplatz auch die Menschen erreicht hat, die sich längst vom Journalismus abgewendet haben.

Die Forschung von More in Common zeigt auch, dass Menschen insbesondere den Medien vertrauen, die nah an ihrer Lebensrealität berichten. Lokalmedien genießen also nach wie vor das größte Vertrauen. Das sollten sie nicht verspielen, sondern aktiv Menschen dort treffen, wo sie unterwegs sind. Barrieren abzubauen ist eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben des Journalismus.

3. Nicht alle trauen sich, aktiv an Diskussionsveranstaltung teilzunehmen

In unseren Fallbeispielen zeigen wir immer wieder, wie tolle Veranstaltungsformate es schaffen, Raum für Austausch und Debatte zu schaffen. Aber nicht alle Menschen sind dafür gleichermaßen erreichbar. Vor allem von den Enttäuschten und Pragmatischen sagen viele, dass sie Diskussionen lieber aus dem Weg gehen und sich unter neuen Leuten unwohl fühlen. Offene Debattenräume zu schaffen, sollte also nur der erste Schritt sein. Wenn wir auch die Menschen erreichen wollen, denen es schwerer fällt, ihre Meinung mit anderen zu diskutieren, sollten Veranstaltungsformate entsprechend angepasst werden, damit sich nicht immer nur die gleichen trauen, das Wort zu ergreifen. Bei Methoden wie Schreibgesprächen, Live-Abstimmungen per Umfrage auf dem Smartphone oder beim Erstellen von Wortwolken können auch eher zurückhaltende Menschen ihre Sichtweisen einbringen.

Dieses Fallbeispiel ist Teil des Angebots vom CORRECTIV.StartHub, der Anlaufstelle für Journalistinnen und Journalisten, die ihr eigenes Community-zentriertes Medienprojekt gründen wollen.

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