Vier Wochen, ein Thema: Der Engagement Cycle von The Green Line
The Green Line schafft es, ein Thema über vier Wochen interessant zu halten. Dafür benutzt das Lokalmedium aus Toronto einen besonderen Engagement-Cycle, welcher Lösungen und Handlungsmöglichkeiten in den Vordergrund rückt.

“Für mich ist The Green Line eher ein Community-Informations-Service als eine klassische journalistische Organisation.” Anita Li ist die Gründerin von The Green Line, einem Lokalmedium aus Toronto in Kanada. Als die Journalistin das Projekt startete, wollte sie eine neue Art der Berichterstattung etablieren. Mitten während der Corona-Pandemie wollte Anita einen Gegenpol zum “passiven Konsum von belastenden Nachrichten” schaffen und Menschen ermutigen, „selbst aktiv zu werden”.
The Green Line sieht sich selbst als Ratgeber, um in Toronto zurechtzukommen. Sie produzieren Artikel für ihre Website, verschicken mehrere Newsletter und veröffentlichen (Video-)Content für Instagram, YouTube und TikTok. Die frei verfügbaren Inhalte werden durch einen Mix aus Fördergeldern, Partnerschaften und freiwilligen Unterstützer*innen finanziert.
Für ihre Berichterstattung folgt das Medium einem bestimmten Engagement Cycle, der die Bindung zu The Green Line stärken, aber auch die Lesenden konkret zum Handeln motivieren soll: Jeden Monat fokussieren sie sich auf ein neues Oberthema. Dieses Problem wird dann konstruktiv, also mitsamt möglichen individuellen Lösungen, angegangen. Das gelingt The Green Line über vier Schritte:
Schritt 1 – Mit der Einführung eine gemeinsame Grundlage schaffen
Der Explainer führt in das Thema ein und dient als Basis für die nächsten Schritte. Jedes Thema wird von The Green Line mit Fokus auf die fünf eigenst entwickelten Aspekte der Lebensqualität in Toronto gewählt: Ernährung, Wohnen, Verkehr, Beruf oder Gesundheit.
Der erste produzierte Inhalt ist ein Artikel, der das konkrete Problem beschreibt. Er beantwortet Fragen wie: Was ist das Problem? Warum gibt es das Problem? Was sind die Auswirkungen auf mich? Diese Informationen verbreiten sie auch multimedial, drehen also beispielsweise auch ein Social-Media-Video dazu. Dieser Schritt dient als Basis des Engagement-Cycle.
Beispiel – Wohnungsräumung: The Green Line veröffentlichte als erstes einen Artikel, der das Problem der Wohnungsräumungen in Toronto erklärt. Darin wurde auch erwähnt, welche Rechte Mieterinnen und Mieter in solchen Situationen haben. Anknüpfend dazu hat die Redaktion auch ein TikTok produziert, was sich vertiefend mit den Rechten von Mieterinnen und Mietern befasst.
Schritt 2 – Mit einem Artikel erste Lösungsvorschläge vorstellen
Im nächsten Schritt des Engagement-Cycle folgt dann in der zweiten Woche ein Feature (eine Art Mischung aus Bericht und Reportage), welches mögliche Lösungen aufzeigt. “Dabei sehen wir uns klar als serviceorientierten Journalismus”, stellt Anita Li klar. Serviceorientierter Journalismus bedeutet für sie: “Dinge, die man nur sehr schwer googlen kann. Also sehr gebündelte, sehr lokale Informationen.”
Das Feature beschreibt dann sehr handlungsorientiert, wie man mit gewissen Situationen in Bezug auf das Oberthema umgehen kann. Dabei versucht The Green Line wirklich detailliert auf einzelne Probleme einzugehen und einen Mehrwert zu schaffen: Mal geben sie Hilfestellungen, was bei bestimmten Behördenbriefen zu tun ist, ein anderes Mal erstellen sie selbst interaktive Karten mit kostengünstigen Essensmöglichkeiten.
Beispiel – Wohnungsräumung: Das Feature ist bei diesem Thema ein Artikel, der als Guide für alle Probleme in Bezug auf Wohnungsräumung fungiert, zum Beispiel: “Was passiert, wenn du einen Räumungsbescheid bekommst“. Dieser Artikel ist narrativ, also erzählend, geschrieben und verdeutlicht das Problem anhand einer Person.
Schritt 3 – Bei einer Veranstaltung gemeinsam neue Lösungen suchen
Die Veranstaltung in Woche drei hat immer eine “praktischen oder lustigen Mehrwert”. So hätten sie in der Vergangenheit schon Filmaufführungen, Konzerte oder Workshops organisiert. Bei diesen Events vernetzt sich die Community von The Green Line und erarbeitet zusammen mögliche, neue Lösungen für das Problem. Dafür laden sie neben ihrer Community, Fachleute, Organisationen oder Kontakte aus dem Artikel zu bestehenden Lösungsvorschlägen ein, um jeweils ihre Erfahrungen zu teilen.
Aus der Community besuchen durchschnittlich etwa 50 Menschen die Events, die größten Veranstaltungen haben aber bis zu 300 Teilnehmende angelockt. Nach jedem Event lässt The Green Line neue Besucher*innen ausgedruckte Umfragen mit Kontaktdaten ausfüllen. So bringen sie die Offline-Besucher*innen mit in die Online-Community. Auch über die Veranstaltung erscheint im Nachhinein ein Artikel/Blogbeitrag auf der Webseite. In diesem Schritt des Engagement-Cycle interagiert die Community wohl am stärksten und am direktesten mit The Green Line.
Beispiel – Wohnungsräumung: Die Redaktion hat verschiedene Organisationen zu einem Community-Abendessen eingeladen. Dazu gehören Vereinigungen für Mietende oder auch Rechtshilfe für Wohnraum. Diese Akteurinnen und Akteure haben dann jeweils praktischen Input gegeben, so zum Beispiel der Vertreter der Mieter*innenvereinigung: “Er hat erklärt, wie man gegen seine Vermieter*innen vorgehen kann, wenn die eigene Wohnung illegal oder unfair gekündigt wird.”
Schritt 4 – Mit einer Umfrage Feedback und Lösungen sammeln
Am Ende des Engagement-Cycle, also zum Abschluss eines jeden Themas, führt die Redaktion eine Umfrage in ihrer Community durch. Dabei fragt sie standardmäßig Name, Alter, Kontaktdaten und das Wohnviertel in Toronto ab. Darauf folgen Fragen zum Thema des Monats, beispielsweise welche Lösungen der Community noch einfallen. Auch diese Ergebnisse werden in einem Artikel auf der Website festgehalten.
Gleichzeitig dient die Umfrage dazu, neue Community-Mitglieder zu gewinnen, weitere Themen zu entdecken und Feedback zum Event zu bekommen.
Die Umfrage führt The Green Line mittlerweile mit beabee, einer von CORRECTIV entwickelten Software-Lösung für community-zentrierte Redaktionen, durch: “Früher haben wir Google Forms benutzt, aber das hatte zu große Datenschutz-Probleme”, so erklärt Anita Li den Wechsel, “wir wollen die Daten unserer Nutzer*innen so gut wie möglich schützen.” Außerdem mache beabee einen besseren Eindruck, weil es sich direkt auf der Webseite einbinden lasse, so bleibt die Markenidentität erhalten.
Beispiel – Wohnungsräumung: Im Beispiel der Wohnungsräumungen hat The Green Line seine Community nach ihren Erfahrungen, Lösungen und Wünschen gefragt. So konnten Lesende ihre eigenen Tipps teilen, aber auch gezielt auf fehlende Guides oder Hilfsmittel aufmerksam machen. Daran anknüpfend hat The Green Line einige der Tipps auf ihrer Website geteilt. Einen neuen, eigenen Guide haben sie in dem Fall nicht gestartet. In der Vergangenheit haben sie aber zum Beispiel schon selbst Karten mit öffentlichen Toiletten erstellt.
So schafft es The Green Line vier Wochen lang über ein Thema zu berichten, ohne dabei repetitiv oder abschreckend zu wirken. Jede Woche hat ihre eigene Perspektive auf das Thema und insgesamt ist die Berichterstattung konstruktiv. Sie zeigt Lösungen auf und motiviert die Lesenden selbst aktiv zu werden. All das gelingt über den ausgeklügelten Engagement-Cycle.
Dieses Fallbeispiel ist Teil des Angebots vom CORRECTIV.StartHub, der Anlaufstelle für alle, die ihr eigenes Community-zentriertes Medienprojekt im Lokalen starten wollen.
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