Aufrufe der Familien von Ali und Tolga unmittelbar nach den Entführungen in sozialen Medien machen es unwahrscheinlich, dass Tolga und Ali ihre Berichte im Nachhinein erfanden.
„Deine Frau nervt uns,“ raunt einer der Wärter Tolga einmal zu. So erfährt er, dass seine Frau ihn sucht. Sie geht immer wieder zu Polizei und Staatsanwaltschaft, wendet sich an internationale Menschenrechtsorganisationen, bittet in sozialen Medien um Hilfe bei der Suche nach ihrem Mann.
Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch haben bereits systematische Folter und Misshandlungen in Polizeistationen und regulären Gefängnissen in der Türkei dokumentiert.
Das schwedische Stockholm Center for Freedom hat etwa 20 Fälle festgehalten, bei denen Gülenisten in der Türkei spurlos verschwunden sind. Öztürk Türkdoğan, der Vorsitzende des türkischen Menschenrechtvereins IHD, hat 15 solcher Fälle gezählt und hat zu mehreren davon selbst gearbeitet. Türkdoğan geht davon aus, dass es sich um geheimdienstliche Aktionen handelt. Mitten auf der Straße, meist mit einem schwarzen Kleintransporter mit dunklen Scheiben.
„Viele Opfer, die lange Zeit entführt waren und später frei gelassen wurden, sprechen leider nicht darüber”, sagt Türkdoğan. „Aber ihre Familien haben uns berichtet, dass sie sehr schwerer Folter ausgesetzt waren. Die Familien haben auch erzählt, dass einige das nicht aushielten und sich umgebracht haben.“
Die türkische Regierung ließ Fragen nach ihrem internationalen Entführungsprogramm und dem Vorwurf von geheimen Foltergefängnissen unbeantwortet. In der Vergangenheit hat die Regierung bestritten, dass in der Türkei Folter gebe. „Sie reden davon, dass wir foltern. Bei uns gibt es bei Folter null Toleranz,“ sagte Präsident Erdoğan in einer Rede nach dem Putsch.
Geheim sind die zwangsweisen Rückführungen von Türken, wie gesagt, nicht.
Wer die Bundesregierung danach fragt, erhält erst einmal einen Verweis auf die Mitarbeit der lokalen Behörden. So schrieb sie in einer Antwort auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion von Die Linke: In den allermeisten Fällen dürfte es sich um „offizielle Maßnahmen der jeweiligen Gastländer handeln, die von türkischer Seite zwar initiiert, von dieser aber nicht eigenständig auf fremdem Staatsgebiet durchgeführt wurden.“
Eine ziemlich verklausulierte Beschreibung für einen fragwürdigen Prozess: Im Grunde sagt die Regierung nur, dass der türkische Geheimdienst nicht selbst die neuen Staatsfeinde in schwarze Transporter zwingt.
Offenbar läuft es so ab: Der MIT macht die Opfer ausfindig. Dann bringt er die Sicherheitsbehörden der Gastländer dazu, sie zu kidnappen und ihm auszuhändigen. Mit einem rechtsstaatlichen Auslieferungsverfahren hat dieser Ablauf nichts zu tun.
Der Bundesregierung müsste das bewusst sein. In einer weiteren Antwort auf eine Anfrage im Bundestag schreibt sie, der MIT in Deutschland versuche sehr aktiv, den Aufenthaltsort von geflohenen Gülenisten aufzuspüren. Auch Hinweise auf geheime Folterstätten liegen der Bundesregierung schon länger vor, wie aus einem internen Papier des Auswärtigen Amts zur Situation in der Türkei vom Februar 2017 hervorgeht.
Darin findet sich ein Hinweis, dass Menschenrechtsaktivisten aufgrund der Art der von Opfern erlittenen Verletzungen davon ausgingen, dass die Misshandlungen nicht mehr nur in regulären Polizeistationen stattfänden.