Die Kapelle in Simetsbichl ist ein weiß getünchtes Gebäude mit Spitzdach. Sie liegt hinter dem Ortsrand des bayerischen Ortes Garching. Im Innern reihen sich Bänke, am Kopfende steht Maria im Strahlenkranz vor einem Altar mit Kerzen, Blumen und Bittbüchern. Darin haben Besucher geschrieben, was sie bewegt: Bitten um Heilung, Hilfe bei einer Schwangerschaft oder einem Jobwechsel. Und dann steht in einem goldenen Schreibblock in krakeliger Kinderhandschrift der Satz: „Die Sexuele Belestigung soll aufhören. Dein Stefan.“
Es gibt kein Datum über dem Eintrag. Wann der Junge seine Bitte an die Gottesmutter schrieb, lässt sich nicht sagen. Bis in die 1990er Jahre reichen die Bitten in den Büchern zurück. Doch man kann seine Bitten auch hinten in ein noch leeres Buch schreiben. Vielleicht hat der Junge es hinter leeren Seiten verstecken wollen und die anderen Fürbitten haben Stefans Satz im Laufe der Zeit eingeholt.
Heute weist die Bitte auf eine Zeit hin, als einer der bekanntesten Missbrauchstäter der katholischen Kirche in Deutschland die Gemeinde im bayerischen Garching führte. Nicht weit von der Kapelle mit dem Bittbuch entfernt, etwa eine halbe Stunde zu Fuß, kommt man zur Kirche St. Nikolaus in Garching. Im dortigen Pfarrhaus wohnte der Priester Peter H. bis 2008. Über Jahrzehnte hat er minderjährige Jungen missbraucht und wurde von der Kirche von Gemeinde zu Gemeinde geschickt. In Garching und Engelsberg, in Essen und – wie neue Recherchen von CORRECTIV und Frontal21 zeigen – auch weitere Kinder in Bottrop.
»Tolle Buben«
Der Fall Peter H. steht als Symbol für Vertuschungsversuche der Kirche. Für das Schützen von Missbrauchstätern. Und für das Schweigen bis in die höchsten Ränge der katholischen Kirche. Bis hinauf zum emeritierten Papst Benedikt XVI.
Bereits die New York Times hatte in früheren Recherchen einen Zusammenhang zwischen dem damals amtierenden Papst und H. hergestellt. Ein Brief an den einflussreichen Kardinal Reinhard Marx von 2012, der CORRECTIV in Abschrift vorliegt, zeigt jedoch, dass der Fall auch die Kirchenmänner nicht kalt ließ. Die Bischöfe waren besorgt über die Verbindung zwischen Benedikt XVI. und dem pädophilen Priester.
CORRECTIV und Frontal21 haben den Fall in den vergangenen Monaten erneut recherchiert, Zeugen befragt und Dokumente ausgewertet. Dabei zeigt sich, dass die Zahl der Missbrauchsopfer offenbar wesentlich höher liegen könnte, als bekannt und als in den Kirchenakten festgehalten wird. Es zeigt vor allem, dass die Verbindungen zwischen dem Missbrauchstäter H. und Kardinal Ratzinger, dem späteren Papst, größer waren, als die Kirche und ihre Repräsentanten es bis heute wahrhaben wollen. Ein enger Vertrauter Ratzingers hat jahrelang mit dem Priester zusammen eine Gemeinde betreut, ohne zu verhindern, dass dieser sich mit Messdienern umgab, obwohl er – wie die Kirchenleitung – von dessen Gefährlichkeit wusste. Im Jahr 2000 prahlte H. sogar, dass Ratzinger bei ihm vor der Tür gestanden habe. Eine Szene, die Ratzinger heute bestreitet.
Von dem Fenster der Wohnung, in der Peter H. heute wohnt, kann man auf einen Kinderspielplatz schauen. In dem mehrstöckigen Haus in München wohnen auch Familien mit Kindern. Mehrmals haben CORRECTIV und Frontal21 versucht, mit H. zu sprechen. Ihn zu den Geschehnissen zu befragen. Ihm die Möglichkeit zu geben, zu neuen Erkenntnissen Stellung zu beziehen. Doch alle Briefe, die in H.s Briefkasten seit November 2019 eingeworfen wurden, blieben unbeantwortet. Bis heute will sich H. zu den neuen Anschuldigungen nicht äußern.
Akten, die CORRECTIV und Frontal21 vorliegen, lassen jedoch erahnen, wie H. seine Taten selbst sieht. H. wurde über mehrere Jahre an verschiedenen Orten sexueller Missbrauch vorgeworfen. Zu den Vorwürfen befragt, gab der damals in einer internen kirchlichen Befragung er auf der einen Seite zu, dass er ein „pädophiler Priester“ sei und die „ganze Welt“ dies wisse. Aber dann relativiert er. Er sei nie gewalttätig geworden, nie hätte er die Jungen penetriert oder habe sich oral befriedigen lassen. Nur eine Ausnahme habe es gegeben. Fälle, die nicht mehr zu leugnen sind, spielt er herunter. Viele Fälle seien ihm angehängt worden. Außerdem sei der Zeitgeist schuld gewesen. Der Umgang mit Sexualität wäre lockerer gewesen. Die Jugendlichen hätten so offen über Sex geredet und waren doch „tolle Buben“, rechtfertigt er sich laut Unterlagen des Bistums Essen. Er sei verführt worden.
Der offene Umgang der Jugendlichen mit Sexualität habe ihn erst auf die Idee gebracht. Seine Zeit als Pfarrer solle nicht auf die Missbrauchstaten reduziert werden. Er habe viel Gutes getan. Und die Kirche habe ihn ja immer wieder eingesetzt, obwohl sie von seinen Neigungen wusste, ihn geschützt und Verständnis entgegengebracht und eben nicht bestraft, denn damals hätte man das ja noch anders bewertet. Und er könne nun nicht plötzlich von der Kirche bestraft werden für Taten, die längst verjährt sind, nur weil sich die heutige Sicht auf die Dinge geändert habe. CORRECTIV hat H. mehrere Briefe geschrieben, ihn zum Gespräch eingeladen. Aber H. hat bis heute nicht darauf reagiert.
Der »Menschenfänger«
Schon bald nachdem H. 1987 seinen Pfarrdienst in Garching an der Alz antritt, ist er in der Gemeinde beliebt. Der Priester ist für Garching und Engelsberg zuständig, ein bayerisches Bilderbuchdorf um eine Kirche mit Zwiebelturm wenige Kilometer von Garching entfernt. H. gilt als energisch.
Bei der Jugend kommt er an, die Frauen seien ihm verfallen, berichten Augenzeugen. „Also über H. kann ich nur Gutes sagen, ein so freundlicher Mann“, sagt eine Sekretärin von einer Schule, in der H. Religionsunterricht gegeben habe. Andere aus dem Ort erzählen, er habe predigen können, sei mehr Schauspieler als Priester gewesen. Ein „Menschenfänger“. Unter den Messdienern habe es einen Wettstreit gegeben, wer höher in der Gunst des Pfarrers stand. H. sorgt dafür, dass die Kirche voller Menschen ist. Den Messdienern gibt er Alkohol und Zigaretten. Er engagiert sich, tritt als Büttenredner im Fasching auf, organisiert Umzüge. Die Gemeinde habe ihn angehimmelt. Auch Rosemarie Anwander fand H. gut. „Er ist auf die Leute zugegangen, war locker, also man hat ihn einfach mögen müssen“, sagt die 71-jährige Frau, die in Garching tief verwurzelt ist, sie war in der Pfarrerei engagiert und hat für die lokale Zeitung in dem Ort geschrieben. Doch dann erschüttert ein Ereignis den Frieden.
Es ist der 24. Juli 1994. Ein Pfarrfest ist geplant. Doch früh am Morgen wird der Pfarrgemeinderat Klaus Mittermeier alarmiert, der damals ein engagierter Christ und „begeistert von dem Priester H.“ war. Auf dem Festplatz vor dem Gemeindezentrum und an der Mauer des Pfarrheimes befänden sich Schmierereien, die H. sexuellen Missbrauch vorwerfen. Was genau zu lesen war, ist heute nicht mehr zu rekonstruieren. Zu sehr gehen die Erinnerungen auseinander: von einem deftigen Ausspruch bis zu dem Satz, dass H. einen Jungen liebe. Mittermeier erinnert sich nur daran, dass ein Junge auf ihn zugekommen sei und gesagt habe, er könne ja nicht gemeint gewesen sein, denn er habe ja eine Freundin. „Aber ich hatte damals andere Sorgen, das Pfarrfest“, sagt Mittermeier heute, da habe er sich nicht kümmern können. Die Aussagen über den Ausspruch variieren bis heute. Schnell wird die Schrift an der Mauer mit Farbe übertüncht, über die Schrift auf dem Boden wird Zement gegossen und ein Teppich gelegt. Aber der Verdacht ist in der Welt – und die Gerüchte verbreiten sich.
Kurz darauf beginnen die Sommerferien und H. sucht den Pfarrgemeinderat Mittermeier auf. Er sieht sich als Opfer, klagt sein Leid. Wenn die Gerüchte nicht verstummen, werde er die Gemeinde verlassen. Mittermeier will ihm helfen, fordert aber Klarheit: Er fragt H. offen, ob etwas an den Gerüchten wahr wäre. Falls ja, dann würden sie Wege finden, das Problem zu lösen. Wenn nicht, würden er und die Gemeinde sich schützend vor den Pfarrer stellen und ihn „durchboxen“. „Wir waren Freunde“, sagt Mittermeier heute, er war damals „begeistert von seiner Art zu predigen“. H. streitet alles ab, an den Gerüchten sei nichts dran.
Der Pfarrgemeinderat und die Priester vereinbaren daraufhin, gegen die Gerüchte vorzugehen. Ein handgeschriebener Redezettel aus der Zeit zeigt die Strategie: „Wahrheitsgehalt der Gerüchte widerlegen“, so der Plan. H. setzt Predigten in Garching und Engelsberg an. Wütend weist er die Vorwürfe zurück. Wenn schon das Gespräch zwischen Priester und einem Gläubigen verdächtig sei, dann sei die Seelsorge nicht möglich, erinnern sich Gemeindemitglieder an die Wutpredigt. Die Predigt wurde in allen Kirchen der Gemeinde verlesen, in Garching und in Engelsberg und die Leute „haben geklatscht“, sagt Mittermeier, der die Aktion mit Plakaten unterstützt: „Böse Worte töten Seelen“, lässt er für seinen Freund auf Papier drucken. Allerdings sagt die frühere Gemeindehelferin Anwander, man habe gewusst, dass da etwas in Essen vorgefallen sei. Sie erzählt, dass auch ihre Töchter Messdienerinnen bei H. waren. Man habe gewusst, dass er eine Therapie in München machte, „aber die meisten glaubten wegen Alkohol“, sagt Anwander. „Hauptsache, er war nett“.
Zu diesem Zeitpunkt war in der Gemeinde nicht bekannt, dass H. von der Kirche überwacht wird. Dass H. ein verurteilter Sexualstraftäter war. Nachdem er in den frühen 1980er Jahren von Essen nach Bayern versetzt worden war, ordnete die Kirche eine psychologische Behandlung an. „H. war aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur nicht einzeltherapiefähig, nur eine Gruppensitzung ist möglich gewesen”, beschreibt Huth seinen Patienten heute, der sich „vor allem als Opfer“ gesehen habe. Werner Huth ist heute 90 Jahre. 2010 hat er bereits mit der New York Times und der Süddeutschen Zeitung geredet. Eigentlich wolle er keine Interviews mehr geben, aber die neue Recherche habe ihn bewegt, doch etwas zu sagen. Huth, bei dem H. in Therapie ist, alarmierte damals die Kirchenführung und berichtete seiner Aussage nach dem zuständigen Weihbischof Heinrich von Soden-Fraunhofen von der Gefährlichkeit H.s.
Einige Jahre später, 1984, wird H. das erste Mal in Bayern aktenkundig. Im oberbayerischen Grafing erstatten Eltern eine Anzeige. Die Staatsanwaltschaft ermittelt daraufhin wegen sexuellen Missbrauchs von 12 Jungen in nur einem Jahr, wie der Bistumssprecher heute bestätigt. Nach seiner eigenen Aussage ging H. in der Zeit zum Weihbischof von Soden-Fraunhofen und offenbarte sich ihm. Der kennt den Fall nun von zwei Seiten. Die Kirche reagiert: Während der Ermittlungen wird der Priester kurzzeitig in Archiven und dann bei der Caritas eingesetzt.
Drei Regeln hatte Huth für H. während der Behandlung aufgestellt: Er dürfe nicht mit Jungen arbeiten. Er dürfe keinen Alkohol trinken und er müsse unter Aufsicht gestellt werden. „Dazu habe es keine medizinische Expertise gebraucht“, sagt Huth heute, das seien die gängigen Vorsichtsmaßnahmen, das verstehe sich von selbst. Der heute 90-Jährige Huth praktiziert noch immer in seiner Praxis in München. Diesen Regeln folgte H. offensichtlich nicht. Ein Gericht in Ebersberg verurteilte H. schließlich auf Bewährung von 18 Monaten und zu einer Strafzahlung. Damit ist die Sache für den Staat erledigt. Die Kirche aber teilt H. trotz der Warnung des Psychiaters wieder der Gemeindearbeit zu und versetzt ihn nach Garching an der Alz. Die Gemeinde erfährt nichts von der kriminellen Vergangenheit ihres Pfarrers. Und H. hat wieder Kontakt zu Kindern.
Niemand außer der Opfer wusste, wie gefährlich er für die Kinder ist. Aber das Bistum München erfuhr von neuen Vorwürfen in Garching. Auf Anfrage von CORRECTIV und Frontal21 schreibt ein Sprecher des Bistum München-Freising, dass 1993 aktenkundig war, dass „H. Erstkommunionkinder auf die Stirn geküsst und ein älterer Jugendlicher im Pfarrhof verkehre“. H. habe den Kuss bestritten. Es habe sich um „eine symbolische Handlung ohne unmittelbaren Körperkontakt“ gehandelt. H. habe sich „des Jungen angenommen, da die Mutter auf Abwegen geraten sei“, rechtfertigte sich H. damals.
Der schillernde Freund
Der Weihbischof von Soden-Fraunhofen, der von H.s pädophilen Verhalten wusste, sollte in den folgenden Jahren eine zweifelhafte Rolle spielen. Als er schwer erkrankt, verlegt der Weihbischof 1993 seinen Alterssitz ausgerechnet nach Engelsberg, dem Dorf, das H. zusammen mit Garching betreut.
Es ist dasselbe Jahr, in dem auch das Bistum München über das Verhalten von H. in Garching informiert wird. Auf Anfrage von CORRECTIV schreibt das Bistum, von Soden-Fraunhofen sei aus privaten Gründen nach Engelsberg gezogen. Seine Haushälterin hätte gute Verbindungen nach Engelsberg gehabt und der Weihbischof wäre dem Wunsch seiner Haushälterin gefolgt. Diese Geschichte hört auch die Gemeinde in Garching und Engelsberg, selbst Medien berichten darüber.
Aber die Erzählung ist offenbar nicht der einzige Grund. Gegenüber CORRECTIV sagt Psychiater Huth, dass von Soden-Fraunhofen ihm damals mitgeteilt habe, er würde sich um H. kümmern, wenn er nach Engelsberg zieht. Huth ging davon aus, dass der Weihbischof diese Kontrolle auch durchführt. Als er später hörte, dass H. weiterhin mit Kindern zu tun hatte, war er „entsetzt“, sagt er heute. Er könne sich das nur mit „Verdrängung“ erklären. Der Weihbischof habe ihm auch gesagt, dass er „Kontakte zu Ratzinger hätte“. Zusammen mit H. betreut von Soden-Fraunhofen bis zu dessen Tod sieben Jahre fortan die Gemeinde in Engelsberg und Garching. Eine vergoldete Marmorplatte zeugt noch heute von ihrer gemeinsamen Zeit. Anfänglich habe H. Angst gehabt, erinnert sich der damalige Gemeinderatsvorsitzende Klaus Mittermeier. Wenn der Weihbischof käme, „würde alles anders werden, er würde uns kontrollieren“, erinnert sich Mittermeier an die Aussagen von H. damals. Aber von Soden-Fraunhofen kam und nichts wurde anders. Er schwieg und unternahm nichts, um H. von den Kindern fernzuhalten.
Im Gegenteil, die Pfarrnachrichten beschreiben, dass von Soden-Fraunhofen und H. gemeinsam eine Kindersegnung mit Handauflegung im Dezember 1993 feiern wollen. Dort stand: „Bischof von Soden und Pfarrer H. werden nach einem kindgemäßen Wortgottesdienst allen Kindern die Hände auflegen und sie segnen.“ H. rekrutierte die Messdiener. Nach der Kommunion begann für die Jungen und Mädchen der Messdienerunterricht, den H. leitete. Er füllte den Altarraum in Garching und Engelsberg mit über 100 Ministranten. Von einer Abschirmung des Pfarrers von Kindern und Jugendlichen war in Garching nichts zu merken. H. schuf sich Gelegenheiten und von Soden-Fraunhofen griff nicht ein. Auch als beim Pfarrfest die Vorwürfe an der Mauer standen: kein Wort vom Weihbischof.
Eine Woche nach dem Pfarrfest gibt H. eine neue Ausgabe der Pfarrnachrichten, dem Gemeindeblatt, heraus und bedankt sich bei „allen, die irgendwie geholfen haben, ein herzliches ‘Vergelts Gott!’“. 12.000 Deutsche Mark seien erwirtschaftet worden. Daneben druckt der wegen Kindesmissbrauch verurteilte Priester ein Bild von einem Mann, der aus dem Meer steigt. Er hält zwei nackte Jungen im Arm. Es ist nicht das einzige Foto dieser Art. H. gibt die Pfarrnachrichten für Garching und Engelsberg heraus. Immer wieder veröffentlicht er Jungenfotos, mal ein verträumt blickender Junge vor einer Kerze, ein andermal ein Junge in kurzen Hosen und T-Shirt, der Amphoren trägt oder ein Jungengesicht in einem zersplitterten Bilderrahmen. Für den unwissenden Betrachter können sie harmlos sein, aber von Soden-Fraunhofen wusste von H.s krimineller Vergangenheit. Und der Weihbischof war nach der Aussagen der Menschen in Engelsberg und Garching aktiv. Er hielt Messen und Vorträge, kümmerte sich um die „Jugendlichen“, und er soll immer gesagt haben, er sei „der Kaplan“. Aber wenn es mal zu einem Disput mit H. gekommen war, soll er ihm gesagt haben, „Du bist der Bischof und ich bin der Kaplan“. Auf erneute Nachfrage von CORRECTIV und Frontal21 nimmt das Bistum erneut Stellung zur Rolle des Weihbischofs. „In den Akten finden sich konkrete Hinweise, dass Weihbischof von Soden-Fraunhofen regelmäßig über die Tätigkeit von H. in Garching ohne Beanstandung positiv informiert habe“, schreibt nun das Bistum, und kommentiert lakonisch, die Frage nach dem „Erfolg“ dieser Überwachung beantworte sich „aufgrund des bekannten Geschehens von selbst“.
Was wusste Joseph Ratzinger?
Der Weihbischof schweigt. 1920 wurde von Soden-Fraunhofen in Friedrichshafen geboren, 1951 zum Priester geweiht, zusammen mit Joseph Ratzinger, dem späteren Papst, mit dem ihn eine Freundschaft verband.
Ein Festbuch des Priesterseminars zur Priesterweihe zeugt bis heute von der gemeinsamen Weihe. Als Ratzinger die Erzdiözese in München leitete, war von Soden-Fraunhofen unter ihm Weihbischof. Der Kontakt reißt auch nicht ab, als Ratzinger 1982 nach Rom geht und zum Leiter der Glaubenskongregation aufsteigt. Die beiden Kirchenmänner schreiben sich Briefe, teils mit derben Ausdrücken. Bei einem Disput über eine christliche Sekte, die Ratzinger, kaum in Rom angekommen, rehabilitiert, nennt von Soden-Fraunhofen den Kardinal in einem Brief sogar kumpelhaft „Rindviech“.
Über H. weiß Ratzinger schon lange Bescheid. Jahre vor den Ereignissen in Garching erfährt die Kirche von zwei Jungen, die H. in Essen missbraucht hat. Zu dieser Zeit ist H. als Kaplan in der Diözese Essen tätig. Statt die Polizei zu informieren, wenden sich die Eltern an den Pfarrer. Die Kirche reagiert und versetzt H. nach München. Er solle in Behandlung, eine Strafe muss H. nicht fürchten. Am 3. Januar 1980 bittet der Domkapitular aus Essen seinen Mitbruder in München, ob H. in ein Bistum nach Bayern versetzt werden könne. Bei dem Kaplan läge „eine Gefährdung“ vor, er solle „in München in psychiatrisch-therapeutische Behandlung“ und bei einem „Pfarrer wohnen“. Der Domkapitular aus Essen schreibt, dass ein „Verfahren“ gegen H. nicht anstehe. H. könne „für Gottesdienste und liturgische Dienste in der Gemeinde eingesetzt werden“ und „Religionsunterricht“ in einer „Mädchenschule“ geben. Der Domkapitular aus München macht eine Aktennotiz für den Generalvikar, die besagt, dass über die Angelegenheit auf der Ordinariatssitzung am 15.01.1980 entschieden werde, und schlägt darin schon einen Einsatzort für den Pfarrer in der Gemeinde vor, in der H. nach seiner Versetzung nach München auch Dienst tut.
Von Anfang an sind sowohl das Bistum Essen und München davon ausgegangen, dass H. wieder in der Gemeinde arbeiten könne. Ein möglicher Abzug aus der Gemeindearbeit stand nie zur Debatte. Der Beschluss dazu fällt am 15. Januar in der Sitzung unter der Leitung des damaligen Münchner Erzbischofs Kardinal Ratzinger. Die New York Times griff den Fall auf und berichtete 2010, Ratzinger habe als Erzbischof von der Entscheidung gewusst, dass der übergriffige Priester aus dem Ruhrgebiet trotz seiner Gefährdung wieder in die Gemeindearbeit eingesetzt werden sollte. Die Kirche dementierte damals. Zwar habe „der damalige Erzbischof (und spätere Papst Benedikt XVI.) den Beschluss für die Behandlung des Priesters mitgefasst“, für den Einsatz in der Seelsorge sei Ratzinger aber nicht verantwortlich. Schuld sei vielmehr ein Generalvikar namens Gerhard Gruber, der auch die Verantwortung übernehme. Gruber erneuert diese Übernahme der Verantwortung gegenüber dem Bistum. Heute schwächt das Bistum das starke Dementi vor 10 Jahren etwas ab: „Aus der Aktenlage geht nicht hervor, wie intensiv sich der damalige Erzbischof Joseph Ratzinger mit dem Fall H. beschäftigt hat“.
Doch trotz des Dementis gibt die Kirche zu: Kardinal Ratzinger kannte den Fall H. aus seiner Zeit als Erzbischof. Auch später, als Chef der Glaubenskongregation, unternahm Ratzinger nichts, um die Gemeinde in Bayern vor dem Priester zu schützen.
Ratzinger vor der Tür von H.
Und so kommt es im Jahr 2000 zu einer denkwürdigen Begegnung. Nach Informationen von CORRECTIV trifft der spätere Papst mindestens einmal H., als er seinen alten Freund von Soden-Fraunhofen in Engelsberg besuchen will. Ratzinger ist zu der Zeit Chef der Glaubenskongregation in Rom, der zweite Mann hinter dem Papst. Jetzt bestreitet er das Treffen mit H.
Der Weihbischof sei damals bereits sehr krank gewesen, sagt der ehemalige Pfarrgemeinderat Mittermeier, als H. ihm aufgeregt von seiner Begegnung mit Ratzinger erzählte. Mittermeier hat das Gespräch noch plastisch in Erinnerung. Demnach hat Ratzinger vor der Tür des Pfarrhauses in Garching gestanden und bei H. geklingelt. H. habe ihn gefragt, sagt Mittermeier, „stell Dir vor, wer gestern Abend bei mir vor der Tür stand? Ich hatte natürlich keine Ahnung. Er sagte, es war der Ratzinger selbst.“ Ratzinger habe ihm gesagt, „er wolle zu seinem Studienkollegen von Soden-Fraunhofen“, sagt Mittermeier. Der habe aber, da er schon sehr krank war, nicht geöffnet. Dann habe Ratzinger H. gebeten, dort anzurufen. Der Kardinal habe daraufhin von Soden-Fraunhofen besucht. „Ich weiß allerdings nicht, ob H. mitgefahren ist“, sagt Mittermeier. Auch H. selbst erwähnt das Treffen mit Ratzinger, als er 2010 mit Kirchenvertretern über den Kindesmissbrauch sprach. Das Gespräch ist in Kirchenakten dokumentiert.
Das Erzbistum München bestätigt auf Anfrage von CORRECTIV, dass aus den Personalakten ersichtlich sei, dass Joseph Ratzinger im Januar 2000 von Soden-Fraunhofen besucht habe. Zunächst schrieb der Bistumssprecher auf Anfrage: „Über ein Treffen von Kardinal Joseph Ratzinger mit H. liegen dem Ordinariat keine Erkenntnisse vor“. Nach der Veröffentlichung korrigierte sich das Bistum München: „Diesem Hinweis gehen wir derzeit nach.“ Sie hätten festgestellt, dass die Kirchenakten die Aussagen des H. zu dem Treffen enthalten.
Der emeritierte Papst Benedikt XVI. hat sich auf direkte Anfrage von CORRECTIV und Frontal21 zunächst nicht dazu geäußert. Einen Tag nach der Veröffentlichung rief dessen Privatsekretär Georg Gänswein beim ZDF an und erklärte im Namen Benedikts: „Es trifft zu, dass er im Jahr 2000 den Weihbischof besucht hat, weil er schwer krank war.“ Aber er habe „H. nie persönlich getroffen.“ Während des Besuches bei dem Weihbischof wurde „nicht über H. gesprochen“, erinnert sich Ratzinger. „Dass H. in der Gemeinde lebte, in der von Soden weilte, war bekannt,“ sagte Gänswein. „Alles andere weiß Benedikt nicht mehr.“
Die beiden Freunde, Ratzinger und von Soden-Fraunhofen, standen also in Kontakt, auch als H. gemeinsam mit dem Weihbischof die Gemeinde in Garching und Engelsberg betreute und Ratzinger in Rom Chef der Glaubenskongregation war. Ein halbes Jahr später stirbt der Weihbischof.
Ratzinger unternahm nach dem Besuch bei von Soden-Fraunhofen nichts, um H. aus dem Amt zu entfernen. Es gab keine Verwunderung, keine Besorgnis, keine Untersuchung, keine Konsequenz. Im Gegenteil: Acht Jahre arbeitet H. weiter in Garching. Er leitet die Messdienerausbildung, unterrichtet Schulkinder. Eltern vertrauen ihre Kinder dem Kirchenmann an. Dank seiner Stellung und des Schweigens des Kardinals hat er unzählige Gelegenheiten, sich mit Kindern und Jugendlichen zu umgeben. Ob er sich an weiteren Kindern in dieser Zeit vergeht, ist nicht sicher. H. wollte darüber trotz mehrfacher Nachfragen von CORRECTIV nicht sprechen.
Verjährt, vergessen, verstorben
Erst im Jahr 2008 schreitet die Kirche ein. H. soll versetzt werden. Nach Bad Tölz. Tourismusseelsorger, keine Arbeit mit Kindern mehr. Die Gemeinde zeigt sich empört, schreibt Briefe nach München, um den beliebten Pfarrer zu halten.
Doch der neue Erzbischof Marx bleibt hart. Die Kirche wird zu dieser Zeit durch Missbrauchsskandale in Bonn, Aachen und Trier erschüttert – und Marx hat sich die Akten kommen lassen. Anders als der damalige Erzbischof Ratzinger sieht er sich nun gezwungen einzugreifen. Auch Marx macht den Fall H. nicht öffentlich, unterbindet aber zumindest seinen Kontakt zu Kindern.
Stück für Stück wird nun die Vergangenheit des Peter H. öffentlich. 2010 ermittelt die Staatsanwaltschaft München erstmals wegen sexuellen Missbrauchs in Garching bis 1993. Die Ermittlungen werden zwar wegen Verjährung eingestellt. Doch die Verbindung zwischen Ratzinger und H., die in die Medien kommt, setzt die Kirche unter Druck. H. wird die Erlaubnis entzogen, Seelsorge zu betreiben. Ein Kirchengericht soll die Fälle untersuchen. Anders als das deutsche Strafrecht hat die Kirche die Verjährung für sexuellen Missbrauch ausgesetzt. Neue Opfer melden sich bei Staatsanwaltschaft und Kirche.
Franz Josef Overbeck, Bischof von Essen, und Kardinal Reinhard Marx führen die kirchlichen Untersuchungen, der Fall H. wird zur Chefsache. Aber auch jetzt geht es nicht um die Opfer. 2012 schickte der Essener Bischof einen Brief, der CORRECTIV in Abschrift vorliegt, an Kardinal Marx, der zeigt, was die beiden Kirchenmänner tatsächlich bewegt: „Du weißt, wie ich, dass der Fall Peter H. von vielen Medienvertretern leider auch mit unserem Heiligen Vater, Papst Benedikt XVI. in Verbindung gebracht wird“, schreibt der Bischof von Essen nach München. „(…) vor diesem Hintergrund möchte ich gerne mit Dir vereinbaren, wie wir eine Begleitung und Beobachtung von Peter H. sicherstellen können.“
Der Essener Bischof Overbeck schreibt dazu auf Anfrage CORRECTIV und Frontal21, dass er „das kirchenrechtliche Verfahren“ voranbringen und beschleunigen wollte. „Meine Erwartung war, dass der Fall H. angesichts seiner Dimension schnellstens zu einem Abschluss kommen müsse.“ Auch der Sprecher von Kardinal Marx nahm auf Anfrage zu dem Brief Stellung: Die Untersuchung hätte die „gesamte vorhergehende Tätigkeit von H. zum Gegenstand” gehabt, somit auch die „Jahre der Amtszeit von Erzbischof Ratzinger“.
Dabei häufen sich die Opfermeldungen. Im März 2010 geht nach Berichten der Süddeutschen Zeitung das Ordinariat des Bistums Essen sowie in Freising zwei Fällen nach. Interne Unterlagen belegen, dass die Kirche H. im selben Jahr befragt. Doch der schweigt auf Anraten seines Anwalts. Dementieren will er die Fälle nicht.
Die besten Recherchen per Mail
Im September 2018 erscheint schließlich ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Hinweisen auf einen Missbrauchsfall in Garching. Der Artikel nennt keine Orte und keine Namen. Er beschreibt aber einen Fall, bei dem der betreffende Priester einen 14-jährigen Jungen während der Beichte missbraucht haben soll. Dem Vater sei zu dieser Zeit aufgefallen, wie der Junge immer wieder die Genitalbereiche von Stofftieren zerstört habe. Doch die Kirche will Vater und Sohn nicht glauben. Laut des FAZ-Artikels habe sich der Sohn in psychologische Behandlung begeben. Die FAZ schreibt, dass der Priester die Tat bestreitet und die Kirche der Anschuldigung keinen Glauben schenkt.
Ein Anwohner in Garching bestätigt den Vorwurf: Er habe den Vater gekannt. Ein anderer Garchinger erzählt CORRECTIV, er habe mit dem Sohn in einer Klinik gelegen. Bei einer Gruppentherapie über den Missbrauch sei der Mann schließlich zusammengebrochen. Mehrere Kontaktversuche von CORRECTIV ließ das Opfer unbeantwortet. Das Bistum München bestätigt gegenüber CORRECTIV und Frontal21 diesen Fall. „Das Erzbischöfliche Ordinariat München nahm die Traumatisierung des Betroffenen sehr ernst und leistete finanzielle Hilfe“, schreibt der Bistumssprecher. Die Tatsache, dass das Kirchengericht dem Mann nicht glaubte, will das Bistum nicht kommentieren. Insgesamt gab es nach bisherigen Informationen des Bistums in Garching „drei Betroffene, bei denen es konkrete Anschuldigungen gab“, von 1987 bis 1993, 1994 und 1996. Also zwei Fälle aus der Zeit, als Weihbischof von Soden-Fraunhofen auf H. aufpassen sollte und nach München meldete, dass alles in Ordnung sei. Alle drei Fälle seien von der Staatsanwaltschaft wegen Verjährung eingestellt worden, schreibt das Bistum, allerdings habe das Bistum in zwei Fällen Zahlungen geleistet.
Juristisch ist H. in Garching bis heute kein Missbrauch nachgewiesen worden. Die Staatsanwaltschaft München II schaut sich die Sachlage nun erneut an. Sie prüfe, „ob es weitere Taten gibt und ob Ermittlungen aufzunehmen sind“, sagte eine Sprecherin auf Nachfrage von CORRECTIV und Frontal21.
Es bleibt bei Andeutungen oder Anzeigen, die verjährt sind. Und bei Menschen, die bis heute leiden, weil man ihnen nicht glaubt. Die Berichte aus Essen, Garching, München und Grafing zeigen jedoch, wie er sich unter den Jungen bediente. Wie er Gelegenheiten herbeiführte und diese nutzte. H. könnte zu der Aufklärung beitragen. Aber er schweigt.
2018 veröffentlicht die katholische Kirche nach den aufgekommenen Skandalen eine Studie über Missbrauchsfälle durch Priester. Der Fall H. war nicht der einzige, der die Kirche in Deutschland erschütterte. In Berlin gab es die Fälle am Canisius-Kolleg, in Bonn im Aloisiuskolleg, in Aachen in einem Benediktinerstift, Missbrauch in Ettal oder bei den Regensburger Domspatzen. Die Nachrichten über systematischen Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen kamen Schlag auf Schlag. Kardinal Marx und die deutsche Bischofskonferenz mussten handeln und erklärten sich bereit, alle Fälle des Missbrauchs in Deutschland nach dem Krieg von einer unabhängigen Kommission untersuchen zu lassen. Die Studie wurde dann in Fulda vorgestellt. Die Namen der Opfer und Täter blieben anonymisiert, aber das Ausmaß war erschreckend. In 70 Jahren habe es 1670 beschuldigte Priester und Ordensleute sowie 3677 Opfer gegeben. Die Dunkelziffer sei wahrscheinlich höher. Trotzdem rechnet die Studie zynisch auf, dass auf jeden beschuldigten Priester im Schnitt nur 2,5 Opfer kämen. Doch es ist unwahrscheinlich, dass ein pädosexueller Priester nach zwei oder drei Missbräuchen stoppt – insbesondere, wenn sich die Kirche aktiv an der Vertuschung beteiligt. Allein bei H. zeigt sich, dass die Opferzahl pro Täter 10 mal höher ist.
Und tatsächlich zeigen Recherchen von CORRECTIV, dass H. wohl noch früher als bekannt und noch mehr Jungen als angenommen missbrauchte.
Der nackte Kaplan
Die Kohlestadt Bottrop liegt im nördlichen Ruhrgebiet. Hier in der neugotischen Cyriakus-Kirche hat alles angefangen. Hier begann Peter H. nach seiner Priesterweihe 1973, erstmals als Kaplan zu arbeiten. Und hier, in einem Café nahe der Kirche treffen sich an einem Abend im vergangenen Oktober drei Männer. CORRECTIV hat über die Vermittlung eines der Opfer weitere Personen eingeladen, die sich öffnen wollen. Sie sind Mitte 50. Sie alle kennen H., als sie Ministranten waren. Sie alle geben an, Opfer zu sein.
Auch Dirk Bongartz spricht über die Zeit mit dem Kaplan. Es sei vor der Kommunion passiert. H. habe ihn eingeladen, bei ihm zu übernachten. Doch die Mutter schickt auch den fünf Jahre älteren Bruder und dessen Freund mit. Während die beiden älteren Jungs in einem Zimmer schlafen, will H. mit Bongartz alleine in einem Zimmer die Nacht verbringen. Er zieht sich einen Bademantel an. Schließlich entkleidet er sich ganz und legt sich nackt zu dem Jungen.
„Das war mir unangenehm, das wollte ich nicht“, sagt Bongartz und das habe er auch gesagt. Nur der Bruder und dessen Freund im Nebenzimmer hätten ihn gerettet, sagt Bongartz heute, deshalb habe H. schließlich abgelassen. „Es war eine schreckliche Nacht.“ Er selbst habe mit keinem darüber gesprochen, so Bongartz, aber die Blicke seines Bruders hätten ihm gesagt: „Na siehste, jetzt weißt du, was das für einer ist.“
Die Hüterin der Moral
Dieses Muster zieht sich durch die vielen Jahre, in denen Peter H. straflos und unter dem Schutz der Kirche kleine Jungen missbrauchte. Mit Messwein und kleinen Geschenken machte er sich seine schutzbefohlenen Opfer gefügig. Drohte der Skandal aufzufliegen, versetzte die Kirche H. an einen neuen Ort.
Strafen musste er keine fürchten. Stattdessen deckten ihn Bischöfe und Kardinäle. Und immer wieder bekam er Gelegenheit, sich neue Opfer zu suchen.
Selbst als die Missbrauchsskandale an die Öffentlichkeit drangen und die Kirche in ihren Grundfesten erschütterten, sah sie sich nicht veranlasst, von sich aus nach allen Opfern zu suchen. H. ist vor einem Kirchengericht insgesamt nur für sieben Fälle verurteilt, obwohl das Gericht Hinweise auf 23 Opfer hatte. Heute geht das Bistum Essen und München sogar von 28 Opfern aus.
Bis heute lebt H. als freier Mann.
Während die drei Männer in Bottrop am Cafétisch über H. sprechen, fallen weitere Namen. Zwei Brüder, auch missbraucht. Der eine habe sich tot gesoffen, dem anderen gehe es schlecht. Und dann sei doch noch dieser und jener beim H. gewesen. Die Zahl wächst und wächst. 20 Übergriffe seien es wohl gewesen, so Markus Elstner.
Nach den Jahren des Verdrängens will er nun Gerechtigkeit. Er hat sich einen Anwalt genommen und kämpft um Schadensersatz. 5.000 Euro hat er bisher erhalten. Doch Elstner will mehr. Für seinen Rechtsanwalt Andreas Schulz hat die Kirche mit ihrem Leugnen und Vertuschen eine Schuld an den seelischen Verwüstungen im Leben seines Mandanten. Das gilt auch für all die anderen Opfer des Schweigens. 500.000 Euro fordert Elstners Anwalt nun von der Kirche. Außerdem fordert der Anwalt, dass die Verjährung für Kindesmissbrauch ausgesetzt werden solle. Das Schicksal seines Mandanten zeige, „dass Kinder verdrängen und ihnen erst sehr viel später meist durch leidvolle Therapiesitzungen bewusst wird, was ihnen angetan wurde“. Es könne nicht sein, dass dies die Täter im Nachhinein schütze.
„Den Verantwortlichen im Bistum ist seit Jahren klar gewesen, dass H. wahllos Jungen missbrauchte,“ sagt der Anwalt Schulz. Der Fall zeige die ganze „Verstricktheit der Kirche“, bis hinauf zum emeritierten Papst Benedikt. Erst war Ratzinger Erzbischof, als ein Missbrauchstäter von Essen nach München kam und weiterhin in Gemeinden tätig sein konnte. Dann leitet ein Vertrauter Ratzingers zusammen mit H. nach dessen Verurteilung eine Gemeinde, obwohl er von dessen Gefährlichkeit wusste. Und 2000 steht Ratzinger sogar an der Tür von H. in Garching.
„Die Kirche hat über Jahrzehnte nichts unternommen, die Kinder zu schützen, sie hat versteckt und vertuscht und agierte aus der Sicht meines Mandanten wie eine pädokriminelle Vereinigung“, sagt Anwalt Schulz. Elstner, den der Anwalt vertritt, wird noch deutlicher: „Für mich ist die Kirche eine Institution, in der Pädophile beschützt worden sind.“
Dieser Text wurde am 19.02.2020 aktualisiert, um weitere Stellungnahmen des Bistums München sowie des Papstes Emeritus Benedikt XVI. einzubeziehen.
Vielleicht berührt Sie die Geschichte, weil Sie etwas wissen oder erfahren mussten, was bisher nicht bekannt wurde und worüber Sie bisher nicht reden wollten. Unsere Recherche zum Missbrauch des Pfarrer H. geht weiter. Falls sie H. kannten, sei es aus Bottrop, aus Essen, aus München, Grafing, Garching, Engelsberg oder Bad Tölz, melden Sie sich gern bei uns. Jeder Hinweis ist wertvoll. Und wir behandeln jede Meldung vertraulich. Melden Sie sich bei marcus.bensmann@correctiv.org oder über unseren anonymen Briefkasten.
Missbrauchsopfer oder deren Angehörige, die Beratung und Hilfe suchen, können sich jederzeit an das staatliche „Hilfeportal sexueller Missbrauch” wenden. Unter der kostenfreien Nummer 0800-2255530 informiert das Portal über Therapiemöglichkeiten und juristische Mittel für Betroffene.
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Recherche: Marcus Bensmann, Michael Haselrieder, Anne Herzlieb Redaktion: Olaya Argüeso, Justus von Daniels, Michel Penke Text: Marcus Bensman Fotos: Ivo Mayr Design: Benjamin Schubert, Belén Ríos Falcón
Veröffentlicht am 18.02.2020