Nein, eine britische Studie belegt nicht, dass Geimpfte „nie wieder volle Immunität“ gegen Covid-19 erreichen
Auf einer Webseite wird behauptet, Daten aus Großbritannien zeigten, dass infizierte Geimpfte dauerhaft weniger Antikörper hätten und anfälliger für „Mutationen des Spike-Proteins“, also neue Virusvarianten seien. Das stimmt nicht. Die niedrigeren Antikörperwerte weisen auf einen milderen Krankheitsverlauf bei Geimpften hin.
Im Netz verbreitet sich ein Artikel von The European, in dem es heißt, eine Studie der britischen Gesundheitsbehörde zu Covid-19-Impfungen belege, dass Geimpfte dauerhaft weniger Antikörper gegen das Coronavirus hätten. Der Text mit der Überschrift „Geimpfte können wahrscheinlich nie wieder volle Immunität erreichen“ wurde laut dem Analysetool Crowdtangle bisher fast 6.000 Mal auf Facebook geteilt (Stand: 19. Januar 2022).
Die Behauptung bezieht sich auf einen Wochenbericht der U.K. Health Security Agency. Schon im Dezember 2021 beschäftigten wir uns in einem anderen Faktencheck mit diesen Daten, die mehrfach falsch interpretiert wurden. Anders als behauptet, zeigt der Bericht lediglich, dass Geimpfte bei einer Infektion mit Covid-19 weniger Antikörper eines bestimmten Typs bildeten. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Erkrankung bei ihnen milder verläuft und bedeutet nicht, dass die Geimpften keine volle Immunität entwickeln. Auch dass Geimpfte „dauerhaft“ weniger Antikörper gegen das Coronavirus bilden, geht aus dem Bericht nicht hervor.
Weiter behauptet The European, nicht geimpfte Menschen würde „eine dauerhafte, ja sogar permanente Immunität gegen alle Stämme des angeblichen Virus erlangen, nachdem sie sich auf natürliche Weise auch nur einmal mit ihm infiziert haben“. Auch das ist falsch. Eine Immunität – egal ob durch eine Impfung oder natürliche Infektion – ist beim Kontakt mit einer neuen Virusvariante zwar von Vorteil, kann eine erneute Infektion aber nicht immer verhindern.
U.K. Health Security Agency untersucht Blut von Spenderinnen und Spendern auf Antikörper
The European bezieht sich auf einen Bericht der U.K. Health Security Agency aus der 42. Kalenderwoche (18. bis 24. Oktober 2021). Die Behörde veröffentlicht jede Woche einen Covid-19-Lagebericht für Großbritannien.
Seit Juli 2020 untersucht die britische Behörde auch das Vorkommen von Antikörpern in der Bevölkerung. Konkret wird das Blut von Blutspenderinnen und Blutspendern aus England untersucht. Neue Daten werden monatlich in dem U.K. Health Security Agency Wochenbericht, im Abschnitt „Seroprevalence“; auf Deutsch: Seroprävalenz veröffentlicht. Ähnliche Antikörper-Studien werden auch in Deutschland durchgeführt.
Laut dem Deutschen Zentrum für Infektionsforschung bezeichnet die Seroprävalenz die Häufigkeit spezifischer Antikörper im Blutserum, die auf eine bestehende oder durchgemachte Infektionskrankheit hinweisen.
Es wurden zwei verschiedene Formen von Antikörpern gegen SARS-CoV-2 gemessen
Antikörper sind ein wichtiger Teil des Immunsystems und neutralisieren Krankheitserreger wie Bakterien oder Viren. Man kann sie nachträglich im Blut von infizierten oder geimpften Menschen nachweisen. Für den Nachweis von Antikörpern bei Blutspenderinnen und Blutspendern in England werden zwei verschiedene Antikörper-Tests durchgeführt. Diese werden auch im Artikel von The European erwähnt.
Der „Nucleoprotein (Roche N) antibody assay“ weist Antikörper gegen das sogenannte Nukleokapsid-Antigen nach. Das sind Antikörper, die nur nach einer Infektion mit Covid-19, nicht aber nach einer Impfung, gebildet werden. Der zweite Test, „Roche spike (S) antibody assay“, weist Antikörper gegen das Spike-Protein des Virus nach und lässt Rückschlüsse auf eine Immunantwort nach einer Infektion oder einer Impfung gegen Covid-19 zu.
Zum Verständnis: Das Spike-Protein sitzt auf der Oberfläche des Coronavirus und sorgt dafür, dass es an menschliche Zellen andocken und diese infizieren kann. Die bisher zugelassenen Impfstoffe basieren alle auf diesem Spike-Protein. Nach einer Impfung können also nur Antikörper gegen das Spike-Protein und nicht gegen das Nukleokapsid-Protein vorhanden sein. Hat eine geimpfte Person trotzdem solche „N-Antikörper“, bedeutet das, dass sie zusätzlich einmal mit dem Virus infiziert war.
Artikel zieht falsche Schlüsse aus N-Antikörperwerten
The European bezieht sich auf die N-Antikörperwerte, die nach solchen Impfdurchbrüchen nachgewiesen wurden. Konkret zitiert der Blog einen Satz von Seite 23 des Berichts. Dort heißt es, dass bei Menschen, die nach vollständiger Impfung an Covid-19 erkrankten, die N-Antikörperwerte geringer seien.
Das interpretiert The European so, dass der Impfstoff die körpereigene Fähigkeit beeinträchtige, nach der Infektion Antikörper zu produzieren. Und weiter: „Insbesondere geimpfte Menschen scheinen keine Antikörper gegen das Nukleokapsidprotein, die Hülle des Virus, zu produzieren zu können, die bei nicht geimpften Menschen ein entscheidender Teil der Reaktion sind.“
Diese Schlussfolgerung lässt sich so allerdings nicht ziehen.
Geringe N-Antikörperwerte bei Geimpften weisen auf mildere Krankheitsverläufe hin
Eine Pressesprecherin der U.K. Health Security Agency schrieb uns bereits für unseren ersten Faktencheck zu diesem Thema im Dezember, es sei nicht überraschend, dass Geimpfte weniger N-Antikörper aufweisen, „da bei milderen Krankheitsverläufen die Antikörperantwort geringer ist, und schwere Krankheitsverläufe bei Impfdurchbrüchen unwahrscheinlicher sind“.
Das bestätigte auch der Leiter eines medizinischen Labors und Lehrbeauftragte für Virologie in Frankfurt, Martin Stürmer, auf Anfrage gegenüber ZDFheute: „Das Immunsystem ist schon trainiert und muss daher weniger Aktivität gegen das Virus entwickeln als bei einem Ungeimpften, dessen Immunsystem das Virus zum ersten Mal sieht.“
In dem Artikel von The European wird zudem behauptet, in dem Bericht aus Großbritannien stehe, dass der angebliche Antikörperabfall „im Grunde dauerhaft“ sei. Diese Aussage ist jedoch in dem Bericht nicht zu finden. Auch die weitere Schlussfolgerung des Artikels, Geimpfte seien aufgrund der geringeren Antikörperwerte anfälliger für „Mutationen des Spike-Proteins“, also neuer Virusvarianten, lässt sich durch die Daten nicht belegen.
Auch Ungeimpfte entwickeln nach Infektion keine dauerhafte Immunität gegen alle Virusvarianten
Der Artikel zieht darüber hinaus noch einen weiteren falschen Schluss und behauptet, Ungeimpfte würden nach einer natürlichen Infektion mit dem Coronavirus eine „permanente Immunität gegen alle Stämme des angeblichen Virus erlangen“.
Dass eine Infektion dauerhaft gegen alle Varianten immun mache, gehöre „ins Reich der Fabeln“, sagte Martin Stürmer gegenüber ZDFheute. Auch nach einer durchgemachten Corona-Infektion könnten sich Menschen erneut anstecken, insbesondere mit einer anderen Variante.
Wie lange eine durchgemachte Covid-19-Infektion vor Reinfektion schützt, ist weiterhin unklar. Im September 2021 nahm die Gesellschaft für Virologie dazu Stellung und schrieb zunächst, eine durchgemachte Sars-CoV-2-Infektion würde mindestens ein Jahr Schutz bieten. Anfang Dezember 2021 aktualisierte sie diese Aussage jedoch: Die Datenlage sei widersprüchlich und man könne nicht gesichert davon ausgehen, dass die Immunität ein ganzes Jahr anhält.
In einem wissenschaftlichen Artikel im Magazin The Lancet von November 2021 hieß es noch, es gebe Studiendaten, die einen Schutz vor Reinfektion für mehr als zehn Monate zeigen. Zum Zeitpunkt dieser Studien, die sich auf Daten bis Ende September 2021 beziehen, war aber die Omikron-Variante noch nicht bekannt.
Einem vorläufigen Bericht des Imperial College in London zufolge umgeht Omikron die Immunität sowohl zweifach geimpfter, als auch genesener Personen. Dass Reinfektionen auch in Deutschland vorkommen, zeigt zudem der Omikron-Bericht des Robert-Koch-Instituts – darin wird allerdings nicht unterschieden nach geimpften und ungeimpften Menschen.
Wirkung der Covid-19-Impfung lässt mit der Zeit nach – erste Daten zeigen aber Schutz durch Auffrischungsimpfung auch bei Omikron
Zur Wirksamkeit der Impfungen gegen die Omikron-Variante gibt es bisher keine belastbaren Erkenntnisse. Erste Studien zeigen laut RKI, dass mit einer Auffrischungsimpfung ein guter Schutz erreicht werden könne. Erwähnt wird eine Preprint-Studie aus Großbritannien vom 14. Dezember 2021. Anfang Januar teilte auch die Europäische Arzneimittelagentur mit, dass vorläufige Erkenntnisse durch Studien aus Großbritannien und Südafrika eine Wirksamkeit der Impfstoffe gegen die Omikron-Variante zeigten.
Im RKI-Wochenbericht vom 13. Januar steht: „Alle Impfstoffe, die zurzeit in Deutschland zur Verfügung stehen, schützen nach derzeitigem Erkenntnisstand bei vollständiger Impfung und insbesondere nach Auffrischimpfung die allermeisten geimpften Personen wirksam vor einer schweren Erkrankung. Die Wirksamkeit der einzelnen Impfstoffe gegen die Omikronvariante ist noch nicht endgültig zu beurteilen.“
Seit dem 18. November empfiehlt die Ständige Impfkommission in Deutschland Auffrischungsimpfungen für alle Über-18-Jährigen.
Redigatur: Matthias Bau, Alice Echtermann
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- U.K. Health Security Agency, Lagebericht aus der 42. Kalenderwoche: Link
- SARS-CoV-2: Antikörper-Studien des RKI: Link
- Aktualisierte Stellungnahme zur Immunität von Genesenen, Deutsche Gesellschaft für Virologie (3. Dezember 2021): Link
- Imperial College London: „Omicron largely evades immunity from past infection or two vaccine doses“ (17. Dezember 2021): Link
- Wochenbericht des Robert-Koch-Instituts vom 13. Januar 2022: Link
- EMA: „Preliminary data indicate COVID-19 vaccines remain effective against severe disease and hospitalisation caused by the Omicron variant“ (11. Januar 2022): Link