RKI-Daten belegen keinen Zusammenhang zwischen Covid-19-Impfquoten und hohen Inzidenzen
Ein Youtube-Video stellt zwei Datensätze des Robert-Koch-Instituts gegenüber und suggeriert am Beispiel von Ostdeutschland, eine höhere Covid-19-Impfquote führe zu einer höheren 7-Tage-Inzidenz. Dabei handelt es sich jedoch um eine irreführende Momentaufnahme, die nichts über die Wirksamkeit der Impfstoffe aussagt.
„Studie zeigt schockierende Ergebnisse – Je mehr geimpft wird, desto höher die Ansteckung!“ lautete der Titel eines Youtube-Videos vom 18. Juli mit über 30.000 Aufrufen. In dem Video behauptete ein Sprecher, neueste Studien des Robert-Koch-Instituts (RKI) zeigten, dass in den Bundesländern mit den höchsten Impfquoten auch die 7-Tage-Inzidenzen am höchsten seien und umgekehrt.
Diese Behauptung ist größtenteils falsch. Die im Video angegebenen Zahlen sind richtig, sie stammen jedoch aus zwei unterschiedlichen Statistiken und vergleichen Impf- und Infektionszahlen an zwei verschiedenen Tagen. Die Impfquote ist der ungefähre Anteil aller dreifach Geimpften in der Gesamtbevölkerung, dagegen ist die 7-Tage-Inzidenz die Anzahl der gemeldeten Corona-Fälle pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen. Diese Zahlen in einen direkten Zusammenhang zu setzen, ist irreführend und sagt nichts über die Wirksamkeit der Impfungen gegen SARS-CoV-2 aus.
Die in Deutschland zugelassenen Impfstoffe schützen gut vor schweren Krankheitsverläufen und Tod durch Covid-19. Vor Infektionen mit der Virusvariante Omikron bieten die Impfstoffe von Moderna, Biontech/Pfizer und Johnson & Johnson einen geringeren Schutz als bei anderen Virusvarianten.
Trotz Darstellung richtiger Daten: Irreführender Vergleich von 7-Tage-Inzidenzen und Impfquoten
In dem Video spricht einer der Geschäftsführer des Stuttgarter Unternehmens Hopf Klinkmüller Capital Management (HKCM). Es ist auf dem Youtube-Kanal des Unternehmens aber nicht mehr einsehbar. Auf Nachfrage, warum das Video nicht mehr abgerufen werden kann, antwortete das Unternehmen: „Auch wir mussten feststellen, dass die Quellen, auf denen unsere Schlüsse basierten, keinem tragbaren Standard entsprachen. […] Entsprechend war es uns wichtig, diese Informationen aus dem Video nicht weiter zu präsentieren.“
Es kursieren jedoch weiterhin Kopien des Videos in Sozialen Netzwerken – darin zeigt der Sprecher mehrere Tabellen, in denen die 7-Tage-Inzidenz vom 7. Juli und die Impfquote Ende Juni zu sehen sind. Auf dieser Grundlage behauptet er: „Die Impfquote in Ostdeutschland müsste ja eigentlich demnach höher sein als in Westdeutschland, da die Inzidenzen deutlich niedriger sind als in Westdeutschland. Das Gegenteil ist aber der Fall.“
Um die regionalen Unterschiede zwischen den Bundesländern zu zeigen, präsentiert der Sprecher ab Minute 04:33 Daten des RKI vom 7. Juli 2022. Diese wurden korrekt aus dem täglichen Lagebericht zu Covid-19 entnommen und zeigen, dass die 7-Tage-Inzidenz in den ostdeutschen Bundesländern (außer Berlin) zu diesem Zeitpunkt niedriger war als in den westdeutschen Bundesländern.
Ab Minute 07:20 ist eine Deutschlandkarte mit den Impfquoten aus den jeweiligen Bundesländern zu sehen. Als Quelle wird eine Webseite mit dem Namen „eugyppius“ genannt, offenbar ein privater Blog. Als Datenstand wird „Ende Juni“ angegeben.
Die Grafik zum Anteil der dreifach Geimpften in den Bundesländern, also die Impfquote, finden wir nicht unter der angegebenen Quelle. Ein Abgleich mit den Daten des Impfdashboards des RKI zeigt jedoch, dass es sich vermutlich um den Datenstand vom 27. Juni handelt. Dieser stimmt mit den angegebenen Impfquoten überein.
Zwischenfazit: Es wird also die 7-Tage-Inzidenz von 7. Juli mit den Impfquoten der dreifach Geimpften je Bundesland vom 27. Juni miteinander in Beziehung gesetzt. Das ist irreführend, weil die Daten von unterschiedlichen Tagen stammen und anders erhoben werden. Die Impfquote basiert auf einer Schätzung, während sich die 7-Tage-Inzidenz auf positiv getestete Infektionsfälle pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen bezieht.
Kein kausaler Zusammenhang zwischen hoher Impfquote und hoher 7-Tage-Inzidenz
Das Video suggeriert am Vergleich dieser Zahlen in den alten und neuen Bundesländern, eine hohe Impfquote sei der Grund für hohe Infektionszahlen. Der Titel des Videos („je mehr geimpft wird, desto höher die Ansteckung!“) legt nahe, dass über einen kausalen, also ursächlichen Zusammenhang gesprochen wird. Im Folgenden zeigen wir, warum dies unplausibel ist.
In der Wissenschaft wird unterschieden: Treten zwei Sachverhalte gleichzeitig auf, spricht man von einer „Korrelation“. Ist dagegen ein Sachverhalt der Grund für das Auftreten des anderen Sachverhalts, spricht man von „Kausalität“. Das erklären unter anderem die Universität Duisburg-Essen und die Universität Leipzig übereinstimmend.
Einen kausalen Zusammenhang nachzuweisen ist besonders schwierig, wie die Universität Leipzig schreibt. Dafür müsse ausgeschlossen werden, dass „andere Dinge zur Wirkung geführt haben“ könnten. Im Falle des Videos müsste also gezeigt werden, dass Covid-19-Impfungen die einzige Ursache für eine hohe 7-Tage-Inzidenz sind. Doch das ist mit den Daten aus dem Youtube-Video nicht möglich.
Inzidenzen in den Bundesländern schwanken: Niedrige Impfquote bei gleichzeitig höherer 7-Tage-Inzidenz
Zu einem Anstieg der registrierten Infektionen kann es aus zahlreichen Gründen kommen, wie das RKI in seinem Wochenbericht (S. 6) vom 21. Juli schreibt: „Die beobachteten geografischen Unterschiede der Meldeinzidenzen können möglicherweise neben einem unterschiedlichen Test- und Impfverhalten auch durch den regional unterschiedlichen Verlauf vorangegangener Infektionswellen erklärt werden.“
Letzteres zeigt sich mit Blick auf die Infektionszahlen seit Beginn der Corona-Pandemie, schreibt die Pressestelle des RKI auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck: „Wie im Archiv der Situationsberichte zu sehen, hatten die Bundesländer mit den niedrigsten Impfquoten wochen- und monatelang mit die höchsten Inzidenzen.“ Das war zum Beispiel am 30. November 2021 in Sachsen und Thüringen der Fall. Als geimpft galten zu diesem Zeitpunkt alle Menschen, die eine Zweitimpfung oder eine Einmal-Impfung mit dem Johnson & Johnson-Impfstoff erhalten hatten. Dagegen hatte Schleswig-Holstein an diesem Tag eine der höchsten Impfquoten und die niedrigste 7-Tage-Inzidenz aller Bundesländer.
Das war auch wenige Tage nach dem Erscheinen des Videos zu beobachten, wie aus dem Wochenbericht (S. 7) des RKI vom 21. Juli hervorgeht. So hatte Schleswig-Holstein einen deutlichen Rückgang bei der Zahl der Infektionen zu verzeichnen (minus 24 Prozent), wohingegen in Sachsen (plus 16 Prozent) und Thüringen (plus 24 Prozent) die Zahl der Infektionen deutlich stieg, obwohl die Impfquoten nahezu gleich blieben.
Covid-19-Impfstoffe schützen wirksam vor Infektion und schwerem Krankheitsverlauf
Am Ende des Videos zählt der Sprecher drei Möglichkeiten auf, die angeblich erklären können, warum eine hohe Impfquote und eine hohe 7-Tage-Inzidenz gleichzeitig auftreten können – Belege nennt er dafür jeweils nicht. Die erste Möglichkeit sei, dass Inzidenzen in Ostdeutschland so niedrig waren, weil dort weniger Menschen getestet werden. Es könne aber auch sein, dass die Impfung nicht „die versprochene Wirkung“ entfalte und die natürliche Immunität von Nicht-Geimpften ausreichend stark sei oder Geimpfte „leichter ansteckbar“ seien.
Wie wir bereits in mehreren Faktenchecks im Jahr 2021 berichteten, kann der Anstieg von Corona-Infektionszahlen durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst werden, wie zum Beispiel durch die Zahl der durchgeführten Corona-Tests oder den Anteil von geimpften Personen an der Gesamtbevölkerung.
Fakt ist: Menschen können beim Kontakt mit neuen Viren wie SARS-CoV-2 trotz eines funktionierenden Immunsystems krank werden. Eine Impfung trainiert das Immunsystem vorab, damit das möglichst nicht passiert. Darüber berichteten wir ausführlich in einem Faktencheck im November 2021.
Die Corona-Impfstoffe schützen zwar nicht immer vor einer Infektion, doch sie schützen gut vor einem schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf, wie wir zuletzt am 25. Juli berichteten. Gegen eine Infektion mit der Delta-Variante zeigen die Covid-19-Impfstoffe von Biontech/Pfizer, Moderna und Astrazeneca eine Wirksamkeit von etwa 75 Prozent und gegen eine schwere Covid-19-Erkrankung von etwa 90 Prozent, wie das RKI auf seiner Website angibt (Stand: 7. Juni 2022). Vor einer Infektion mit der Omikron-Variante, die aktuell in Deutschland vorherrschend ist (PDF-Download), bieten die Impfstoffe einen geringeren Schutz als vor der Delta-Variante – auch darüber informiert das RKI auf seiner Internetseite. Was ein geringerer Schutz konkret bedeutet, lässt sich momentan nicht sagen, da bislang noch nicht ausreichend Daten vorhanden sind.
Fazit: Die im Video genannten Zahlen belegen keinen Zusammenhang zwischen der 7-Tage-Inzidenz und der Impfquote. Steigt die 7-Tage-Inzidenz trotz hoher Impfquote, heißt das erstmal nur, dass sich mehr Menschen infizieren – die Begründung dafür lässt sich aus den Daten nicht ablesen.
Redigatur: Matthias Bau, Sarah Thust
Update, 5. August 2022: Wir haben die Rückmeldung des Stuttgarter Unternehmens Hopf Klinkmüller Capital Management ergänzt, die uns nach Veröffentlichung des Textes erreichte.
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Täglicher Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 7. Juli 2022: Link
- Impfdashboard vom 27. Juni 2022: Link
- Täglicher Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 30. November 2021: Link
- Impfdashboard vom 30. November 2021: Link
- Wöchentlicher Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 21. Juli 2022: Link
- Informationen des Robert-Koch-Instituts zur Wirksamkeit der Covid-19-Impfstoffe: Link