Doch, die Polizei verfolgt Ladendiebstähle in Sömmerda
Anders als in einem Video behauptet, toleriert die Polizei im thüringischen Sömmerda keine Ladendiebstähle. Die Behauptung, Einzelhändler sollten bei Diebstählen durch Geflüchtete nicht in jedem Fall die Polizei anrufen und stattdessen Rechnungen an die Behörden schicken, ist laut der Landespolizei Erfurt „schlichtweg falsch“.
In Sozialen Medien (hier, hier, hier und hier) kursiert seit dem 31. Juli ein Video. Nutzerinnen und Nutzer teilen es mit der Behauptung: „150 Roma-Großfamilien aus der Ukraine bekommen Wohnungen in Sömmerda Thüringen und die Geschäfte wurden informiert, nicht bei jeder Straftat die Polizei zu rufen.“
Der Mann, der in dem Video zu sehen ist, behauptet, die Polizei habe „Geschäfte in der Gegend“ vor Diebstählen gewarnt. Die Ladenbesitzer sollten in solchen Fällen nicht jedes Mal die Polizei rufen, sondern Rechnungen schreiben und diese „an die Behörden schicken“. In dem Video selbst wird der Landkreis Sömmerda nördlich von Erfurt zwar nicht genannt, unsere Recherchen zeigen jedoch, dass es dort vor einer mittlerweile in Betrieb genommenen Unterkunft für Geflüchtete aufgenommen wurde.
Wir haben zu dem Video und den Vorwürfen das Landratsamt von Sömmerda, die Polizei Erfurt und mehrere Einzelhändler in der Region kontaktiert. Die Betreiber mehrerer Supermärkte sagten uns, dass es dort nicht mehr Diebstähle gebe als sonst.
Julia Neumann, Pressesprecherin der Landespolizei Erfurt, teilte uns mit, die Behauptung in dem Video sei „schlichtweg falsch“ und entspreche nicht den Tatsachen. Der Bürgermeister der Stadt, in der sich die Unterkunft befindet, dementierte die Behauptungen ebenfalls.
Landespolizei: Ermittlungsverfahren gegen Urheber des Videos – Mann steht schon wegen anderem Vorfall vor dem Amtsgericht
Zu Beginn des Videos ist der Name des Manns vor der Kamera eingeblendet: Thomas B. Er steht aktuell vor dem Amtsgericht Sömmerda und muss sich wegen Nötigung und Freiheitsberaubung verantworten. Wie der MDR am 29. Juni berichtete, hielt der ehemalige Schulbusfahrer im September 2020 einen Bus mit Kindern an und forderte sie auf, ihre Corona-Schutzmasken abzunehmen, weil angeblich Kinder durch das Tragen von Schutzmasken gestorben seien. Wir haben diese Behauptung bereits im Oktober 2020 in einem Faktencheck überprüft und fanden dafür keine Belege.
B. filmte den Vorfall im Bus und veröffentlichte ihn im Internet. Auf seiner Facebook-Seite und seinem Telegram-Kanal berichtet er regelmäßig über die aktuelle Gerichtsverhandlung. Ein Vergleich mit Aufnahmen aus diesen Kanälen zeigt, dass es derselbe Mann ist, der auch im aktuellen Video spricht. Das Video, das sich nun in den Sozialen Medien verbreitet, fanden wir (Stand 11. August) weder auf seinem Telegram-Kanal, noch auf seiner Facebook-Seite.
Pressesprecherin Neumann teilte uns mit, dass der Verfasser des Videos im Verdacht stehe, sich mit dem Video der Volksverhetzung schuldig gemacht zu haben, es laufe ein Ermittlungsverfahren.
Video zeigt Gemeinschaftsunterkunft in einem Industriegebiet in Kölleda
Um herauszufinden, ob das Video, wie auf Twitter behauptet, in Sömmerda aufgenommen wurde, suchten wir zunächst nach den Schlagworten „Sömmerda, Unterkunft, Geflüchtete“. So stießen wir auf einen Artikel der Thüringer Allgemeine vom 14. Juli.
Der Artikel mit dem Titel „Gemeinschaftsunterkunft in Kölleda wird erneut gebraucht für Flüchtlinge“ zeigt ein Gebäude im Landkreis Sömmerda, genauer im Stadtteil Kiebitzhöhe der Stadt Kölleda. Das Gebäude auf dem Foto entspricht in wesentlichen Merkmalen dem Gebäude im Video, vor dem der Verfasser steht: Die roten Streifen am unteren Ende (grüne Markierung) und in der Mitte des Gebäudes (gelbe Markierung) sowie die Anordnung und die Form der Fenster (blaue Markierung) sind identisch. In der Luftansicht auf Google-Maps ist zudem eine Feuertreppe zu erkennen (rote Markierung), die auch im Artikelbild der Thüringer Allgemeinen zu sehen ist. Das Gebäude liegt in einem Industriegebiet, wie uns der Fotograf des Bildes und Autor des Artikels, Armin Burghardt, telefonisch bestätigte.
Aus dem Artikel geht zudem hervor, dass das Haus erst wieder für die Inbetriebnahme als Geflüchtetenunterkunft hergerichtet werden muss. Es seien Instandsetzungsmaßnahmen im Sanitär- und Elektrobereich und beim Brandschutz nötig. Wir haben beim Landratsamt Sömmerda nachgefragt und erhielten von dort die Auskunft, dass die Gemeinschaftsunterkunft seit dem 5. August in Betrieb sei, also nachdem das Video aufgenommen wurde. In einem Artikel der Thüringer Allgemeinen vom 5. August heißt es, dass in der Gemeinschaftsunterkunft aktuell 41 Bewohnerinnen und Bewohner leben.
Bürgermeister dementiert Behauptungen über „zu erwartende“ Diebstähle
Der Thüringer Allgemeinen gegenüber dementierte der Bürgermeister von Kölleda, dass er mit Verwaltungsmitarbeitern Supermärkte aufgesucht und dort darum gebeten hätten, bei „zu erwartenden“ Ladendiebstählen keine Anzeige bei der Polizei zu erstatten und dass die Stadt für die Schäden aufkomme. „Das ganze Gegenteil habe man bezweckt, gesagt und getan“, heißt es im Artikel. Man habe bei den Besuchen Aufklärung geleistet und darauf hingewiesen, dass jeder einzelne potenzielle Vorfall zur Anzeige gebracht werden solle, so der Bürgermeister.
Das schrieb uns auch Stephanie Behrens, Pressesprecherin der Rewe Gruppe Region Ost. Sie schrieb uns, in Kölleda würden Polizeibeamte den Markt teils präventiv besuchen und den Geschäftsführer über Entwicklungen informieren. Die Beamten hätten darum gebeten, jeden Diebstahl zur Anzeige zu bringen. „Unabhängig vom Alter, Aussehen oder Herkunft der Täter und Täterinnen verständigt das Marktteam bei Diebstählen seit jeher die Polizei und erstattet Anzeige.“ Ein verändertes Aufkommen bei Diebstählen habe man jedoch nicht verzeichnet.
Supermärkte in der Region verzeichnen keine erhöhte Anzahl an Diebstählen
Wir haben weitere Supermärkten im Umkreis der geplanten Unterkunft nachgefragt, ob es dort in den letzten Tagen und Wochen vermehrt zu Diebstählen gekommen sei. Alle Supermärkte, die wir erreichen konnten, verneinten das.
Die Geschäftsführenden eines Edeka- und eines Nahkauf-Supermarktes in Sömmerda – der gleichnamigen Stadt im Landkreis, die nur wenige Kilometer von Kölleda entfernt ist – sagten uns telefonisch, Diebstähle gebe es immer, eine erhöhte Anzahl sei aktuell aber nicht festellbar. Auch ein Pressesprecher von Aldi Nord teilte uns telefonisch mit, an den Vorwürfen sei „überhaupt nichts dran“. Eine Sprecherin des Einzelhändlers Kaufland schrieb uns, man habe „keinen derartigen Hinweis der Polizei“ erhalten und stelle auch kein „verändertes Kundenverhalten fest“.
Diese Aussagen decken sich mit der Auskunft von Julia Neumann, Pressesprecherin der Landespolizei Erfurt: Man habe in Sömmerda keine erhöhte Anzahl an Straftaten registriert. „Seit dem 01.01.2022 bis zum 15.07.2022 wurden in Sömmerda von der Polizei vier Straftaten im Zusammenhang mit Tatverdächtigen, die die ukrainische Staatsbürgerschaft besitzen, erfasst. Darunter befindet sich eine Anzeige wegen Ladendiebstahls.“
Landkreis nahm Geflüchtete aus der Ukraine auf
Wie die Thüringer Allgemeine am 9. Juli berichtete, kursierten seit der Aufnahme von 160 Geflüchteten aus der Ukraine im Landkreise Sömmerda vermehrt Gerüchte und Anschuldigungen. So wurde etwa behauptet, die Pässe der Geflüchteten seien gefälscht, was sich laut der Thüringer Allgemeinen als falsch herausstellte. Die Geflüchteten gehörten mehrheitlich der Bevölkerungsgruppe der Roma an.
Ähnliches schildert Ellis Patz, Leiter der Flüchtlingsbetreuung des Arbeiter-Samariter-Bundes in der Stadt Sömmerda, telefonisch gegenüber CORRECTIV.Faktencheck. Hinzu käme, dass die geflüchteten Familien vor allem auf der Hauptstraße Sömmerdas sehr präsent seien: „Wenn 40 Menschen plötzlich in den Vorgärten der Anwohner sitzen, dort ihre Kinder stillen und ihren Müll hinterlassen, erregt das Unmut.“ Wichtig sei es nun, die Geflüchteten durch mehr Personal betreuen zu lassen und an der landesweiten Verteilung der Menschen zu arbeiten.
Jens Hellmann vom Verein Romnokehr, der sich für die Interessen von Sinti und Roma in Thüringen engagiert, sagte uns telefonisch, bei den allermeisten geflüchteten Roma in Sömmerda handele es sich um junge Frauen und Kinder. Viele der Geflüchteten hätten keine Deutschkenntnisse, daher sei es wichtig, weitere Übersetzerinnen und Übersetzer zu engagieren.
Das Landratsamt teilte uns mit, es gebe keine „signifikante Kriminalitätssteigerung in der Stadt und im Landkreis Sömmerda“. Man werde dennoch „im Bereich der Sicherheitsdienste, der sozialen Betreuung und der Bestreifung durch Ordnungsbehörden verstärkt Maßnahmen ergreifen, um Sauberkeit, Sicherheit und Ordnung im Landkreis zu erhalten.“
Redigatur: Viktor Marinov, Sophie Timmermann