Keine Belege, dass Wasserwerke Beruhigungsmittel lagern, um es bei sozialen Unruhen ins Trinkwasser zu mischen
Im Netz kursiert eine angebliche Meldung, derzufolge deutsche Wasserwerke über Vorräte an Beruhigungsmitteln verfügten, die bei sozialen Unruhen ins Trinkwasser „gekippt“ würden. Doch dafür gibt es keine Belege. Die Behauptung wird seit mindestens 10 Jahren verbreitet. Trinkwasser in Deutschland wird streng kontrolliert.
Auf Facebook,Twitter und Whatsapp wird eine Meldung mit dem Titel „Sicheres Vermögen“ geteilt. Darin heißt es, die Leiterin eines Wasserwerkes habe auf einer Konferenz „unvorsichtigerweise“ berichtet, dass im Wasserwerk ihrer Stadt Fässer mit Beruhigungsmitteln und „speziellen chemischen Zusätzen“ bereitstehen würden, das treffe auch auf andere große deutsche Städte zu. Käme es zu Protesten und sozialen Unruhen, würden die Beruhigungsmittel in das Trinkwasser „gekippt“. Der Text wirkt auf den ersten Blick wie aus einer Printzeitung. Unter dem Artikel ist das Logo von Welt Online zu erkennen.
Einige Nutzer und Nutzerinnen sind wegen des Artikels beunruhigt. Sie fragen, woher der Artikel stamme und ob er echt sei. Unsere Recherche zeigt: Der vermeintliche Artikel stammt nicht aus der Zeitung Die Welt, sondern aus einem Newsletter eines ehemaligen Börsenbriefs. Er kursiert bereits seit längerem im Netz und wurde mehrfach verwendet, um Ängste in der Bevölkerung zu schüren. Für die Behauptung gibt es jedoch keine Belege.
Mehrere Wasserverbände und Wasserwerke, die Verbraucherzentrale sowie das Gesundheitsministerium schließen eine Lagerung von Beruhigungsmitteln in Wasserwerken und deren Beimischung ins Trinkwasser aus. Wasserversorger in Deutschland unterliegen der Trinkwasserverordnung und werden durch die Gesundheitsämter überwacht. Die Qualität des Trinkwasser wird regelmäßig streng geprüft. Ein Verstoß gegen die Verordnung würde daher nicht unentdeckt bleiben und wäre eine Straftat.
Meldung stammt nicht aus der Welt, sondern aus einem Börsenbrief und kursiert seit mindestens 2012
Wir haben zunächst recherchiert, wo und wann die Meldung veröffentlicht wurde. Eine Suche mit der Überschrift der Meldung („Sicheres Vermögen“) bei der Pressedatenbank Genios ergibt keine Treffer für Welt Online oder andere Medien. Auch eine Stichwortsuche bei Google liefert keine Hinweise darauf, dass die Meldung in der Welt oder bei Welt Online erschienen wäre. Der Welt-Leserservice teilt uns auf Anfrage mit, dass das Logo bereits seit Jahren nicht mehr in Verwendung sei und der angebliche Artikel nicht von der Zeitung stamme. Der Artikel über Immobilienfonds, der auf dem Screenshot unter dem ehemaligen Logo zu sehen ist, erschien dagegen tatsächlich am 20. März 2012 in der Welt.
Eine Googlesuche mit dem gesamten Text führt zu zwei Blogeinträgen (hier und hier), die ebenfalls aus dem Jahr 2012 stammen. In einem der Blogs wird als Quelle der „Geldbrief“ genannt. Laut der gleichnamigen Webseite handelt es sich dabei um einen Börsendienst, den der Anlageberater Hans-Peter Holbach herausgibt. Holbach schreibt uns auf Anfrage, dass der Bericht vor Jahren tatsächlich im Geldbrief zu lesen war. Er stamme jedoch nicht von ihm, sondern aus dem Newsletter eines anderen Börsenbriefs mit dem Namen „Sicheres Vermögen“.
Mehrere Blogeinträge zeigen, dass es einen Börsenbrief namens „Sicheres Vermögen“ gegeben hat. Die zugehörige Webseite ist mittlerweile jedoch nicht mehr in Betrieb.
Auffällig ist, dass der vermeintliche Artikel formal nicht zu einer Nachrichtenmeldung passt: Es fehlen genaue Angaben und Quellen, um welches Wasserwerk, welche Städte oder welche Konferenz es sich handeln soll. Auch einige der Formulierungen, wie etwa „vertrauliche Plauscherei“, sprechen gegen einen seriösen Bericht. Fest steht, der vermeintliche Bericht kursiert immer wieder im Netz: So berichtete etwa die Taz im Mai 2020, dass der Verschwörungstheoretiker Attila Hildmann die Behauptung auf Telegram teilte.
Trinkwasser in Deutschland wird streng geprüft
Wir haben Behörden und Experten um Einschätzung der Behauptung gebeten. „Da die Wasserwerke, auch aufgrund ihrer Rolle als Kritische Infrastruktur, strengen Kontrollen unterliegen, halte ich die Meldung für äußerst unwahrscheinlich“, schreibt uns Christiane Seidel, Referentin beim Bundesverband Verbraucherzentrale, auf Anfrage. Die hygienischen Anforderungen für die Trinkwasserqualität seien in der Europäischen Trinkwasserrichtlinie, der deutschen Trinkwasserverordnung und im Infektionsschutzgesetz festgelegt.
Laut Paragraph 4 der Trinkwasserverordnung muss „Trinkwasser […] so beschaffen sein, dass durch seinen Genuss oder Gebrauch eine Schädigung der menschlichen Gesundheit, insbesondere durch Krankheitserreger, nicht zu besorgen ist. Es muss rein und genusstauglich sein“, heißt es im Gesetz. Daher sind die Wasserversorger nach Paragraph 14 dazu verpflichtet, in regelmäßigen Abständen Untersuchungen des Trinkwassers vorzunehmen. Kontrolliert wird dies vom jeweiligen Gesundheitsamt. Die Ergebnisse werden an das Umweltbundesamt und die EU-Kommission gemeldet.
„Aufgrund dieser sorgfältigen Überwachungen durch eine unabhängige Institution gibt es keinerlei Anlass für derartige absurde Gerüchte“, schreibt uns Sabine Wächter, Pressesprecherin beim Deutschen Verein des Gas- und Wasserfaches. Die Behauptung spiele mit den Ängsten der Bevölkerung im Zusammenhang mit der Trinkwasserversorgung und sei daher verantwortungslos und gefährlich.
Absichtliche Beigabe von Beruhigungsmitteln wäre eine Straftat
Franz-Xaver Kunert, Präsident des Deutschen Bunds der verbandlichen Wasserwirtschaft, schreibt uns, Trinkwasser gelte als das am besten untersuchte Lebensmittel in Deutschland. „Würde jemand Arzneimittel im Wasserwerk in den Prozess geben, so wäre dies eine Straftat.“
Aus der Presseabteilung des Gesundheitsministerium antwortet uns Parissa Hajebi, dass die absichtliche Dosierung von Beruhigungsmitteln ins Trinkwasser ausgeschlossen werden könne. „Ein Wasserversorger kann niemals ein Interesse haben, dass Beruhigungsmittel dem Trinkwasser zugesetzt werden. Die Gesundheitsämter überwachen die Wasserversorgungsunternehmen und würden eine entsprechende Straftat aufdecken.“ Zwar würden Arzneimittel von Patienten und Patientinnen nach der Einnahme teilweise ausgeschieden oder Restmengen nach Ablaufdatum unsachgemäß über das Abwasser entsorgt, deren Konzentration sei aber so gering, dass kein Grund zu einer gesundheitlichen Besorgnis bestehe.
Auch die Pressestelle des Verbands kommunaler Unternehmen, dessen Mitglieder rund 90 Prozent aller Einwohner Deutschlands mit Trinkwasser versorgen, schreibt uns auf Anfrage, dass ein solcher Vorgang ausgeschlossen werden könne. Es wären große Mengen an Beruhigungsmitteln notwendig, um überhaupt eine spürbare Konzentration zu erreichen. „Solche Vorräte an Beruhigungsmittel gibt es nicht.”
Beruhigungsmittel im Trinkwasser laut Wasserwerken ein unrealistisches Szenario
Wir haben zusätzlich bei den Wasserversorgern der drei größten deutschen Städte nachgefragt, ob ein solcher Vorgang bekannt sei. Laut Astrid Hackenesch-Rump von den Berliner Wasserbetrieben sei das Szenario ebenso unrealistisch wie unrealisierbar. „Die Mengen [an Beruhigungsmitteln, Anm. d. Red.], die wir dazu vorhalten müssten, sprengen jede Lagerkapazität.“ Das Berliner Trinkwasser werde rund um die Uhr in den Wasserwerken, aber auch an Zwischenpumpwerken, im Rohrnetz und an Trinkbrunnen kontrolliert. Monatlich gebe es demnach insgesamt 2.436 Trinkwasseruntersuchungen in Berlin.
Auch Ole Braukmann, Pressesprecher vom Unternehmen Hamburg Wasser, hält ein solches Szenario für unrealistisch: „Unser Trinkwasser wird täglich an mehreren Orten (Brunnenumfeld, Wasserwerke, Netz, Endverbraucher) überprüft. Allein im Jahr 2021 sind in unserem Labor 62.725 Proben analysiert worden.“ Michael Silva von den Münchner Stadtwerken schreibt uns, dass die Behauptungen jeglicher Grundlage entbehren.
Deutsches Trinkwasser hat eine gute bis sehr gute Qualität
Das Umweltbundesamt veröffentlicht alle drei Jahre einen Bericht über die Trinkwasserqualität. Der letzte Bericht für den Zeitraum 1. Januar 2017 bis 31. Dezember 2019 erschien im Mai 2021. Das Trinkwasser in Deutschland sei von guter bis sehr guter Qualität, heißt es. „Bei nahezu allen mikrobiologischen und chemischen Qualitätsparametern hielten über 99 Prozent der untersuchten Proben die gesetzlichen Anforderungen ein.“
Verbraucher und Verbraucherinnen können sich darüber hinaus beim jeweiligen Wasserversorger über die Ergebnisse der Trinkwasseruntersuchungen informieren. Die Versorger sind laut Paragraph 21 der Trinkwasserverordnung mindestens jährlich zu einer Auskunft über die Qualität des Trinkwassers verpflichtet.
Redigatur: Matthias Bau, Uschi Jonas
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Europäische Trinkwasserrichtlinie, 16. Dezember 2020: Link
- Deutsche Trinkwasserverordnung, 21.Mai 2001: Link
- Infektionsschutzgesetz, 20. Juli 2000: Link
- Bericht über die Trinkwasserqualität in Deutschland 2017 bis 2019, Umweltbundesamt, Mai 2021: Link (PDF)