Faktencheck

Vergleiche internationaler Strompreise greifen meist zu kurz – Deutschland liegt aber tatsächlich weit vorne

In Sozialen Netzwerken kursiert seit Wochen tausendfach ein Diagramm, laut dem Deutschland die höchsten Strompreise weltweit habe. Es fehlt wichtiger Kontext: Die Daten sind nicht aktuell und der Vergleich vernachlässigt den Faktor Kaufkraft. Doch unbestritten ist, dass Deutschland in internationalen Statistiken stets weit oben liegt.

von Paulina Thom

Strommast
Vergleiche von Strompreisen einzelner Länder, die die Kaufkraft ignorieren, sind irreführend (Symbolbild: Pixabay / NickyPe)
Behauptung
Deutschland habe die höchsten Strompreise der Welt.
Bewertung
Fehlender Kontext
Über diese Bewertung
Fehlender Kontext. Das Diagramm zeigt veraltete Strompreise aus dem Jahr 2020. Tatsächlich hat Deutschland im weltweiten Vergleich relativ hohe Strompreise: In einem kaufkraftbereinigten Vergleich landete Deutschland im zweiten Halbjahr 2021 weltweit auf Rang 15.

„Auf die Frage, weshalb ein Land die höchsten Energiepreise der Welt hat, kann es eigentlich nur eine Antwort geben: Weil es die dümmste Energiepolitik der Welt hat.“ Dieses Zitat, das dem Schweizer NZZ-Journalisten Alexander Kissler zugeschrieben wird, verbreitet sich seit Wochen zusammen mit einer Strompreisstatistik auf Facebook. Das Land mit den höchsten Strompreisen der Welt ist der abgebildeten Grafik zufolge Deutschland.

Doch die Preise sind aus dem Jahr 2020. Aktuelle internationale Vergleiche sind nicht möglich, da Daten fehlen. Zudem vernachlässigt der Vergleich auf Facebook die sogenannte Kaufkraft. Diese zeigt an, wie viel sich Verbraucher und Verbraucherinnen in den jeweiligen Ländern leisten können. Unter Einbeziehung der Kaufkraft belegte Deutschland im Dezember 2021 weltweit laut Verivox den 15. Platz der höchsten Strompreise.

Screenshot des Facebook-Beitrages
Die Statistik mit den Strompreisen wurde auf Facebook mehr als 9.000 Mal geteilt (Quelle: Facebook; Screenshot und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Strompreise in der Grafik stammen aus dem Jahr 2020

Als Urheber des Zitats in dem Beitrag ist der Journalist Alexander Kissler angegeben. Tatsächlich hat er diesen Satz am 14. August 2022 in einem Twitter-Beitrag geschrieben. Die Formulierung „dümmste Energiepolitik der Welt“ geht aber offenbar auf den Titel eines Meinungsartikels im Wall Street Journal vom 29. Januar 2019 zurück. In dem Artikel wurde kritisiert, dass Deutschland nach der Abkehr von der Atomkraft auch noch den Kohleausstieg plant. Dass Deutschland die höchsten Energiepreise weltweit habe, steht darin aber nicht.

Laut Grafik stammen die Preise von der Seite Global Petrol Prices aus dem Jahr 2020, sind also zwei Jahre alt. Die damaligen Strompreise sind auf Global Petrol Prices nicht mehr einsehbar. Über das Internet Archive finden sich jedoch die vierteljährlich erhobenen Preise für März, Juni, September und Dezember 2020 in US-Dollar. In den vier Monaten führte Deutschland die Statistik an. 

Im Dezember 2021 befand sich Deutschland weltweit auf dem vierten Rang

Beim Statistischen Bundesamt finden sich die Strompreise europäischer Länder für das zweite Halbjahr 2020. Auch hier liegt Deutschland vorn. Dominik Möst, Professor für Energiewirtschaft an der TU Dresden, schreibt uns auf Anfrage, dass die Angaben der Preise in der Grafik grundsätzlich passen. Deutschland sei im letzten Jahrzehnt dauerhaft unter den Top 5  der Länder mit den höchsten Strompreisen weltweit und in einzelnen Jahren auf dem ersten Platz gewesen. 

Die aktuellsten weltweiten Zahlen von Gobal Petrol Prices stammen von Dezember 2021. Hier liegt Deutschland mit 33,9 US-Cent pro Kilowattstunde an vierter Stelle, hinter Bermuda, Dänemark und den Kaimaninseln. Der Preis laut Statistischem Bundesamt für das zweite Halbjahr 2021 liegt mit 32,87 Cent leicht darunter

Aktuelle Strompreise schwer zu ermitteln – Vergleiche nicht möglich   

Offizielle Zahlen zu aktuellen Strompreisen in Deutschland liegen nicht vor. Das Vergleichsportal Verivox schätzt, dass die aktuellen Strompreise bei einem jährlichen Verbrauch von 4.000 Kilowattstunden durchschnittlich bei knapp 42 Cent pro Kilowattstunde liegen. Der BDEW, ein Interessenverband der Energiewirtschaft, kommt für Juli 2022 bei einem Jahresverbrauch von 3.500 Kilowattstunden auf durchschnittlich 37,3 Cent pro Kilowattstunde

Wo die deutschen Strompreise aktuell im internationalen Vergleich liegen, ist ebenfalls schwer zu ermitteln, da keine offiziellen Daten für alle Länder vorliegen. Dominik Möst von der TU Dresden schrieb uns, dass die derzeitigen beobachtbaren Preissteigerungen auch andere Länder betreffen und nicht nur ein deutsches Phänomen seien. In Italien lag der Preis im dritten Quartal 2022 laut der Regulierungsbehörde für Energie, Netze und Umwelt beispielsweise bei 41,51 Cent pro Kilowattstunde.

Faktor Kaufkraft sollte bei Vergleichen berücksichtigt werden  

Christoph Weber, Professor für Energiewirtschaft an der Universität Duisburg, schreibt uns auf Anfrage, dass mehrere Faktoren den absoluten Strompreis beeinflussen. Manche Länder etwa subventionierten den Strompreis stark, wie Venezuela. Auch die für die Umrechnung in US-Dollar herangezogenen Wechselkurse seien relevant: „Standard-Wechselkurse berücksichtigen nicht die Kaufkraftunterschiede zwischen den Ländern.“ Beziehe man die Kaufkraft in den Vergleich mit ein, verändere dies die Reihenfolge der Länder. 

Die Kaufkraft – auch Geldwert genannt – gibt an, wie viele Güter mit einer bestimmten Menge Geld gekauft werden können. Steigen die Lebenshaltungskosten, sinkt die Kaufkraft, das bedeutet der Wert des Geldes verringert sich. Die Kaufkraft variiert je nach Land. Möchte man wissen, wie stark die Strompreise die Verbraucher und Verbraucherinnen bestimmter Länder betreffen, reicht es demnach nicht, nur die absoluten Strompreise zu vergleichen. 

Während Dänemark und Deutschland laut dem Europäischen Statistikamt Eurostat im zweiten Halbjahr 2021 bei absoluten Strompreisen im europäischen Vergleich vorne lagen, verzeichnen unter Einbezug der Kaufkraft Rumänien und Spanien die höchsten Strompreise. 

Im weltweiten Vergleich belegt Deutschland kaufkraftbereinigt laut einer Verivox-Analyse von November 2021 den 15. Platz. Wie uns ein Sprecher von Verivox bereits für einen Faktencheck im März mitteilte, liegt Deutschland in diesem Vergleich hinter Tschechien und Rumänien

Bei einem aktuellen kaufkraftbereinigten Vergleich europäischer Hauptstädte landet Berlin auf dem zehnten Platz

Aktuellere Daten für Europa liefert die Seite Energy Price Index. Sie vergleicht die kaufkraftbereinigten Stromkosten für Haushalte europäischer Hauptstädte. Dieser Analyse nach waren die Strompreise im August 2022 in Rom, London und Prag am höchsten. Berlin folgt an zehnter Stelle.

Diagramm der kaufkraftbereinigten Strompreise europäischer Hauptstädte, Berlin liegt auf dem zehnten Platz
Bei einem kaufkraftbereinigten Vergleich europäischer Hauptstädte landet Rom an erster und Berlin an zehnter Stelle (Quelle: Energy Price Index; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Redigatur: Steffen Kutzner, Alice Echtermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Daten zur Energiepreisentwicklung, Statistisches Bundesamt: Link (PDF)
  • Internationale Strompreise laut Global Petrol Prices, Dezember 2021: Link
  • Preisstatistik Elektrizität, Europäische Statistikbehörde Eurostat, April 2022: Link 
  • Strompreisanalyse, Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft, 21. Juli 2022: Link
  • Strompreise in Italien, italienische Regulierungsbehörde für Energie, Netze und Umwelt: Link
  • ​​Verbraucher-Atlas: Weltweite Strompreise, Verivox, November 2021: Link
  • Household Energy Price Index, Energy Price Index, August 2022: Link