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CORRECTIV berichtet seit 2021 gemeinsam mit Lokalmedien aus ganz Deutschland darüber, wie oft Frauenhäuser voll belegt waren und welche Konsequenzen das für die Frauen hat.
Gerichte nehmen Frauen ihre Kinder weg, wenn sie häusliche Gewalt und Missbrauch schildern. Mehrere Betroffene berichten über ihre verzweifelte Lage, darunter die Ex-Partnerin eines ehemaligen Bundesliga-Profis. Über Drohungen, Schläge und Manipulation. Eine Recherche von CORRECTIV und Süddeutscher Zeitung.
von Gabriela Keller und Maike Backhaus
24. März 2023
Eine Frau verschwindet, mit ihren zwei Kindern. Sie leben nun in einer ruhigen Siedlung, wo sie niemand kennt. Aber Marina Blum weiß, dass ihr Ex-Mann sie sucht und die Polizei nach ihnen gefahndet hat. Und wenn sie sie finden, dann war alles umsonst.
Blum sitzt in einer engen Küche, den Rücken zum Fenster. Sie hat ihrem Sohn die Kopfhörer vom Tablet übergezogen. Die Tochter liegt mit einer Erkältung im Bett, die Mutter sagt: „Ich habe lange nachgedacht: Machst du das oder machst du das nicht?“, sagt sie. „Wenn es eine andere Option gegeben hätte, hätte ich sie genommen.“
Marina Blum ist auf der Flucht, vor ihrem Ex-Mann und vor den Behörden. Ein Jahr lang hat sie vor Gericht gekämpft immer mit dem Gefühl, nicht gehört und nicht ernst genommen zu werden – egal, was sie vorbrachte: „Ich hatte Angst um meine Kinder.“ Mehrfach hat sie versucht, die Gerichte mit ihren Hinweisen zu erreichen.
Viele ihrer Aussagen sind in den Gerichtsakten dokumentiert, sie behauptet: Psychoterror, massiver Druck, Kameras im Haus. Aber es könnte noch etwas Schlimmeres passiert sein: Zuletzt verdichtete sich ihr Verdacht, dass der Vater die Tochter sexuell missbraucht haben könnte. „Ich habe das Gefühl, dass mir aufgrund des Status des Vaters gar nicht erst geglaubt wird“, sagt sie. „Egal was ich sagte, es wurde nicht für voll genommen.“
Ihr Ex-Mann weist auf Anfrage von CORRECTIV und Süddeutscher Zeitung (SZ) alle Vorwürfe von psychischen oder physischen Misshandlungen der Kinder über seinen Anwalt zurück: Er spricht von „monströsen falschen Beschuldigungen“, von „widerlichen Lügen“: Als Motiv für die nach seiner Darstellung falschen Aussagen führt er einen Gerichtsbeschluss von Ende Januar an, wonach die Kinder dauerhaft beim Vater leben sollten. Da habe Blum „die Keule Pädophilie herausgeholt und zugeschlagen“. Sie verstecke die Kinder und verstoße damit gegen richterliche Anordnungen, sie müsse beide sofort zurückbringen.
Marina Blum heißt eigentlich anders. Sie wollte offen und unter echtem Namen sprechen. Aber sie zu nennen, würde bedeuten, dass die Identität ihres Ex-Partners bekannt würde. Dagegen spricht die Unschuldsvermutung. Die Vorwürfe gegen ihn sind gravierend.
Blums Ex-Partner ist ein prominenter Mann. In den 1990er Jahren war er als Fußballprofi in der Bundesliga erfolgreich. Danach arbeitete er als Trainer. Noch heute wird er als Bundesliga-Legende von Sport-Magazinen aufgeführt.
CORRECTIV berichtet seit 2021 gemeinsam mit Lokalmedien aus ganz Deutschland darüber, wie oft Frauenhäuser voll belegt waren und welche Konsequenzen das für die Frauen hat.
Marina Blum hatte lange das Gefühl, die Justiz gegen sich zu haben. Als sie mit den Kindern untertauchte, wurde gegen sie wegen Kindesentziehung ermittelt. Das Blatt hat sich seitdem gewendet. Die Staatsanwaltschaft hat die Mutter entlastet. Nun wurde ein Ermittlungsverfahren gegen den Vater eingeleitet. Das für die Familiensache zuständige Amtsgericht bewertete Blums Vorwürfe von Misshandlungen der Kinder jetzt als „derart konkret, dezidiert und schwerwiegend“, dass man ihnen nachgehen müsse.
Ihre Geschichte ist eine Geschichte über eine Schieflage an deutschen Familiengerichten. Es geht um Warnsignale, die niemand sehen will, um Vorwürfe, Gutachten, erzwungene Umgänge. CORRECTIV und Süddeutsche Zeitung (SZ) haben mehr als zehn Verfahren in Kindschaftssachen recherchiert, in denen Hinweise auf körperliche oder psychische Gewalt von Gerichten beiseite gewischt oder schlicht ignoriert wurden, mehr noch: Die Frauen, mit denen CORRECTIV und SZ sprachen, gerieten selbst unter Verdacht – wegen Belastungseifer, Bindungsintoleranz oder Entfremdung, so die Fachbegriffe. Im Grunde bedeuten sie alle das gleiche: Die Frau erhebt fingierte Vorwürfe und manipuliert die Kinder, um die Beziehung des Mannes zu den Kindern zu sabotieren. In mehreren Fällen wurden Umgangs- und Sorgerechte der Mütter in Folge ihrer Aussagen massiv eingeschränkt – und auf mutmaßlich gewalttätige Väter übertragen.
Der Fall von Marina Blum ist einer von vielen, wie viele, weiß niemand, weil es dazu keine Statistiken gibt, und das ist ein Teil des Problems. Ein prominentes Beispiel ist der Fall Jérôme Boateng: Der Fußballprofi soll seine Ex-Freundin Sherin S. im Sommer 2018 geschlagen und verletzt haben; er bestreitet das. Strafrechtlich wurde er verurteilt, die Revision läuft noch. Vor dem Familiengericht aber fielen Sherin S.’ Aussagen nicht Boateng, sondern ihr zur Last. Nach Informationen von CORRECTIV darf sie die gemeinsamen Kinder seit Monaten nur bei begleiteten Umgängen sehen, also unter Aufsicht, etwa eines Umgangspflegers – so schädlich soll der Kontakt mit der Mutter für die Töchter aus Sicht der Behörden sein. Der Vorwurf gegen sie lautete: „Belastungseifer.“
CORRECTIV und SZ haben die Aussagen der Frauen mit Dokumenten, Fotos und Attesten abgeglichen, mit Zeugen gesprochen und hunderte Seiten Gerichtsakten gelesen.
Mehreren Frauen, mit denen CORRECTIV sprach, wurde von ihren Anwältinnen empfohlen, Übergriffe ihrer Ex-Partner im Gericht nicht zur Sprache zu bringen.
„Zu dem, was mir gegenüber passiert ist, hat meine Anwältin immer gesagt: ‚Bloß nicht ansprechen. Das wird Ihnen als Rachefeldzug ausgelegt‘“, sagt eine Betroffene.
„Er wurde immer aggressiver, hat mich gegen Schränke geschubst, ich war teilweise übersät mit Hämatomen“, sagt eine Frau aus Niedersachsen. „Meine Anwältin hat gesagt: ‚Wenn Sie das zur Sprache bringen, verlieren Sie das Kind.‘“
Fälle wie diese sind der Grund, weswegen Frauenrechtlerinnen und Rechtsexperten Alarm schlagen und sogar der Europarat Deutschland rügt: „Mit Besorgnis“ beobachte man Hinweise auf das „hohe Risiko, dass Gewalt gegen Frauen und Kinder“ vor Gericht „unerkannt bleibt und/oder bestritten wird“, schreibt die Expertengruppe des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Kinder (GREVIO) in ihrem ersten Bericht über Deutschland und attestiert der deutschen Justiz erhebliche Mängel.
In Fachkreisen sind diese Probleme längst bekannt; kürzlich erschien dazu ein Fachbuch von der Sozialwissenschaftlerin Christina Mundlos, „Mütter klagen an: Institutionelle Gewalt gegen Frauen und Kinder im Familiengericht“. Auch in den Medien erschienen zuletzt verstärkt Berichte über Fälle betroffener Frauen. Der Familienrechtsexperte Thomas Meysen, Leiter des SOCLES International Institute for Socio-Legal Studies in Heidelberg, fordert deshalb Gesetzesänderungen: „Wir haben strukturelle Probleme – häusliche Gewalt ist beim Umgangs- und Sorgerecht bisher nicht abgebildet“, sagt der Jurist. „Wir haben keinen Fokus darauf: Was bedeutet die Gewalt für den betroffenen Elternteil – und wie kann er geschützt werden? Das fehlt im Gesetz völlig.“
Aber noch ist nicht klar, wohin die Entwicklung geht. Denn es gibt auch Druck in die andere Richtung: Seit einiger Zeit formieren sich sogenannte Väterrechtler – darunter Akteure, die Frauenhäuser als „rechtsfreien Raum“ bezeichnen und Berichte über häusliche Gewalt „realitätsferne Propaganda“ nennen. Der Einfluss dieser Lobbygruppen reicht bis in die Politik, über die CSU, die AfD und vor allem in die FDP.
Marina Blum hat versucht, sich Gehör zu verschaffen. Manches aber deutete sie nur an und besonders schwerwiegende Vorwürfe behielt sie für sich – ihr Anwalt habe sie gewarnt: „Er hat mir davon abgeraten, manche Dinge zu erwähnen, weil es sonst heißt, ich hätte keine Bindungstoleranz und es wäre ein Belastungseifer da.“ Vor Gericht habe man sie auflaufen lassen: „Wenn ich das ansprechen wollte, ist mir die Richterin über den Mund gefahren. Die haben es mir umgedreht: Ich wolle ihn nur schlecht machen.“
CORRECTIV und SZ haben das Amtsgericht gebeten, Stellung dazu zu nehmen. Das Gericht antwortet darauf nicht; Verhandlungen und Anhörungen in Familiensachen seien nicht öffentlich. Es sei daher nicht möglich, „Auskünfte aus den Akten zu erteilen, insbesondere Bewertungen oder Stellungnahmen zum Verfahren abzugeben.“
Ihr Ex-Mann bestreitet, je Gewalt gegen die Kinder ausgeübt zu haben. Sein Anwalt schickt Beschlüsse des Gerichts, Gutachten und Schreiben, in denen die Behörden seiner Darstellung stets zu folgen scheinen: Das Wohnen beim Vater entspreche am ehesten dem Wohl der Kinder, heißt es darin, und in einem Gutachten steht: Der Vater zeige eine „deutlich ausgeprägtere Bindungstoleranz“ als die Mutter, so dass das „Risiko einer Entfremdung“ zwischen Kindern und Vater bestehe, sollten sie bei Blum bleiben.
Seit einigen Wochen aber liegt ein neuer Gerichtsbeschluss vor: Es stehe demnach „nunmehr insbesondere der Verdacht im Raum, dass der Kindesvater sexuelle Handlungen“ an der Tochter vorgenommen habe und beide Kinder im Haus „(unbemerkt) filmt“, schreibt das Amtsgericht, an dem der Familienrechtsstreit verhandelt wurde. Der Anwalt von Blums Ex-Partner weist das zurück. Die Vorwürfe seien „komplett erlogen“. Blum sei es, die die Kinder gefährde, da sie diese aus ihrem Umfeld gerissen habe.
Ob es zu einem Strafverfahren gegen den Vater kommt, steht noch nicht fest. Der Fall liegt jetzt bei der Staatsanwaltschaft. Der Vater kündigt an, Blum wegen falscher Verdächtigung anzuzeigen. Ein Verfahren gegen Marina Blum wegen Kindesentziehung wurde wieder eingestellt. Es liege kein Anlass zur Erhebung einer öffentlichen Klage vor.
CORRECTIV und SZ haben im vergangenen Herbst zu Fällen von häuslicher Gewalt bei Profi-Fußballern recherchiert und beunruhigende Muster von Einschüchterung und Machtmissbrauch aufgedeckt. Nun liegen neue Hinweise vor, die nahelegen, dass die Männer auch gemeinsame Kinder nutzen, um Ex-Partnerinnen nach der Trennung weiter zu kontrollieren und unter Druck zu setzen. Die Missstände gehen aber noch tiefer, viele Frauen sind betroffen, weil einige Familiengerichte häusliche Gewalt wegignorieren.
Im Oktober vergangenen Jahres eröffnete ein prominenter Fall Einblicke in die Missstände: Der Fußball-Weltstar Jérôme Boateng stand vor dem Münchner Landgericht I, weil er seine Ex-Freundin Sherin S. geschlagen, beleidigt und angespuckt haben soll.
Ein Jahr zuvor war Boateng in erster Instanz wegen Körperverletzung verurteilt worden. Er bestreitet alle Vorwürfe; auf eine aktuelle Anfrage von CORRECTIV und SZ reagierte er nicht. Aber auch in dem Berufungsverfahren läuft es für ihn nicht gut: Mehrere Zeugen belasten ihn schwer, Fotos und Atteste belegen Verletzungen von S.
Dann zieht sein Verteidiger Peter Zuriel eine Karte, wie es scheint, um das Verfahren doch noch zu seinen Gunsten zu wenden: Er kommt auf die gemeinsamen Töchter zu sprechen, die bei Boateng in Frankreich leben. Der familienrechtliche Streit zwischen beiden zieht sich seit 2015 hin. „Trifft es zu, dass Sie am 27.8.2018 einen Antrag gestellt haben, das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf Sie zu übertragen?“, fragt Zuriel im Gericht.
Schmutzkampagnen, Schläge, Tritte, Psychoterror – mehrere Ex-Partnerinnen von Profifußballern sprechen gegenüber CORRECTIV und Süddeutscher Zeitung erstmals von struktureller Gewalt.
„Ich habe es sehr oft versucht“, sagt Sherin S.
All das hat nichts mit dem Strafprozess zu tun. Es handelt sich um zwei getrennte Verfahren. Zuriel will S. offenbar in Zweifel ziehen: Sie lüge, so argumentiert er am Landgericht, um Boateng vor dem Familiengericht in ein schlechtes Licht zu rücken. Dann ruft er in den Gerichtssaal: „Sie darf nur begleiteten Umgang mit ihren Kindern haben.“
Der Verteidiger breitet vor Gericht weitere Details aus dem nicht-öffentlichen Verfahren aus: „Es gab ein psychologisches Gutachten, bei wem die Kinder besser aufgehoben sind.“ Das Ergebnis: Beim Vater. Der Gutachter habe S. „Belastungseifer“ attestiert.
Auf Anfrage dazu antwortet Zuriel nicht. Für die Revision hat Boateng einen neuen Anwalt mandatiert, der reagierte ebenfalls nicht auf Anfrage. Sherin S. wollte dazu gegenüber CORRECTIV und SZ nichts sagen. Aus ihrem Umfeld heißt es: Der Grund, warum das Gericht begleitete Umgänge verordnete, seien die Gewaltvorwürfe gewesen: Nicht nur habe ihr das Gericht nicht geglaubt. Ihr wurde unterstellt, dass sie ihre Umgänge nutze, um vor den Kindern gegen Boateng zu hetzen. Denn auch die Mädchen sollen von Vorfällen häuslicher Gewalt gesprochen haben. Bemerkenswert ist: Das Familiengericht traf diese Entscheidung, als der Termin für die erste strafrechtliche Verhandlung gegen Boateng bereits feststand.
Das Amtsgericht München teilt dazu mit, familienrechtliche Verfahren würden nicht öffentlich geführt, daher könne man dazu keine Auskunft dazu geben. Die Familienrichter und -richterinnen des Amtsgerichts München würden „umfassend auf den Gebieten des Familienrechts geschult, auch im Bereich der häuslichen Gewalt“.
Vor dem Landgericht aber konnten sich Boatengs Verteidiger nicht durchsetzen. Er wurde erneut schuldig gesprochen. In dem Urteil heißt es zu Sherin S.: „Ein Belastungseifer war nicht feststellbar.“ Boateng, Sherin S. und Staatsanwaltschaft haben Revision eingelegt. Das Familiengericht München hat seine Entscheidung bisher nicht revidiert.
Während der Verhandlung im Oktober sagte Sherin S.: „Direkt nach der Körperverletzung, am nächsten Tag, habe ich gesagt: ‚Ich werde dich anzeigen.‘ Da hat er gesagt: ‚Wenn du mich anzeigst, dann sorge ich dafür, dass die Kinder ins Heim kommen.‘“
Boateng und seine Anwälte reagierten auf diesen Vorwurf nicht.
Der Fall von Sherin S. hat Kreise gezogen. Für mehrere Ex-Partnerinnen von Fußballern, mit denen CORRECTIV sprach, stellt er eine Warnung dar: Über eine der Frauen hatten CORRECTIV und SZ im Oktober berichtet, zu ihrem Schutz nennen wir sie Teresa Schwarz. Ihr Ex-Partner, ein Bundesliga-Spieler, soll sie jahrelang körperlich und psychisch misshandelt haben. Der Spieler weist sämtliche Vorwürfe zurück.
Schwarz hat Angst vor ihrem Ex-Freund, er soll auch die Umgangstermine mit den Kindern genutzt haben, um sie zu schikanieren. Deswegen wandte sie sich an das Familiengericht und beantragte eine neue Regelung der Umgänge. Als Schwarz zu der Gewalt aussagen wollte, sei sie abgewürgt worden: „Die Richterin hat gesagt: Ich soll mich zusammenreißen. Er sei der beste Vater der Welt, das soll ich meinen Kindern vermitteln.“
Bei den Fußballprofis kommen der Starfaktor, das Geld und das Machtgefälle hinzu. Aber wie die Recherche von CORRECTIV und SZ zeigt, kann praktisch jede Betroffene bei häuslicher Gewalt vor dem Familiengericht in eine praktisch ausweglose Lage geraten. Bloß fehlt es an Statistiken. „Wenn wir valide Zahlen hätten, gäbe es einen anderen Handlungsdruck“, sagt Stefanie Ponikau, zweite Vorsitzende der Mütterinitiative für Alleinerziehende (MIA). „So kann man immer sagen: Es sind alles Einzelfälle.“
Zum einen erschöpfen sich Betroffene an einer alten frauenfeindlichen Erzählung – der von der rachsüchtigen Ex-Frau, die vor nichts zurückschreckt, um dem Mann zu schaden. Aber es kommt noch mehr hinzu: In der Justiz herrscht Personalnot, landauf, landab stapeln sich an überlasteten Familiengerichten die Akten. Sorgerechts- oder Umgangs-Verfahren sind oft kompliziert und verworren. Hinweisen auf häusliche Gewalt nachzugehen, dauert lange. Die Kinder sollen Kontakt zu beiden Eltern haben – das ist die Maxime. Wer dem anderen Elternteil Übergriffe vorwirft, kann zum Störfaktor werden.
Damit haben nicht nur Mütter zu kämpfen, es gibt auch gewalttätige Frauen. Und Männer, die sich an der Justiz aufreiben. CORRECTIV und SZ haben mit zwei betroffenen Vätern gesprochen. Sie beschreiben eine ähnlich verzweifelte Lage – nur spiegelverkehrt. „Man muss sich die Fälle sehr genau angucken“, sagt Stefanie Ponikau. „Dass vor Gericht im Schnellschnell-Verfahren Menschen in Kategorien von Gut und Böse aufgeteilt werden – das funktioniert nicht.“
Häusliche Gewalt trifft in vier von fünf Fällen Frauen. Und in einigen der Verfahren, die CORRECTIV und SZ recherchiert haben, wirkt es, als nutzten die Ex-Partner die Verfahren, die Umgangstermine, die ständig neuen Anträge dazu, die Frauen zu schikanieren.
An einem Tag im Spätsommer 2019 holte Marie Pollath ihren Sohn, damals im Kleinkindalter, nach einem Besuch von ihrem Ex-Mann ab. Ihr Name ist geändert, weil sie Repressalien von den Behörden fürchtet. Sie packte gerade die Sachen ihres Kindes zusammen, da habe ihr Ex-Mann ihr plötzlich mit voller Wucht mit einem Gegenstand auf Kopf und Oberkörper geschlagen, sagt sie. „Ich hatte massive Hämatome und Schädelverletzungen.“
Ein paar Monate später sollte sie das Kind dem Vater wieder einmal übergeben. Sie hielt den Jungen, er wollte nicht mit dem Vater gehen, wehrte sich, schrie, da soll er beide attackiert haben, sie stürzten hin, sie schlug sich den Kopf an einer Bank an. Eine Augenzeugin fand sie so vor, Mutter und Kind, auf dem Boden. Es wurde Anzeige erstattet, eine eidesstattliche Versicherung der Zeugin liegt CORRECTIV und SZ vor: Wegen beider Übergriffe wurde der Vater zu einer Geldstrafe verurteilt.
Danach drehte sich alles um. Pollath verlor ihren Sohn, Zug um Zug, an ihren Ex-Mann. „Mein Kind hat durchgängig die Gewaltvorwürfe bestätigt bei Gericht“, sagt sie. „Ich komme mir vor wie in einem Labyrinth, wo ich bin, gehen die Türen zu.“
Marie Pollath ist Akademikerin, wie viele Frauen in dieser Geschichte. Ihr ist wichtig, das zu sagen, damit klar wird, dass so etwas nicht nur in sozial benachteiligten Schichten vorkommt. Schon während der Ehe, sagt sie, habe ihr Mann sie geschlagen und den Sohn schon als Kleinkind misshandelt. Er habe das Kind so stark angebrüllt, dass es sich in die Hosen gemacht habe und es allein gelassen. Aber Pollath kam vor Gericht nicht gegen ihn an. Sie stammt nicht aus Europa. Das habe ihr Ex-Mann genutzt, um zu behaupten, sie wolle das Kind ins Ausland entführen. Pollath sagt, das hatte sie nie vor. Sie habe sich immer an die Regeln gehalten. Offenbar half es ihr nicht.
Auch der Wille des Kindes spielte keine Rolle. Mehrere Anhörungsprotokolle bestätigen, dass der Junge immer wieder sagte: Er wolle nicht zum Vater. Mehrfach und spontan, so geht es aus den Unterlagen hervor, habe er gesagt, er wolle am liebsten zu seiner Mama. Und am Ende des Gesprächs fragte er noch, warum das denn nicht gleich gehe.
Das Kind flehte, das Gericht entschied anders. Im Herbst 2020 beschloss das Gericht, dass der Grundschüler zum Vater ziehen müsse. Die Richterin notiert in einem Vermerk, dass der Junge den Kontakt vehement ablehne. Normale Besuche beim Vater seien so nicht möglich. Sie rechne mit einer Gefährdung des Kindeswohls – nicht ausgehend von dem gewalttätigen Vater, sondern von dem mangelnden Kontakt zu ihm. Der Junge müsse ganz beim Vater leben, und zwar ab sofort. Noch am selben Tag sollte er ihn mitnehmen. CORRECTIV und SZ liegen Belege vor, dass er bei der Abholung in Panik geriet, gellend schrie, weinte, minutenlang, und immer wieder rief: „Ich habe Angst.“
CORRECTIV und SZ liegen drei weitere Fälle vor, in denen Kinder auf Gerichtsbeschluss unter Zwang zu ihren Vätern gebracht wurden – trotz Hinweisen auf häusliche Gewalt. Vor gut einem Jahr stellte der Soziologe Wolfgang Hammer seine Studie „Familienrecht in Deutschland“ vor und kam darin zu einem vernichtenden Ergebnis: „Es besteht dringender Handlungsbedarf“, schreibt Hammer: „Psychische, physische und sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Müttern wird in den untersuchten Verfahren teilweise ignoriert, bagatellisiert oder negiert. Vielfach erfolgt eine Täter-Opfer-Umkehr.“
Die Hammer-Studie hat Kritik auf sich gezogen. Manche Fachleute werfen dem Soziologen Einseitigkeit und unwissenschaftliche Standards vor. Hammer hat 1.000 Verfahren ausgewertet und 92 genauer analysiert. Die Neue Richtervereinigung hielt dagegen, es handele sich um Einzelfälle, „bei jährlich etwa 150.000 Verfahren vor deutschen Familiengerichten“ sei die Auswahl „nicht einmal ein minimaler Ausschnitt“.
Fünf Jahre ist es her, dass Deutschland ein Übereinkommen des Europarates ratifiziert hat, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, besser bekannt als Istanbul-Konvention. Darin steht klar: Ist es zu häuslicher Gewalt gekommen, muss die Sicherheit des Kindes und des betroffenen Elternteils zwingend berücksichtigt werden. Tatsächlich gibt es Familiengerichte, die entsprechende Hinweise sehr ernst nehmen. Inzwischen liegen Urteile vor, die sich in der Begründung auf die Istanbul-Konvention beziehen.
Aber es gibt auch die anderen Fälle. Die Frauen, mit denen CORRECTIV sprach, haben wenig gemeinsam. Sie kennen einander nicht und leben in unterschiedlichen Städten. Sie alle eint das Gefühl, den Gerichten ausgeliefert zu sein. Sie waren es, die geschlagen, geschubst, gedemütigt wurden. Und vor Gericht stehen plötzlich sie da als das Problem.
Marina Blum, die Ex-Partnerin des 90er-Jahre-Fußballstars, versteckt sich inzwischen seit drei Monaten mit ihren Kindern. In einer ruhigen Siedlung in einer Kleinstadt irgendwo haben sie eine Bleibe gefunden. Ihr Zimmer ist hell, sauber und gerade groß genug für ein Bett, einen Schrank und einen Tisch. Immerhin, sagt sie, richten die Behörden jetzt ihren Blick auf den Vater. Nur warum erst jetzt? „Sie hätten doch von Anfang an den Hinweisen nachgehen können“, sagt sie, „dann hätte es nicht so weit kommen müssen.“
Juristisch gesehen hat sie die Kinder nicht entführt. Was sie getan hat, ist also kein strafrechtlicher Verstoß. Aber das Gericht hat sie mehrfach aufgefordert, die Kinder sofort zurückzubringen. Würde sie das tun, kämen ihre Kinder in eine Pflegefamilie. „Natürlich ist die ganze Situation nicht einfach“, sagt sie, „aber die Kinder sind in Sicherheit.“ Zumindest vorläufig. Sie hofft, dass sie alle bald wieder nach Hause fahren können, zurück in ein normales Leben.
Aber sie macht sich nichts vor, noch kann die Sache so ausgehen oder so: Das Gericht hat zwar dem Vater das Sorgerecht entzogen, aber auch ihr. Die Kindesmutter, so steht es im Bescheid des Gerichts, verhalte sich „massiv kindeswohlgefährdend“, indem sie sich mit den beiden an einem „noch immer unbekannten Ort aufhält, nicht bekannt ist, wie es den Kindern geht“ und sie „weder in die Kita noch in die Schule gehen können.“
Blums Trennung von ihrem Ex-Mann liegt mehrere Jahre zurück. Es war keine gute Beziehung. Ihr Leben, sagt sie, war geprägt von Demütigungen und totaler Kontrolle. Ihr Ex habe Kameras im Haus angebracht, sie beobachtet, über eine App auf ihrem Handy getrackt, sie niedergemacht und beschimpft: „Fotze“, „Schlampe“.
Sie sagt, mit der Zeit fühlte sich abhängig und minderwertig. „Man ist irgendwann abgehärtet“, sagt sie, „und dann sind die Sachen nicht mehr so schlimm.“
Ihr Ex-Mann teilt dazu mit, die Beziehung stand gegen Ende „nicht mehr zum Besten“, so dass sich beide „verbal nicht immer freundlich begegneten“. Die Kameras im Haus räumt er ein, schreibt aber, Blum sei damit einverstanden gewesen und habe sie mitgenutzt.
Marina Blum sagt jetzt in der Stille der Küche, sie habe mit der Zeit nicht mehr gewusst, was sie vor Gericht vorbringen könne und was nicht. Ihr Anwalt hatte ihr gesagt: Die Vorwürfe sollten nicht zu hart ausfallen – sonst setze sie ihr Sorgerecht aufs Spiel. Es ist nicht so, dass sie es nicht probiert hätte. CORRECTIV liegen gut ein Dutzend Schriftsätze ihres Anwalts vor, in denen angebliche Vernachlässigungen und Misshandlungen aufgeführt sind.
Im Juni 2022 sagte die Tochter bei einer Anhörung aus, dass sie lieber bei ihrer Mutter leben möchte. Als der Vater den Vermerk las, habe er wütend reagiert und das sechs Jahre alte Kind vier Tage lang mit „Arschloch“ angeredet. „Sie kam zurück, sie war fertig mit der Welt“, sagt Blum. „Sie war psychisch fertig und hat sich wieder eingenässt.“
Ihr Ex-Mann sagt, das sei „vollständiger Quatsch“. Seine Ex-Frau wisse nur zu gut, wie sehr er auf „rücksichtsvolle, höfliche und schimpfwortfreie Sprache der Kinder“ achte.
Einen Monat nach der Anhörung der Kinder, im Juni 2020, beschließt das Gericht, dass die Kinder zunächst vorläufig beim Vater leben sollen.
In den Monaten danach will Blum von immer neuen, beunruhigenden Vorfällen gehört haben: Eine Kinderfrau, die ihr Ex-Mann beschäftigt hatte, brach plötzlich den Kontakt zu ihm ab. CORRECTIV und SZ liegen Sprachaufnahmen vor, in denen sie sagt: Er habe sich nackt vor ihrer neun Jahre alten Tochter gezeigt. Auf Anfrage wollte sich die Kinderfrau nicht äußern.
Ihr Ex-Mann wirft Blum vor zu lügen und spricht von einer „Schmutzkampagne“. Da er ihr die Kinder „weggenommen“ habe, bleibe ihr nur „das Gefühl der Rache“.
Bei Blum aber wuchs mit der Zeit die Angst. Sie sagt, bei ihrem Auszug habe sie bei ihrem Ex-Partner einen Stapel Fotos linkisch posierender, minderjähriger Mädchen gefunden. Die Bilder haben CORRECTIV und SZ eingesehen. Aus Widmungen auf der Rückseite geht hervor, dass er einige der Teenager aufgefordert hatte, ihm Fotos von sich zu geben.
Ein Mädchen steht im Fußballtrikot in der Dusche: „Na, wirke ich nicht genauso sexy wie du unter der Dusche“, steht in kindlicher Schrift auf der Rückseite. Sie sei „schüchtern“ und wolle nicht „mehr“ von sich zeigen: „Ich hoffe, du bist nicht so sehr enttäuscht.“
Wieso war er im Besitz dieser Bilder? Wie sind sie entstanden? Sein Anwalt spricht von harmlosen „Fanfotos“. Die Mädchen hätten für seinen Mandanten geschwärmt und ihm die Aufnahmen von sich aus geschenkt, er sei ihr „Fußballgott“ gewesen.
Für Marina Blum waren die Fotos ein Alarmsignal. Weitere Hinweise kamen hinzu, dass er sich Kindern auf auffällige Art nähert: Er soll auch andere Kinder bei sich übernachten gelassen und sich mehrfach unbekleidet gezeigt haben. CORRECTIV und SZ sprachen mit mehreren Bekannten der Familie, die dies von ihren Kindern gehört haben wollen.
Der Vater hat dies vor Gericht bestritten: In seinem Garten gebe es einen Pool, er habe sich im Beisein der Kinder allenfalls in Badehose sehen lassen.
Marina Blum hatte angenommen, vor dem Familiengericht würde man ihr helfen. Später kam es ihr vor, als stehe sie dort unter Verdacht. Und mit der Zeit wurden die Anzeichen für einen möglichen Missbrauch der Tochter deutlicher: Einmal habe das Kind heftige Schmerzen gehabt, als sie sie vom Vater abholte. Sie bat um ein Kissen, sie könne nicht sitzen. Als Blum nachfragte, habe das Mädchen widersprüchliche Geschichten erzählt. Sie brachte das Kind zum Arzt, der stellte einen Verdacht auf Vulvitis fest, eine Entzündung an der Scheide. Das kann viele Ursachen haben: Mangelnde Hygiene, chemische Reizungen. Oder sexuelle Übergriffe. Das Attest liegt CORRECTIV und SZ vor.
Der Vater teilt hierzu mit, es handele sich um „niederträchtige Falschbehauptungen“. Die Tochter habe sich bei einem Sturz eine kleine Verletzung zugezogen. „Es gab keine Infektion in Richtung Vulvitis.“ Bereits Blums erster Versuch, „diese Behauptung in die Welt zu setzen“, sei vor ein paar Monaten „kläglich schiefgegangen“.
Tatsächlich hatte die Mutter den Befund bei Gericht vorgebracht. Wieder ging niemand darauf ein. Ein paar Monate später, in den Weihnachtsferien, sei das Mädchen erneut mit einer Entzündung an den Genitalien zum Umgang zu ihr zurückgekommen, sagt Marina Blum. Diesmal habe das Mädchen gesagt, ihr Vater habe sie im Intimbereich „gekitzelt“.
Der Vater weist dies zurück. Marina Blum brach kurz darauf mit den Kindern auf, erstmal nur weg. Sie versteckt sich nun an diesem Ort, an dem niemand sie kennt. Hier werde sie bleiben, sagt sie. Bis sich ihre familienrechtliche Situation geändert hat.
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Die Fälle, die CORRECTIV und SZ recherchiert haben, scheinen alle einem ähnlichen Schema zu folgen: Die Vorwürfe der Frauen werden in Zweifel gezogen, und je mehr Hinweise sie vorbringen, desto tiefer verstricken sie sich in Schwierigkeiten. „Sie haben nur den Aussagen des Vaters geglaubt, meinen nicht“, sagt eine weitere betroffene Mutter, eine Erzieherin aus Sachsen. Ihr Ex-Freund, sagt sie, habe sie und ihre Tochter bei der Übergabe des Kindes mehrmals attackiert. Das Mädchen habe sich gegen den Vater gewehrt, einmal soll er sie festgehalten und angeschrien haben: „Du darfst nie wieder zu deiner Mutter zurück.“ Danach habe sich das Kind völlig verweigert.
CORRECTIV liegt ein Notarztbericht vor, aus dem hervorgeht, dass das Mädchen gegen ihren Willen aus der Wohnung der Mutter zum Vater gebracht werden sollte: Das Mädchen habe sich in einer psychischen Ausnahmesituation befunden, heißt es darin; das Kind habe heftig geweint, an Schmerzen im Brustbereich und Atemproblemen gelitten.
Ende 2022 hat das Amtsgericht beschlossen, dass das Mädchen beim Vater leben soll. Der Beschluss liegt CORRECTIV und SZ vor: Darin wird der Mutter die Schuld am Verhalten der Tochter gegeben: Ihr sei es „nicht gelungen, den Kontakt zwischen Vater und Tochter zu fördern“. Dem Beschluss wurde ein Gutachten zugrunde gelegt. Die Gutachterin hatte mit dem Mädchen gesprochen: Das Kind sagte ihr wiederholt, dass es den Vater nicht sehen will. In den Unterlagen ist Erstaunliches zu lesen: So interpretiert sie das Verhalten des Kindes quasi als Störung und geht davon aus, die Mutter habe dem Kind die Angst vor dem Vater eingimpft. Ihr wird sogar angelastet, dass sie eine Strafanzeige gegen ihren Ex-Partner gestellt hatte: Damit habe sie das negative Bild vom bösen Papa verstärkt. „Die Gespräche“ mit dem Kind, hält die Gutachterin fest, zeigten Merkmale einer Einflussnahme „in Form eines Entfremdungssyndroms (PAS)“.
Das sogenannte Elterliche Entfremdungssyndrom PAS ist heftig umstritten. Geprägt wurde der Begriff von dem amerikanischen Psychologen Richard A. Gardner, der auch dafür warb, Kindesmissbrauch als normal zu akzeptieren statt den Täter zu verurteilen; Kinder wollten Geschlechtsverkehr und „können den Erwachsenen verführen“.
PAS ist weder von der American Psychiatric Association noch von der Weltgesundheitsorgationisation als Störung anerkannt. Ende 2022 warnten die Vereinten Nationen vor der zunehmenden Verwendung des Begriffs: „Obwohl diesen Konzepten eine universelle klinische oder wissenschaftliche Definition fehlt“, stützen Gerichte weltweit ihre Entscheidungen darauf. „In der Folge werden viele weibliche Gewaltbetroffene zum zweiten Mal zum Opfer, weil sie für ihre Hinweise auf die Gewalt bestraft werden.“
Solche Konzepte verbreiten sich nicht zufällig, es gibt Gruppen, die sie vehement propagieren: Anfang des Jahres rief ein Bündnis aus mehreren Gruppen in einer Aktion mit dem Titel „Genug Tränen“ dazu auf, „Elterliche Entfremdung“ als Form von psychischer Gewalt gegen Kinder anzuerkennen, ins Strafgesetzbuch aufzunehmen und bei der Ausbildung von Familienrichtern verpflichtend mit einzubeziehen.
Hinter dem Bündnis stehen mehrere Väterrechtsgruppen, darunter auch Akteure mit Verbindungen ins Maskulinisten-Milieu. Maskulinisten sind selbsternannte Männerrechtler. Sie halten Männer für das eigentlich unterdrückte Geschlecht, bestreiten strukturelle Benachteiligungen von Frauen und verbinden ihre Forderungen mit antifeministischen Ressentiments – und bisweilen mit offenem Frauenhass.
Allerdings stimmt es auch, dass Familiengerichte früher vor allem die Frauen bevorzugt haben, nach dem Motto: Ein Kind gehört zur Mutter. Inzwischen ist es kompliziert geworden. Thomas Gesterkamp, Experte für Geschlechter- und Männerpolitik, hat eine Studie über die Strategien von Anti-Feministen verfasst und plädiert für einen differenzierten Blick auf die Szene der Väteraktivisten: „Das ist eine sehr heterogene Gruppe“, sagt er. „Ich würde sagen, verbitterte, enttäuschte Väter werden wie beim Rattenfänger von Hameln vereinnahmt von rechten Väterrechtlern.“
Ein Beispiel ist der Verein „Forum soziale Inklusion“ (FSI). Der Name klingt harmlos, dahinter steckt offenbar Kalkül: Gesterkamp nennt das „Maskulinisten-Mimikri“. Das heißt: Diese Initiativen verstecken ihre antifeministischen Positionen hinter weichen, fast progressiv klingenden Begriffen. Und sie suchen systematisch Einfluss auf die Politik.
Das FSI ist im Lobbyregister des Bundestages erfasst: Wie es aussieht, pflegen die Väterrechtler gute Kontakte zur CSU, zur AfD und zur FDP. 2020 beschloss die Große Koalition, dass das FSI 400.000 Euro Fördermittel erhalten sollte – dafür hatte ein CSU-Politiker gesorgt. Später allerdings verhinderte das Bundesfamilienministerium eine Auszahlung der Gelder.
Nach außen wirkt der FSI gemäßigt. Allerdings scheint Gründer Gerd Riedmeier Verbindungen in trübe Bereiche zu pflegen: So war Riedmeier Sprecher der IG Jungen, Männer und Väter, zu der unter anderem auch der Verein Manndat gehörte, der von einer „generellen Hasskultur gegen Männer“ phantasiert und den AfD-Politiker Hans-Thomas Tillschneider im Interview verbreiten ließ: Es drohe ein „beschleunigter Verfall“ mit ‚Schwachsinnsbegriffen‘ wie ‚Regenbogenfamilie‘ oder ‚Patchworkfamilie‘“.
Riedmeier trat auch als Mitveranstalter beim „Deutschen Genderkongress“ 2015 auf, einem Vernetzungstreffen von Väterrechtlern, Anti-Gender-Aktivisten und anti-feministischen Organisationen wie dem Hetzportal Wikimannia.
Auf einzelne Fragen dazu geht das FSI nicht ein, sondern weist pauschal „Suggestivfragen und Unterstellungen zurück“. Der Verein sei „ein zivilgesellschaftlicher Think-Tank, der sich den Bedürfnissen und Bedarfen beider Geschlechter und beider (getrennt erziehender) Eltern verpflichtet fühlt.“
Ebenfalls mit dabei beim „Deutschen Genderkongress“ war auch: die Bundesvereinigung Liberale Männer, die der FDP nahesteht. Im Vorstand ist der FDP-Politiker Sebastian von Meding, dessen Firma im Impressum der Website des Gender-Kongresses steht.
Meding antwortet nicht auf Anfrage dazu, sondern droht mit einer Klage auf Schadenersatz.
Nach Einschätzung von Experten dringen die Positionen der Väterrechtler über die Liberalen Männer in die FDP vor. Eine ihrer Kernforderungen hat sich die FDP bereits zu eigen gemacht: Die Partei hat sich dafür ausgesprochen, das sogenannte Wechselmodell als Standard festzulegen, also dass die Kinder je die Hälfte ihrer Zeit bei Vater und Mutter leben. In gleichberechtigten Beziehungen mag das eine gute Lösung sein. Für Opfer von häuslicher Gewalt aber könnte ein solcher Leitgedanke den Rechtfertigungsdruck noch erhöhen. Deswegen lehnen Grüne und Linke das Modell als Standardlösung ab.
Die FDP distanziert sich auf Anfrage von den Liberalen Männern: Man „weise darauf hin”, dass der Verein „keine Vorfeldorganisation der FDP” sei. Mögliche Nähen des Vereins zu anderen Gruppen oder Positionen seien nicht bekannt und „für die FDP irrelevant.“
Viele der Frauen, mit denen CORRECTIV und SZ sprachen, hatten den Eindruck, in einer verkehrten Welt gestrandet zu sein: „Was Mütter immer wieder sagen, wenn sie in die Mühlen geraten: Das Familiengericht ist ein rechtsfreier Raum“, sagt Stefanie Ponikau vom Verein MIA: „Wir hören immer wieder: Seltsame Aussprüche, absurdes Tun.“
Was in den Familiengerichten passiert, kommt meist nicht an die Öffentlichkeit. Medien haben keinen Zugang zu den Verfahren, Richterinnen und Richter sind unabhängig und unterstehen keiner Kontrolle. „Ich hatte Angst“, sagt eine Frau, deren Familienrechtsstreit etwa zehn Jahre zurückliegt. „Ich dachte: Egal, was ich sage. Ich kann machen, was ich will: Es wird alles so gedeutet, dass ich nicht in Ordnung bin. Es gab keinen Ausweg.“
Die Frau hat Angst bis heute, deswegen ist ihr Name geändert. Kerstin Harms ist eine sorgfältige Person, Naturwissenschaftlerin. Sie hat die Gewalt in ihrer Ehe minutiös protokolliert, vermerkt sind psychische Misshandlungen, Schubsen, Aggressionen, Schläge, auch während ihrer Schwangerschaft und Stillzeit. Einmal soll ihr Ex-Mann sie mit Gegenständen beworfen haben, weil er sich nicht ehrfürchtig genug behandelt gefühlt habe. Zwischen ihren Unterlagen findet sich auch ein Attest, darauf steht: „Wurde vom Ehemann verprügelt.“ Die Ärzte notierten „Kopfschmerzen, insbesondere Nacken-, Halswirbelsäulen-, Rückenschmerzen, Hämatome Oberarme“.
In der Trennungsphase wandte sie sich an eine Anwältin. Beim ersten Termin habe sie das Attest aus der Tasche geholt, da habe die Juristin gesagt: „Das packen Sie mal schnell wieder weg. Es geht hier nicht um Sie.“
Um diese Aussage zu verstehen, muss man das Familienrecht kennen: Gewalt gegen die Mutter spielt darin keine Rolle, allenfalls Gewalt direkt gegen das Kind.
Auch Harms’ Ex-Mann wurden Umgänge gewährt. Aber die Mutter merkte, wie es den Kindern zusehends schlechter ging: Der Sohn sei immer wütender geworden, habe in der Schule nur noch teilnahmslos dagesessen, die Tochter habe immer wieder plötzlich angefangen zu weinen. Dass der Vater beide misshandelte, habe sie zunächst nicht gewusst. Dann fielen ihr die blauen Flecke ihres Sohnes auf, und da verstand sie: Das sind die gleichen blauen Flecke, die sie früher hatte. Dass der Vater die Tochter auch sexuell missbraucht haben soll, sagte das Kind später einem Psychologen. „Papa hat sehr viele schlimme Sachen gemacht“, sagte das Mädchen laut den Dokumenten.
Er habe, so geht es aus den Unterlagen hervor, Wege gefunden, den Kindern Schmerzen zuzufügen, ohne Spuren zu hinterlassen. Den Bruder habe er geschlagen, beide Kinder hätten sich zeitweise im Klo eingeschlossen, wenn der Vater wütend wurde, sagte das Mädchen aus, sie selbst habe der Vater behandelt wie eine Geliebte, er habe sich, da war sie sechs oder sieben Jahre alt, zu ihr ins Bett gelegt und sie sich an sich gepresst. Er habe ihr auch für ihr Alter unangebrachte Kleider gegeben, die sie nicht anziehen wollte.
Unter Verdacht aber geriet zunächst die Mutter. Ihr sei immer wieder unterstellt worden, dass sie die Kinder „in die Spur gesetzt“ habe. Erst Jahre später glaubten die Behörden ihren Aussagen, dem Vater wurde der Umgang mit den Kindern verboten und ein strafrechtliches Verfahren eingeleitet, das gegen Geldstrafe eingestellt wurde. Die Tochter ist heute erwachsen und studiert. Aber das Gefühl der Ohnmacht hat sie nicht losgelassen: „Wir haben immer wieder allen alles erzählt“, sagt sie. Und ständig sei sie hinterfragt worden: Bist du sicher? Sind das wirklich deine Erinnerungen? Hat dir das jemand vorgegeben? Sie sagt: „Es war irgendwann schwierig, sich selbst noch zu vertrauen.“
Die Probleme vor den Familiengerichten sind hinter den Kulissen längst Thema. „Es ist jetzt gerade die Zeit gekommen, dass sich die Justiz dem Thema stellt“, sagt der Heidelberger Jurist Thomas Meysen. Die Ampel-Koalition hat sich im Koalitionsvertrag verpflichtet, den Gewaltschutz für Frauen vor Gericht zu stärken: „Wenn häusliche Gewalt festgestellt wird, ist dies in einem Umgangsverfahren zwingend zu berücksichtigen.“ Das Bundesfamilienministerium verweist auf eine geplante Reform des Familienrechts und plädiert für eine „ausdrückliche gesetzliche Klarstellung“, um Gerichte und Behörden zu sensibilisieren. Federführend ist das FDP-geführte Bundesjustizministerium. Dieses reagiert auf Anfrage von CORRECTIV ausweichend: Es werde derzeit „geprüft“, welche „Regelungen sich empfehlen“, um Frauen und Kinder besser vor Gewalt zu schützen.
Vor Ort, in den Gerichtssälen, hat sich bisher wenig geändert. Gewaltschutz für Frauen und Kinder scheint in den Fällen, die CORRECTIV und SZ recherchiert haben, kaum eine Rolle zu spielen. Marina Blum hat sich und die Kinder den Behörden entzogen. Nun hängt sie fest in einer Zwischenwelt, und wann immer sie das Haus verlässt, zieht sie sich eine Kapuze über, um nicht erkannt zu werden. Für ihre Kinder versucht sie, den Anschein von Normalität zu erwecken. Die Tochter unterrichtet sie vormittags im Heimunterricht, dann geht sie mit beiden raus in die Natur. Mehr kann sie nicht tun. Nur noch warten.
Anonymer Chat & Informationen: hilfetelefon.de
Telefonische Beratung: 08000 116 016
Bei akuter Gewalt wenden Sie sich an die Polizei: 110
Maike Backhaus ist freie Investigativ-Journalistin. Gabriela Keller ist Investigativ-Journalistin bei CORRECTIV, Deutschlands erstem spendenfinanzierten Medium. Als vielfach ausgezeichnete Non-Profit-Organisation steht CORRECTIV für investigativen Journalismus. Wir lösen öffentliche Debatten aus, arbeiten mit Bürgerinnen und Bürgern an unseren Recherchen und fördern die Gesellschaft mit unseren Bildungsprogrammen.
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