Darum schützen Faktenchecks die Pressefreiheit – aus „Das einzig wahre Faktencheckbuch“
Seit der Corona-Pandemie haben Übergriffe auf Journalistinnen und Journalisten zugenommen. Die Berichterstattung auf Demonstrationen wird häufig zum Spießrutenlauf, begleitet von Lügenpresse-Chören und Buh-Rufen. Wieso Faktenchecks die Pressefreiheit schützen, erklärt dieses Essay. Es basiert auf Passagen aus „Das einzig wahre Faktencheckbuch“, erschienen vor einer Woche im CORRECTIV.Verlag.
Unsere Demokratie wird angegriffen – das muss so deutlich gesagt werden. Ob es Lobbyverbände fossiler Industrien sind, die den Zweifel am Klimawandel nähren, politische Akteure, die über Desinformationen ihre Weltsicht verbreiten und den Gegner diskreditieren, oder einfach nur staatsverdrossene Unruhestifter – mit ihren teils über Jahre und Jahrzehnte geplanten Kampagnen polarisieren sie und spalten Gemeinschaften, entreißen uns die Faktengrundlage und die gemeinsame Sprache. Ihr Informationskrieg ist ein Angriff auf das Wesen der Demokratie. Denn ohne Sprache kein Dialog. Und ohne Dialog keine gemeinsamen Lösungen. Deswegen war die Pressefreiheit selten so wichtig wie jetzt.
Nicht umsonst werden Journalistinnen und Redaktionen als „vierte Gewalt“ in unserer Gesellschaft gesehen – neben der gesetzgebenden, der vollziehenden und der Recht sprechenden. Journalismus hat eine Kontrollfunktion inne. Kritisch und unabhängig soll er für Transparenz sorgen und Missstände in der Gesellschaft und den Institutionen aufdecken, damit Bürgerinnen und Bürger mündig in einer Demokratie leben können.
Journalismus liefert Fakten, auf deren Basis der gesellschaftliche Dialog geführt wird.
Standards, die nicht für jeden gelten
Damit der Journalismus seiner Aufgabe nachkommen kann, garantiert und schützt Artikel 5 des Grundgesetzes die Meinungs- und Pressefreiheit, schränkt sie aber auch ein. Grundsätzlich gilt immer: Journalisten sind auf Sorgfalt verpflichtet, die Wahrheit, die Gesetze und den Anstand. Sie checken Quellen und Inhalte eingehend, kennzeichnen Mutmaßungen und Meinung. Sollten Fehler passieren, was menschlich ist, folgt Korrektur, und dies im besten Fall transparent. Bei Falschdarstellungen sind Redaktionen angehalten, Gegendarstellungen zu veröffentlichen.
Als zusätzliche Kontrollinstanz dienen der Presse- und Rundfunkrat. Sie achten darauf, ob sich Journalistinnen und Journalisten an den Pressekodex halten – eine Selbstverpflichtung, die Wahrheit, Würde, Sorgfalt und Unabhängigkeit betrifft. Sollten Redaktionen diese Standards übergehen, können sich Bürgerinnen und Bürger beim Presse- oder Rundfunkrat beschweren, der dann wiederum Rügen aussprechen kann. In letzter Instanz entscheiden dann Gerichte: Für das, was sie publiziert haben, können Journalisten juristisch zur Verantwortung gezogen, können Gegendarstellungen oder Unterlassungen erzwungen werden. Soweit die Basics.
Doch die Medienlandschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten massiv verändert. Diese Standards gelten nicht für alle, die im Netz veröffentlichen. „Immer mehr pseudojournalistische Formate wurden in den letzten Jahren aufgebaut, die es für Außenstehende, die sich mit Journalismus nicht so gut auskennen, extrem schwierig machen, Seriöses vom Unseriösen zu unterscheiden“, sagt die Leiterin von CORRECTIV.Faktencheck Alice Echtermann. „Oft haben sie eine Webseite, die wie ein klassisches Nachrichtenportal anmutet und teilweise auch nachrichtliche Artikel hat, aber eben nicht die strikte Trennung zwischen Meinung und Bericht verfolgt, sodass zwischen den Zeilen ständig Ideologie mit einfließt. Rechte Blogs wie Tichys Einblick oder Achse des Guten sind zum Beispiel mit klassischen journalistischen Mitteln gemacht, trotzdem beherrscht ganz klar Meinung den Tonfall, die Nachrichtenauswahl und Berichterstattung. Manchmal verbreiten sie falsche oder irreführende Informationen – nicht ausschließlich, aber immer wieder. Das macht es für Außenstehende so schwierig, sie einzuordnen.“
Lügen attackieren die Presse
Diese Webseiten und Kanäle verbreiten nicht nur Desinformation, sie greifen durch ihre Veröffentlichungen auch die Glaubwürdigkeit etablierter Medien an. Wer zum Beispiel Geschichten um Nachteile und Risiken für das „deutsche Volk“ strickt, von denen sich in der Realität kaum eine Spur findet, muss letzten Endes die Lügenpresse-Karte zücken und behaupten, die Medien würden diese „Bedrohungslage“ bewusst verschweigen. Nur so kann er oder sie die eigene Deutungshoheit bewahren.
Der Verfassungsschutz bezeichnet den Lügenpressebegriff als „Taktik rechtsextremistischer Propaganda“. Ziel sei die Diffamierung der etablierten Medien. „Diese werden vor allem im Zusammenhang mit der Zuwanderungsdebatte als verlängerter Arm der gleichfalls verachteten verantwortlichen staatlichen Stellen betrachtet“, hieß es bereits im Verfassungsschutzbericht von 2016. Und weiter: „Die Medien – so der Vorwurf – berichteten einseitig im Sinne der Regierung.“ Ähnlich wie im Verfassungsschutzbericht aufgeführt, beobachtet unser Faktencheck-Team, dass das Lügenpresse-Narrativ vor allem dann bedient wird, wenn es in eine politische Agenda passt, etwa in Kombination mit emotional aufgeladenen Themen wie Migration, Corona oder Klimawandel. Denn der Lügenpressevorwurf lässt sich wunderbar mit jedem Angst-Narrativ und jeder noch so absurden Desinformation koppeln. Wenn Medien gewisse Fake News nicht verbreiten, lügen sie. Ganz einfach.
Die Spaltung ist unausweichlich
Ich mache es noch einmal an dem Beispiel konkret, wonach Migration angeblich das „deutsche Volk“ bedrohen würde. Eine typische Narrativkette in diesem Zusammenhang lautet: Migration führt zu Destabilisierung, zu Islamisierung, zu Asylmissbrauch und letzten Endes zum Zusammenbruch der zivilisierten Gesellschaft. Eine solche Erzählung ist nur möglich, wenn in der Vorstellung ihrer Anhänger Politik wie Presse gleichermaßen an einem Strang ziehen, um das Volk zu hintergehen. In den Augen vieler Verschwörungstheoretiker verschweigen Politik und Medien nicht nur, dass der Islam den Volksaustausch plant und Migration als Waffe nutzt, um einen Angriff auf die christliche Identität und Kultur zu führen. Mehr noch: Sie unterstützen ihn sogar dabei.
Über all den „kleinen“ Narrativen dieser Aufzählung, die angeblich die Ängste und Sorgen der Deutschen zum Ausdruck bringen, stehen zwei Hauptnarrative: die Bedrohung von außen, verkörpert durch den Islam, und die Bedrohung von innen, die von einem Establishment aus Politik und Medien ausgeht.
Eine solche Weltsicht, das Gefühl, ständig belogen und bedroht zu werden, treibt Menschen unausweichlich auseinander. Betroffene folgen ihrem Misstrauen, ziehen sich immer weiter aus der gesellschaftlichen Mitte zurück und verbarrikadieren sich in ihren Filterblasen und Teilöffentlichkeiten. Mit der Folge, dass die Aggressivität in unserem Alltag zunimmt. Es werde der gesellschaftliche Austausch zerstört und unsere politische Kultur beschädigt, erklärte der Rundfunk Berlin Brandenburg Anfang 2022 in einem offenen Brief: „Corona-Leugner ziehen vor Schulen, um gegen das Impfen zu agitieren; Reporter und Journalistinnen werden auf Demonstrationen von Verschwörungsanhängern bedroht und verfolgt; Polizisten werden beschimpft und Kommunalpolitiker unter Druck gesetzt. Diese Impfgegner treiben einen Keil in unsere Gesellschaft.“
Mit der Presse- fällt auch die Meinungsfreiheit
Diese Entwicklung bedroht nicht nur Pressevertreter und ihre freie Berichterstattung, sondern auch unsere Meinungsfreiheit im Allgemeinen. Neben der rechtlichen gibt es nämlich noch eine soziale Komponente der Meinungsfreiheit, die ich an einem Beispiel verdeutlichen möchte, das den Umgang der Querdenker- und Verschwörungsszene mit unterschiedlichen Meinungen veranschaulicht:
„Wenn der Faschismus wiederkehrt“, titelt die Internetseite ich-habe-mitgemacht.de, „wird er nicht sagen: ‚Ich bin der Faschismus.‘ Nein, er wird sagen: ‚Ich rette euch vor einem Virus.‘“ Die Webseite bezeichnet sich als ein „privates Dokumentationszentrum für Corona-Unrecht“. Dort liest man: „Da die Täter von heute ab morgen jegliche Beteiligung abstreiten werden, gilt es Beweisstücke zu sammeln, um den einen oder anderen Zivilisationsbruch der Vergessenheit zu entreißen. (…) Die kundige Öffentlichkeit ist deshalb aufgerufen, eklatante Beispiele für Übergriffigkeiten, menschenverachtende Formulierungen und Drangsalierungen maßgeblicher Personen in Parlamenten, Behörden, Universitäten, berufsständischen Organisationen, Medien, Krankenhausverwaltungen und anderen Institutionen zur Registrierung und Publizierung anzumelden.“ Auf der Seite findet sich eine Namensliste von Personen, die sich öffentlich positiv über die Coronaschutzmaßnahmen geäußert haben oder kritisch zur Querdenker-Bewegung und Impfverweigerung. Die Liste reicht vom Wissenschaftler über die Triathletin, den Schulleiter und die Politikerin bis zur Zeitungsvolontärin. Sogar Mick Jagger und der Papst stehen drin.
Im Netz wird die Liste unter den Hashtags #ichhabemitgemacht oder #wirvergessennicht ständig weitergeführt. In den Kommentarspalten unter den Pranger-Posts brodelt der Zorn der Querdenker: „Ich vergesse nie wie wir ausgegrenzt, diffamiert, beleidigt und wie Verbrecher behandelt worden sind!!! Nie werde ich das vergessen!“, schimpft eine Userin. Der Nächste steigert sich weiter rein: „So sehen Sie aus, unsere Nazi Schergen…… und keiner entkommt der gerechten Strafe.“
Aufrufe zu solchen „Tribunalen“ gebe es seit etwa 2020, sagt die Sozialpsychologin und Expertin für Verschwörungstheorien Pia Lamberty. Die Szene fordere zum Teil eine Neuauflage der Nürnberger Prozesse. Nur sollten diesmal Mitglieder der Bundesregierung, Virologinnen und Virologen sowie Kritiker der Corona-Proteste und Befürworterinnen der Impfung auf der Anklagebank landen. „Dabei geht es auch um Selbstjustiz“, sagt Lamberty und spielt damit auf den Mord vor zwei Jahren an einem Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein an. Der Mitarbeiter hatte den Täter aufgefordert, in der Tankstelle eine Maske zu tragen. Der Täter war darauf nach Hause gegangen, mit einer Waffe zurückgekehrt und hatte dem Mitarbeiter mitten ins Gesicht geschossen. „Dass es dann zu solchen Taten kommt, ist leider nicht überraschend“, sagt Lamberty. Es sei „ein Klima entstanden, in dem Gewalt immer stärker legitimiert und befürwortet wird“.
In einer Chatgruppe kommentierten Querdenker den Mord von Idar-Oberstein. „Die Leute immer mit dem Maskenscheiß nerven“, schrieb ein User. Und weiter: „Da dreht irgendwann mal einer durch. Gut so.“ Der nächste Nutzer rechtfertigt die Tat als legitimen Widerstand: „Es herrscht Krieg für mich, da wird nicht mehr diskutiert. Weg mit 3G oder Bürgerkrieg dafür stehe ich mit Leib und meinem Leben.“
Narrativ: Querdenker sind Opfer
Die Aussagen aus der Chatgruppe, ebenso wie die vergleichsweise gemäßigten Kommentare zu den Hashtags #ichhabemitgemacht oder #wirvergessennicht aus meinem Beispiel davor verdeutlichen zwei typische Narrative von Querdenkern, Verschwörungsgläubigen und Rechten. Sie sind Teil einer Radikalisierungsspirale, die sich mit jeder geglaubten Lüge weiterdreht und Bürgerinnen und Bürger auseinander treibt.
Erstes Narrativ: Sie sind Opfer – zumindest sehen sich viele Querdenkerinnen und Querdenker selbst so. Ihnen werden Maßnahmen und Masken aufgezwungen, Kritik daran ist ihnen verboten. Für ihre Aussagen werden sie ausgegrenzt, geächtet, und von der Gesellschaft wird ihnen schlimmes Leid angetan. Dabei kämpfen sie in ihren Augen nur für die Freiheit, den Frieden und das Beste für Deutschland. Diese Verdrehung ist bezeichnend für die Szene. Demonstrierende schreien „Diktatur“, während sie zu Tausenden die legalen Proteste gegen Coronaschutzmaßnahmen in Superspreading-Events verwandeln. Deutsche Medien gelten ihnen als korrupte Propagandaschleudern des Staates. Die Staatsmedien Russlands feiern sie dagegen als unabhängige, freie Presse. Dabei drohen Journalisten dort bis zu 15 Jahre Haft, sollten sie im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine Begriffe nutzen wie „Angriff“, „Invasion“ oder „Kriegserklärung“. Als kleine Krönung fordern Querdenker mittlerweile Entschuldigungen von Politik und Medien ein, weil nicht jeder Ungeimpfte gestorben ist, lassen aber unter den Tisch fallen, dass die tausendfachen Impftode, die sie selbst prophezeit hatten, ausgeblieben sind. Es ist oftmals ein selbstgerechtes Messen mit ungleichem Maß.
Für die Meinungsfreiheit bedeutet das in der Regel: Sie existiert für Verschwörungsgläubige, Rechte und Querdenker ganz – oder eben gar nicht. Dürfen sie nicht ungehemmt Lügen über angeblich katastrophale Impffolgen, Coronaverbrechen und die neue Weltordnung verbreiten, können sie ihre Meinung nicht frei äußern. Dürfen sie nicht ungezügelt gegen Migranten und Ausländer hetzen, ist es in Deutschland nicht mehr möglich, alles zu sagen. Dürfen sie den Holocaust nicht leugnen, leben sie in einer Diktatur.
Dabei ignorieren Verschwörungsgläubige, dass Beleidigungen, Hetze, Drohungen und Übergriffe, also Taten, die Gesetze klar verbieten, nicht gleichzusetzen sind mit Kritik und Gegenrede, die das Grundgesetz schützt. Sie höhlen Begriffe wie „Meinungsfreiheit“ oder „Diktatur“ aus und instrumentalisieren sie für ihre Argumentationsketten. Wenn ich mir ein Terrorregime herbeifantasiere, das mich gängelt und quält, kann ich nichts glauben, was von offiziellen Stellen kommt. Dann ist aus diesem Opferstatus heraus jede Form von Ablehnung und Widerstand gerechtfertigt. Ergo: Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als mich weiter zu radikalisieren – als die Verbindungen zur Außenwelt zu kappen und mich in meiner Blase einzuschließen, um von dort aus den Kampf gegen ominöse Eliten zu führen, die angeblich die Strippen ziehen.
Narrativ: Vergeben ist nur was für Gutmenschen
Zweites Narrativ: Wir vergessen nicht, wir vergeben nicht. Einerseits ertragen Verschwörungsläubige kaum Widerrede zu eigenen Ansichten – dass Meinungsfreiheit nicht Widerspruchsfreiheit heißt, verdrängen sie oft –, andererseits greifen sie Andersdenkende offensiv an. „Eine hasserfüllte Minderheit versucht, eine Meinungshoheit vorzutäuschen“, heißt es in der Studie „#Hass im Netz: Der schleichende Angriff auf unsere Demokratie“. Und weiter: „Eingeschüchtert von der Übermacht solcher Kommentare schrecken zahlreiche Nutzer*innen davor zurück, ihre politische Meinung online zu vertreten.“ Sogenannte Hate Speech, also das Anfeinden, Beschimpfen und Abwerten im Netz, gefährdet die Meinungsfreiheit in einer Demokratie. Jeder zweite Befragte der Studie sagte, seltener im Netz zu seiner politischen Einstellung zu stehen und zu diskutieren, weil er Angst vor Anfeindungen habe. Zwei von drei Personen, die schon mal im Netz Anfeindungen und Hasskommentare erfahren hatten, litten darunter. Jeder Dritte sprach von Stress, Abgeschlagenheit und Lustlosigkeit, Angst und innerer Unruhe. Jeder Fünfte sogar von Depressionen. Jeder Siebte trug seine Probleme mit auf die Arbeit oder in die Schule. Ein Großteil der Befragten war sich sicher: Durch den Hass im Netz verändere sich auch, was man außerhalb, im echten Leben, sagen könne und was nicht.
Wenn Menschen aus Angst vor Hetze und Hate Speech bestimmte Meinungen nicht mehr öffentlich äußern, bezeichnet man das als Silencing. Silencing kann unbewusst aus sozialem Druck und den Dynamiken des Netzes entstehen oder koordinierten, strategischen Aktionen von Gruppierungen entspringen. Diese Unterscheidung ist wichtig: „Der Diskurs in vielen Kommentarspalten auf Facebook ist kein Abbild der Gesellschaft, sondern wird von Sympathisanten extremistischer und verfassungsfeindlicher Organisationen bestimmt“, schreibt die Autorengruppe der Analyse „Hass auf Knopfdruck – Rechtsextreme Trollfabriken und das Ökosystem koordinierter Hasskampagnen im Netz“, die 1,6 Millionen Posts in Sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook im Zeitraum von Februar 2017 bis Februar 2018 untersucht hat. Im Zuge der Datenauswertung habe sich gezeigt, dass viele Kommentarspalten von Accounts dominiert würden, die einen rechten bis rechtsextremen Hintergrund hätten. „Es handelt sich in vielen Fällen um gezielte Versuche, Politiker, Journalisten und Aktivisten unter Druck zu setzen und einzuschüchtern.“ Gemessen an der Anzahl aller Nutzer sei es nur eine kleine Gruppe von Accounts, die oft inhaltlich und zeitlich koordiniert Hasskommentare produzieren, pushen und verbreiten würde.
Was bedeutet das nun?
Auch wenn die Meinungsfreiheit rechtlich geschützt ist, können öffentlicher Druck und konkrete Anfeindungen sie einschränken. Diejenigen Gruppen, die am Narrativ bauen, man könne nichts mehr frei sagen, haben oftmals aktivistische Truppen, die tatsächlich dafür sorgen, dass eine Atmosphäre der Einschüchterung entsteht. Äußert man Ansichten, die diesen selbst ernannten Verfechtern der Meinungsfreiheit missfallen, stößt man nicht nur auf Widerspruch, sondern ist potenziell Stalking, Doxing, also dem Veröffentlichen persönlicher Daten, und sogar Morddrohungen ausgesetzt.
Dem Team von CORRECTIV.Faktencheck passiert dies regelmäßig. Trotzdem machen sie weiter ihren Job. Jeden Tag. Über ein Jahr habe ich mich als Journalist und Autor dem Komplex Faktenchecken genähert. Lange Gespräche habe ich mit den Faktencheck-Kollegen von CORRECTIV geführt. Ihre Arbeit ist eine der wichtigsten Flanken im Journalismus derzeit. Wie sie Beleidigungen und Anfeindungen Stand halten, ist beeindruckend.
Allem Widerstand zum Trotz
„Die Wut kommt bei jeder Art von Desinformation vor, die wir richtigstellen und die die Leute geglaubt haben“, sagt Alice Echtermann. „Allerdings ist früher alle paar Wochen mal eine Hassmail ins Postfach geflattert. Auch bei den Kommentaren unter den Artikeln waren derbe Sachen dabei. Das waren aber Einzelfälle.“ Als CORRECTIV.Faktencheck während der Pandemie bekannter geworden sei und die Faktenchecks des Teams größere Reichweite bekommen hätten, sei es nur logisch gewesen, dass die Beschimpfungen mehr geworden seien.
„Ich glaube, wir haben diese Menschen in Panik versetzt. Corona hat dabei neue Maßstäbe gesetzt und alles neu skaliert. Die Menge der Desinformationen, die Gefühle, die Emotionen, die Spaltung – alles ist auf einmal riesengroß geworden, hat sich über Monate, über Jahre hingezogen und konnte wunderbar wachsen. Und deswegen haben wir natürlich auch viel mehr Hassmails bekommen“, sagt Echtermann.
Die Hochphase sei im Herbst 2021 erreicht worden. „Da wurde es richtig schlimm“, sagt Echtermann. „Wir haben mindestens eine konkrete Drohung, Beleidigung oder Beschimpfung pro Tag bekommen. Teilweise auch Todesdrohungen. Wenn früher einmal pro Jahr eine Todesdrohung kam, waren es auf einmal vier oder fünf in einem Monat.“ Persönlich hätten sie die Hassnachrichten nie wirklich getroffen, sagt die Leiterin von CORRECTIV.Faktencheck. „Aber das ist typabhängig und gilt sicher nicht für alle im Team. Für mich sind das nur E-Mails, die ich in einen anderen Ordner wegschiebe, um mich dann weiter meiner Arbeit zu widmen. Ich kann nicht jedes Mal Angst kriegen, wenn einer schreibt: ,Wir werden euch an den Haaren durchs Dorf schleifen. Wir werden euch an die Wand stellen oder in einem Tümpel ersäufen.‘ Das ist für mich nicht realistisch.“ Wenn ihr das alles Angst machen würde, könne sie nicht mehr vor die Tür gehen. „Für mich sind Objektivität und Sachlichkeit eine Form von Schutz geworden. Wir funktionieren. Wir machen unsere Arbeit weiter, wir versuchen, diese Linie durchzuhalten. Das Effektivste, was wir machen können: unseren Job machen.“
Echtermann weiß, dass Faktencheckerinnen und Faktenchecker immer nur Symptome bekämpfen können. Sie können mit ihren transparenteren Recherchen in den Gleichklang der Filterblasen vordringen und den einen oder die andere überzeugen, nicht den Verschwörungsfantasien im Netz zu folgen. Sie können darum kämpfen, dass das Misstrauen gegen Institutionen wie Politik oder Presse nicht weiter wächst. Schließlich nehmen sie mit jeder Falschnachricht, die die Faktenchecker enttarnen, einen Grund, der Presse Lügen vorzuwerfen. Echtermann weiß aber auch: „Die Ursachen für Fake News muss die Gesellschaft als Ganzes angehen.“
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Das Essay basiert auf Auszügen aus „Das einzig wahre Faktencheckbuch“. Sie können es hier bestellen.