Missbrauch in der katholischen Kirche

Gericht: Ehemaliger Papst für Einsatz von Missbrauchspriester mitverantwortlich

Beim Missbrauchsprozess im bayerischen Traunstein setzte das Gericht am ersten Verhandlungstag ein für die katholische Kirche bahnbrechendes Signal: Das Bistum und auch der ehemalige, mittlerweile verstorbene Papst seien eindeutig zur Verantwortung zu ziehen.

von Marcus Bensmann

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Update 21.06.: Die Richterin des Prozesses sieht eine eindeutige Mitverantwortung des ehemaligen Papstes Benedikt XVI. für den Missbrauch des Priesters H.

Im Protokoll der Sitzung des Landgerichts Traunstein wird damit in zentralen Punkten die Feststellungsklage bestätigt, die Andreas Perr im Juni vor einem Jahr gegen den ehemaligen Priester Peter H., den damaligen Papst emeritus Benedikt XVI., Kardinal Friedrich Wetter und das Erzbistum München eingereicht hatte.

Das Gericht sei der „vorläufigen Ansicht“, dass der Kläger wegen der „Handlung des Beklagten“ Peter H. gegen das Erzbistum München und Freising einen „Amtshaftungsanspruch“ habe, heißt es im Protokoll der Sitzung vom 20. Juni 2023, das CORRECTIV, dem Bayerischen Rundfunk und der Zeit vorliegt.

 Mit „Handlung“ ist der sexuelle Missbrauch des Klägers durch den ehemaligen Priester H. gemeint. Aus Sicht des Gerichts hat H. die Tat als Priester begangen, und damit haftet das Erzbistum dafür im Zivilprozess als die verantwortliche Instanz.

Die Haftung des Erzbistums für den Missbrauch bezieht das Gericht auch auf den verstorbenen Papst Benedikt XVI. und Kardinal Friedrich Wetter in deren Funktion als Erzbischöfe von München und Freising: Der verstorbene Papst habe „trotz Kenntnis hinsichtlich der Neigungen“ als Erzbischof in der Ordinariatssitzung im Januar 1980 der Versetzung des Priesters H. zugestimmt.

 Die Amtspflichtverletzung „kann auch in einem Unterlassen gesehen“ werden, da sowohl die damaligen Erzbischöfe Ratzinger und Wetter „darauf hinwirken hätten müssen“, dass Peter H. „im Rahmen seiner Tätigkeit keinen Kontakt zu Kindern erhält. Noch ist kein Urteil gesprochen.

Jetzt muss vor dem Gericht noch verhandelt werden, wie der Schaden, den Perr durch den Missbrauch erlitt, zu beweisen ist, und welche Schmerzensgeldsumme dafür festzusetzen ist. Die Verantwortung des Ex-Papstes ist durch das Gericht jedoch geklärt.

Die Sätze im Gerichtsprotokoll bestätigen, was Andreas Perr und sein Anwalt Andreas Schulz durch die Feststellungsklage vor einem Jahr erreichen wollten: dass der Priester, die Bischöfe und das Erzbistum „gesamtschuldnerisch“ für den Schaden des Opfers haften sollten. Über diese Klage hatten CORRECTIV, BR und Zeit damals exklusiv berichtet. 

Als die Klage vor einem Jahr beim Landgericht Traunstein eingereicht wurde, galten deren Chancen als sehr gering. Die Tat war strafrechtlich verjährt. Würden sich die Beklagten dem Verfahren stellen? Kurz danach reichte ein anderes Opfer eine Schmerzensgeldklage gegen das Erzbistum Köln ein. Beide Verfahren setzten über ein Jahr eine Dynamik in Gang, die dazu führte, dass auch das Erzbistum München und Freising auf die Einrede der Verjährung verzichtete und die Amtshaftung für ihre Mitarbeiter anerkannte. Danach wandelte der Klägeranwalt die Feststellungsklage in eine Leistungsklage um, und forderte vom Erzbistum 300.000 Euro und von den Erben des verstorbenen Papstes 50.000 Euro. Da sich die Erben des verstorbenen Papstes bis Dienstag nicht gefunden haben, wurde das Verfahren gegen ihn abgetrennt.

Im Missbrauchsprozess gegen Verantwortliche der katholischen Kirche im bayerischen Traunstein gab es am ersten Verhandlungstag eine bahnbrechende richterliche Feststellung: Die zuständige Richterin im Zivilverfahren sagte, es sei eine „klare Mitverantwortung“ des verstorbenen Papst Benedikt  XVI. für den Schaden festzustellen, der dem Kläger Andreas Perr entstanden ist. 

Der heute 39-Jährige war als Kind vom Priester Peter H. in der bayerischen Gemeinde Garching an der Alz missbraucht worden. Perr und sein Anwalt Andreas Schulz werfen dem mittlerweile verstorbenen ehemaligen Papst vor, den Missbrauch mit verschuldet zu haben, weil er trotz bekannter früherer Missbrauchsfälle zugestimmt hatte, den Priester H. in Garching weiterhin als Gemeindepfarrer einzusetzen.

Mit der Anerkennung der Mitverantwortung des ehemaligen Papstes ist aus Sicht des Klägers und seines Anwalts ein zentrales Ziel der Klage erreicht, die diese im Juni eingereicht hatten. CORRECTIV, der Bayerische Rundfunk und Zeit hatten über diesen Prozess berichtet.

Ratzinger bei entscheidender Sitzung anwesend

Die Richterin begründete ihre Feststellung damit, dass der spätere Papst Kardinal Joseph Ratzinger als Erzbischof von München und Freising auf jener entscheidenden Sitzung anwesend war, bei der die Übernahme des Priesters H. von dessen früherem Einsatzort ins bayerische Erzbistum fiel. Die Richterin sagte auch, dass Ratzinger Kenntnis über die Gründe der Versetzung hatte – nämlich frühere Missbrauchsfälle.

Sollten künftig Rechtsnachfolger des Papstes feststehen, werde in einer abgetrennten Verhandlung über Ratzingers Verantwortung als Chef der Glaubenskongregation verhandelt werden.

Dass der Missbrauch an Kläger Perr in den 1990er Jahren tatsächlich stattgefunden hat, ist in dem Zivilverfahren unstrittig. Dass das Erzbistum für die Tat des Priesters haftbar zu machen sei, sagte die Richterin, habe auch weitere Gründe: Der verstorbene ehemalige Papst habe als Erzbischof an der entsprechenden Sitzung im Januar 1980 teilgenommen, bei der beschlossen wurde, H. im Erzbistum aufzunehmen. Er trage daher in dieser Funktion eine „klare Mitverantwortung“. Und Ratzingers Nachfolger als Erzbischof von München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter, habe den Priester nach einer Verurteilung wegen mehrfachen Kindesmissbrauch in der Gemeinde eingesetzt – wo H. Perr missbrauchte. 

Ende einer 13-jährigen Debatte

Diese Punkte zusammen machen nach Ansicht der Richterin die Amtshaftung des Erzbistums aus. Es sei auch unstrittig, dass dem Kläger ein Schaden durch den Missbrauch entstanden sei.

Diese klare Benennung der Verantwortung Ratzingers für die Aufnahme des Missbrauchspriesters H. in das bayerische Erzbistum durch ein weltliches Gericht beendet eine 13-jährige Debatte über den deutschen Papst.

Der Klägeranwalt verlangt für den angerichteten Schaden 300.000 Euro Schmerzensgeld vom Erzbistum. Er begründet den Anspruch damit, durch den Missbrauch sei Perr aus der Lebensbahn geworfen worden und in eine Alkohol- und Drogensucht abgeglitten. Die Verteidigung bezeichnete diese Begründung am ersten Verhandlungstag als zu unspezifisch. Auch die Richterin verlangte vom Kläger eine genaue Beweisführung dieses Schadens. Dafür hat der Anwalt bis zum 04. Juli Zeit. 

Verfahren könnte Missbrauchspriester selbst nicht mehr betreffen

Die Folge der Amtshaft könnte sein, dass das Verfahren nur noch das Erzbistum München und Freising betrifft. Die Richterin gab den Hinweis, dass die  Feststellungsklage gegen den Priester selbst keine rechtliche Grundlage  mehr habe. Gegen Wetter hatte der Klägeranwalt die Klage bereits zurückgezogen. Das Erzbistum haftet für die Schäden ihrer Mitarbeiter vom Kaplan bis zum Erzbischof.

Anders als bei Priester H. befreit die Amtshaftung des Erzbistums die möglichen Rechtsnachfolger des emeritierten Papstes Benedikt allerdings nicht von einem weiteren Verfahren. Sollten diese gefunden werden, müsse in einem abgetrennten Verfahren über die Verantwortung Ratzingers als Chef der Glaubenskongregation verhandelt werden. 

CORRECTIV und BR hatten herausgefunden, dass Ratzinger 1986 mit der Erlaubnis, künftig in der Messe Traubensaft anstatt Wein trinken zu dürfen – im Glauben, so lasse sich weiterer Missbrauch an Kindern verhindern – Priester H. den erneuten Einsatz in der Gemeinde ermöglichte.

Diese Erlaubnis habe Ratzinger aber in einem Amt gegeben, für das das Erzbistum nicht mehr verantwortlich sei.