Missbrauch in der katholischen Kirche

Missbrauchsklage: Erzbistum München stellt sich dem Verfahren und bietet Schmerzensgeld an

Das Erzbistum München und Freising verzichtet in der Klageerwiderung im Missbrauchsverfahren vor dem Landgericht Traunstein „auf die Einrede der Verjährung“ und akzeptiert die Haftung für das Handeln ihrer kirchlichen Amtsträger, sollte das Gericht eine Verantwortung feststellen.

von Marcus Bensmann

Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising
Die Klage hat das Erzbistum und damit auch Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, unter Druck gesetzt. Nun stellt es sich dem staatlichen Verfahren. Foto: Sven Hoppe / picture alliance/dpa

Das Erzbistum München und Freising verzichtet auf die „die Einrede der Verjährung“ im Missbrauchsverfahren vor dem Landgericht Traunstein und ist bereit, „zur Anerkennung des Leids des Klägers ein angemessenes Schmerzensgeld“ zu leisten, außergerichtlich aber auch für den Fall, dass das Gericht die Verantwortung der Bischöfe für einen Schaden des Klägers feststellen sollte. Das Erzbistum München Freising „akzeptiert die Haftung für ihre kirchlichen Amtsträger“ in dem Verfahren in Traunstein „soweit diese schädigende Handlungen in Ausübung ihres Amtes begangen haben und der Kläger hierdurch Schäden erlitten hat.“ Genau das wird das Landgericht Traunstein prüfen. Der Rechtsanwalt des Klägers steht einer „außergerichtlichen Einigung nicht ablehnend gegenüber“ und sieht die Klageerwiderung des Erzbistums als Erfolg.

Die Klageerwiderung des Erzbistums, die CORRECTIV und der Bayerischen Rundfunk einsehen konnten, ist lediglich zwei Seiten lang. In dem Erwiderungsschreiben bedauert das Erzbistum „das dem Kläger und anderen Missbrauchsopfern widerfahrene Leid zutiefst“. Das Erzbistum ist bereit, das Ergebnis der Feststellungsklage eines Missbrauchsopfers zu akzeptieren, sollte die Klage fortgeführt werden.

Klage bezieht sich auf Missbrauch durch Priester H.

In den 1990er-Jahren hatte der ehemalige Priester Peter H. den damals 12-jährigen Kläger Andreas Perr im Pfarrhaus in der bayerischen Gemeinde Garching an der Alz zum gemeinsamen Ansehen eines pornografischen Films genötigt. Der Kläger behauptet, dabei sei es zu Übergriffen gekommen, was H. verneint. H. war in die Gemeinde versetzt wurden, obwohl das Erzbistum über die Gefährlichkeit des pädokriminellen Priesters informiert war.

Im vergangenen Juni hatte der Berliner Rechtsanwalt Andreas Schulz für Andreas Perr eine Feststellungsklage eingereicht, wie CORRECTIV, BR und Zeit exklusiv berichteten. Das Erzbistum München und Freising hatte H. trotz bekannter Übergriffe und einer Verurteilung immer wieder in Gemeinden als Priester eingesetzt. Die Klage richtete sich gegen den ehemaligen Priester, das Erzbistum, Kardinal Friedrich Wetter, aber auch gegen den verstorbenen Papst emeritus Benedikt XVI. Beide waren in diesem Zeitraum nacheinander Bischof des Erzbistums.

Mit der Klageerwiderung akzeptieren die Anwälte des Erzbistums grundsätzlich die Haftung für die anderen Beklagten wie Kardinal Wetter und den Rechtsnachfolger des verstorbenen Ex-Papstes, wenn die Verantwortung der damaligen Amtsträger vom Gericht festgestellt werden sollte. In dem Fall wäre ein Schmerzensgeld vom Gericht zu bestimmen.

Die Anwälte des Beklagten Kardinal Wetter beantragen für ihren Mandanten eine Klageabweisung und verweisen auf die Amtshaftung des Erzbistums. Die Position des Rechtsnachfolgers des verstorbenen Ex-Papstes ist bisher nicht bekannt. Die Klage bezieht sich auf dessen Verantwortung sowohl als Erzbischof als auch auf seine spätere Position als Chef der Glaubenskongregation. 

Opfervertreter sieht Reaktion des Erzbistums als „kleine Sensation“ an

Die Anwälte des Erzbistums verweisen in der kurzen Klageerwiderung darauf, dass auf „unkompliziertem Weg Leistungen und Anerkennung des Leids“ möglich seien, die die „katholische Kirche eröffnet“ habe. Darüber hinaus ist das Erzbistum bereit, „ein entsprechendes Schmerzensgeld“ zu leisten und auch für „hinausgehende Schadenersatzbegehren eine Lösung zu finden“. Über die in der Klage geforderte Feststellung einer Schadensersatzpflicht müsse das Gericht entscheiden. Das Landgericht Traunstein will die Verhandlung auf den 28.03. terminieren. „In der Vergangenheit haben wir nur über Anerkennungsleistungen gesprochen, heute sprechen wir über Schmerzensgeld. Das ist für mich eine kleine Sensation“, sagt der Sprecher des Betroffenen-Beirates, Richard Kick, gegenüber dem BR und CORRECTIV.

Anwalt des Klägers sieht die Antwort des Erzbistums als Erfolg für den Kläger

Der Rechtsanwalt des Klägers betrachtet die Klageerwiderung als Erfolg. „Dass die Erzdiözese München und Freising rechtlich in der Haftungsübernahme stand, war klar“, sagt der Klägeranwalt Andreas Schulz auf Anfrage von CORRECTIV und BR; die Einbeziehung des Ex-Papstes sei der strategische Ansatz gewesen, das Erzbistum zu dieser Entscheidung zu bringen. „Mit der heutigen Klageerwiderung des Erzbistums ist die Strategie des Klägers aufgegangen“, sagt dessen Anwalt Schulz, „auch, weil der verstorbene Kardinal Ratzinger die Ikone des Rechtsstreits gewesen war und immer noch ist.“

Der Kläger stehe einer „außergerichtlichen Einigung nicht ablehnend gegenüber“, sagt Anwalt Schulz gegenüber CORRECTIV und BR.

Offenbar Wendung bei Verzicht auf die Verjährung

Die sehr knappe Klageerwiderung des Erzbistums und die Presseerklärung des Erzbistums zum Verzicht der Verjährung kommen überraschend. Im Dezember hatten die Anwälte des Erzbistums dem Klägeranwalt noch in einem informellen Schreiben auf die Frage nach einem Verzicht auf die Einrede der Verjährung mitgeteilt, dass das Erzbistum dies nicht tun werde. Offenbar hat es seither ein Umdenken gegeben. 

Vor einer Woche hatten CORRECTIV und BR aus dem Briefwechsel zwischen dem Klägeranwalt und den Anwälten des Erzbistums zitiert, in dem die Anwälte des Erzbistums noch eine andere Rechtsauffassung vertreten hatten. Das Erzbistum bezeichnete die Berichterstattung dazu als „unzutreffend“. 

Weitere Unterlagen, die BR und CORRECTIV vorliegen, zeigen, dass diese Entscheidung des Erzbistums offenbar seit September 2022 erwogen wurde. Am 28. und 29. September diskutierte der Verband der Diözesen Deutschland die Einrede der Verjährung in zivilrechtlichen Fällen des Missbrauchs, bei denen die Tat strafrechtlich verjährt ist. Der Verband nimmt die wirtschaftlichen und rechtlichen Interessen der deutschen Bistümer wahr. Grund für das Sitzungsthema waren offenbar die Entschädigungsklage vor dem Landgericht Köln gegen das Erzbistum Köln und die Feststellungsklage vor dem Landgericht Traunstein. CORRECTIV und BR liegt das Protokoll der Sitzung vor.

Dieses zeigt: Die Bistumsjustiziare standen in Frankfurt vor einem Dilemma. Denn entweder drohen der katholischen Kirche laut dem Protokoll „erhebliche haushaltsrelevante Zahlungen (teilweise in Millionenhöhe)“ oder ein von „potentiellen Austritten und möglichen Reputationsschäden“ begleiteter Imageverlust. 

In dem Protokoll beschreibt die Leiterin der Rechtsabteilung des Erzbistums Köln das Dilemma und favorisiert eine „grundlegende Entscheidung, ob man sich auf die Einrede der Verjährung berufen“ solle. Im Kölner Fall entschied der Erzbischof Rainer Maria Woelki einen Tag vor Verhandlungsbeginn im Dezember 2022, auf die Einrede zu verzichten.

Der Leiter der Stabsstelle Recht des Erzbistums München und Freising vertrat offenbar eine klare Linie auf der Verband-Sitzung Ende September. Laut des Protokolls sprach er über den Klageeingang der Feststellungsklage vor dem Landgericht Traunstein. „Es seien vier Beklagte: der Täter, Papst em. Benedikt, Kardinal Wetter und die Erzdiözese München und Freising.“ Der Justiziar des Erzbistums München und Freising  „bestätigt die Einschätzung der anderen Mitglieder, auch externe Rechtsanwälte würden davon abraten, die Einrede nicht zu erheben“, heißt es im Protokoll. Zudem sprach er sich dafür aus, „in der Argumentation“ hervorzuheben, dass es eine unabhängige Kommission zur Anerkennung des Leides gebe. 

Dieser Sichtweise des Justiziars des Erzbistums München und Freising im September folgten die Anwälte des Erzbistums in ihrem Antwortschreiben noch im Dezember. Danach hat es im Erzbistum offenbar ein Umdenken gegeben.

Suche nach dem Rechtsnachfolger von Benedikt XVI.

Der Prozess vor dem Landgericht Traunstein ist ausgesetzt, bis der Rechtsnachfolger des Ex-Papstes genannt wird. Die Kanzlei des verstorbenen Papstes geht davon aus, dass dieses „kurzfristig“ geschehen würde, und alle im Verfahren Beteiligten gehen davon aus, dass der erste Sitzungstermin Ende März wahrgenommen werden könne. Die Klageerwiderung des Rechtsnachfolgers des verstorbenen Ex-Papstes ist bisher nicht eingegangen.