Hohe Anzahl von „Nato-Soldaten“ in der Ukraine? Experten halten das für unwahrscheinlich
Ein Oberst des österreichischen Bundesheeres spricht in einem Vortrag über „eine hohe Anzahl“ von ausländischen Söldnern in der Ukraine. Ein Telegram-Kanal nutzt das, um zu behaupten, Russland kämpfe dort gegen die Nato. Warum das irreführend ist, erklärten uns mehrere Experten.
Kann es sein, dass Nato-Soldaten in der Ukraine kämpfen? Nahrung für dieses Gerücht lieferten nicht nur internationale Medienberichte über die sogenannten Pentagon Leaks, sondern auch ein Videoausschnitt, in dem der österreichische Offizier Markus Reisner spricht.
Angeblich habe Reisner bestätigt, dass Nato-Soldaten ihren Job aufgeben, als Vertragsbedienstete in die Ukraine gehen und dort die gelieferten Waffen bedienen würden. So behauptet es ein Telegram-Kanal, der häufig pro-russische Beiträge teilt. Der Kanal behauptet weiter, mehr als 20.000 Militärangehörige aus Polen seien bereits in der Ukraine – Russland kämpfe daher gegen die Nato. Ähnlich formulierte das ein russischsprachiger Telegram-Kanal. Auch Staatsmedien aus Russland berichteten über das Video.
CORRECTIV.Faktencheck hat sich die Behauptung genauer angesehen und über die Aussagen von Markus Reisner mit deutschen und österreichischen Militär- und Sicherheitsexperten gesprochen. Sie sagen, der Anteil ausländischer Kämpfer in der Ukraine sei eher gering und dass sie dort mutmaßlich kein schweres Gerät bedienen würden.
Oberst Markus Reisner sagte, eine „hohe Anzahl ausländischer Söldner“ befinde sich in der Ukraine
Reisner gilt als Militärexperte. Das Video zeigt ihn bei einer Podiumsdiskussion der Diplomatischen Akademie Wien am 27. Januar 2023, die vollständig auf Youtube zu finden ist.
Er antwortete auf eine Zuschauerfrage, ob Nato-Soldaten die an die Ukraine gelieferten Waffen bedienen müssten. Er sagte ab Stunde 1:16:53: „Sie brauchen keine Nato-Soldaten in die Ukraine schicken. Ich ziehe meine Uniform aus, unterschreibe einen Vertrag und gehe in die Ukraine. Ich bin kein Angehöriger der österreichischen Streitkräfte mehr, sondern Vertragsbediensteter. Das ist die Lösung, die wir sehen […] was man daraus schließen kann, ist, dass sich eine hohe Anzahl ausländischer Söldner in der Ukraine befindet, aber nicht von Nato-Soldaten.“
Russland und Ukraine – laut Reisner sind ausländische Freiwillige auf beiden Seiten beteiligt
Wir haben Markus Reisner über das Österreichische Bundesheer kontaktiert und ihn gefragt, auf welchen Quellen seine Aussage beruht. Auf unsere Anfrage reagierte er am 27. März mit einem vierseitigen PDF-Dokument.
Darin schreibt er, dass „auf beiden Seiten eine unbestimmte Anzahl an ‚Söldnern‘ am Kriegsgeschehen beteiligt sind und nachweislich auch Kriegsverbrechen begehen“. Als Beispiele nannte er die pro-ukrainische Mozart-Gruppe und die russische Wagner-Gruppe. Dass 20.000 polnische Soldaten – wie auf Telegram behauptet – in der Ukraine kämpfen würden, sei „so nicht beweisbar und reine Spekulation“.
In seiner Antwort setzt Reisner das Wort Söldner immer wieder in Anführungszeichen. Er ordnet ein, er meine damit „Kämpfer, die einem Drittstaat angehören, der nicht Konfliktpartei ist“. Diese zeichneten sich dadurch aus, dass sie aus persönlichem Gewinnstreben in den Kampf ziehen würden – so auch die Definition im Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten.
Insgesamt kämpfen laut Reisner „ehemalige Soldaten, welche sich als ‚Söldner‘ ein Zubrot verdienen“ in der Ukraine, desertierte Nato-Soldaten und Zivilisten, die die Ukraine unterstützen wollen. Dabei verweist er auf Medienberichte, die zeigen, dass sich seit Beginn des russischen Angriffs immer wieder Freiwillige für den Kampfeinsatz auf Seiten der Ukraine gemeldet haben.
Ukraine warb online um Kampferfahrene
Die Ukraine rief zu Kriegsbeginn Kampferfahrene auf, sich der Internationalen Legion der Ukraine anzuschließen (hier archiviert vom 6. März 2022). Wie viele Menschen das getan haben, ist unklar – auf unsere Anfragen dazu beim ukrainischen Außenministerium und Verteidigungsministerium erhielten wir keine Antwort. Im März 2022 behauptete die ukrainische Regierung, knapp 20.000 Freiwillige hätten sich gemeldet. In einem Bericht der Washington Post vom 18. Januar 2023, den Reisner seiner Antwort beifügte, ist von 1.000 bis 3.000 Kämpfern die Rede. Die Zahl sei eine „grobe“ Annäherung, heißt es in der Zeitung.
Reisner schreibt auch: Die Bedienung von komplexen Waffensystemen erfordere die Anwesenheit von kundigem Personal. „Um die Zugehörigkeit zu den Streitkräften einer Seite zu verschleiern“ sei es „übliche Praxis als zum Beispiel ‚Contractor‘ im Konfliktgebiet präsent zu sein“.
Was sind Contractors?
Könnte es also sein, dass ehemalige Nato-Soldaten schwere, aus dem Westen gelieferte Waffen für die Ukraine bedienen und dort „verschleiert“ von Staaten eingesetzt werden, wie Reisner schreibt?
Journalist für Sicherheitspolitik: „Was Reisner da sagt ist, zurückhaltend ausgedrückt, ein bisschen unscharf“
Thomas Wiegold, deutscher Journalist für Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, schrieb uns, Reisners Aussage sei „zurückhaltend ausgedrückt, ein bisschen unscharf“.
Zwar gebe es seiner Einschätzung nach „sehr wahrscheinlich eine signifikante Zahl“ ausländischer Staatsangehöriger, die in der und für die Ukraine kämpfen, diese seien aber in die Strukturen der ukrainischen Streitkräfte integriert und stünden unter deren Befehl. „Damit sind es keine Söldner, die aus Gründen eines wirtschaftlichen Vorteils kämpfen“, schreibt er. Dafür, dass sogenannte Contractors in der Ukraine an Kampfhandlungen teilnehmen würden, habe er bislang keine Hinweise oder Belege gesehen.
In Sozialen Netzwerken wurde Reisners Aussage so interpretiert, dass sich Nato-Soldaten in der Ukraine befinden und dort kämpfen würden. Dazu schreibt uns Wiegold: „Wenn ein ehemaliger britischer Soldat als Privatperson in die Ukraine geht und dort in einer der aus ausländischen Freiwilligen gebildeten Einheiten an Kampfhandlungen teilnimmt, ist die Behauptung ‚ein Nato-Soldat kämpft in der Ukraine‘ hart am Rande der bewussten Falschmeldung.“
Militärexperte Gressel: „Kein Contractor kann IRIS-T bedienen“
Ähnlich äußert sich uns gegenüber auch der österreichische Militärexperte Gustav Gressel, der selbst in der österreichischen Armee war.
Seiner Einschätzung nach kämpften in der Ukraine inzwischen deutlich weniger Freiwillige als noch zu Beginn des Krieges (Stand: 25. April 2023). Mittlerweile seien dort eher ehemalige Soldaten von Spezialkräften zu finden, die Personal- oder Objektschutz betreiben würden. Dass sie schwere Waffen aus dem Westen bedienten, wie zum Beispiel die Flugabwehrsysteme Patriot oder IRIS-T des deutschen Waffenherstellers Diehl, hält er für unrealistisch. Denn private militärische Sicherheitsfirmen, bei denen Contractors angestellt sind, verfügten nicht über solches Kriegsgerät und hätten dementsprechend auch keine Kenntnisse im Umgang damit.
Ebenso unrealistisch sei es, dass private Militärfirmen und deren Contractors Angriffe auf ein Dorf oder eine Stadt ausführen würden. Selbst die nach Gressels Aussage größte private Militärfirma der Welt, das russische Unternehmen Wagner, tue sich damit im Kampf in der Ukraine extrem schwer. Schließlich könnten Angriffe nur im sogenannten „Gefecht der verbundenen Waffen“ stattfinden. Damit ist gemeint, dass verschiedene Waffengattungen wie Kampfpanzer und Artillerie oder Luftstreitkräfte miteinander koordiniert werden müssen, um effektiv zu sein.
Ex-Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums: Die Ukraine betrachte die Internationale Legion als gescheitert
Ein weiterer Experte, der Reisner widerspricht, ist Nico Lange. Er war von 2019 bis 2022 im deutschen Verteidigungsministerium tätig und galt als enger Vertrauter der ehemaligen CDU-Chefin und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer.
Lange ist sich ebenso sicher, dass Contractors kein schweres Gerät in der Ukraine bedienen. Für den Kampf an der Front hätten militärische Privatfirmen weder die nötigen Fähigkeiten noch das entsprechende Material.
Auf die Frage, wie viele Ausländer und ehemalige Soldaten für die Ukraine kämpfen, sagte Lange: Die Freiwilligen, die sich für die Internationale Legion meldeten, würden seines Wissens kaum noch in die regulären Streitkräfte übernommen. Die Ukraine betrachte die Internationale Legion als gescheitert, weil man kaum Menschen mit wirklicher Kampferfahrung habe anwerben können.
Aus den sogenannten Pentagon Leaks sei zwar bekannt, dass verschiedene Länder Elite-Soldaten einsetzten, um ihr Botschaftspersonal oder den Transport von westlichen Waffenlieferungen zu schützen. Doch Medien berichteten international (hier, hier und hier), dass es unklar ist, ob die Leaks echt sind und dafür, dass diese Elite- beziehungsweise Nato-Soldaten an Kampfhandlungen teilnehmen würden, sind die Leaks keine Belege.
Wie viele ehemalige Nato-Soldaten aus Österreich und Deutschland kämpfen in der Ukraine?
Wir wollten vom deutschen und vom österreichischen Verteidigungsministerium wissen, was dort über die Ausreise von Soldatinnen und Soldaten der jeweiligen Armeen bekannt ist.
Das deutsche Verteidigungsministerium schrieb auf unsere Anfrage, es führe keine Statistiken über die Zahl ehemaliger Bundeswehr-Soldatinnen und -Soldaten – könne also auch nicht sagen, wie viele in die Ukraine gereist seien. Für das österreichische Innenministerium antwortete uns Ressortsprecher Harald Sörös am 14. März, dass eine „einstellige Personenzahl bekannt sei, die nach Ausbruch des Krieges aus Österreich in die Ukraine gereist“ sei. Ob die Ausgereisten in der Ukraine tatsächlich kämpften, sei Gegenstand von Ermittlungen.
Ukrainische Soldaten wurden unter anderem in Deutschland an schweren Kriegswaffen ausgebildet
Doch nicht nur die Aussagen der von uns befragten Experten und der Verteidigungsministerien Deutschlands und Österreichs stellen Reisners Behauptung in Frage. Auch die Tatsache, dass zahlreiche ukrainische Soldatinnen und Soldaten im Ausland an schweren Waffen ausgebildet wurden, lässt sie unplausibel erscheinen.
Das Verteidigungsministerium in den USA gab Ende Dezember 2022 an, seit April 2022 3.100 ukrainische Soldaten geschult zu haben. Im Rahmen der EU Military Assistance Mission (PDF als Download) bildet auch die Bundeswehr Soldatinnen und Soldaten aus der Ukraine an verschiedenen Waffensystemen aus. Darunter die Panzerhaubitze 2000, der Mehrfachraketenwerfer Mars, der Schützenpanzer Marder 1 und der Kampfpanzer Leopard 2. Auf einer Informationsseite der Bundeswehr heißt es, die EU wolle 2023 und 2024 insgesamt rund 30.000 ukrainische Soldaten ausbilden. Ähnliche Ausbildungsziele setzte sich Großbritannien.
Für die Behauptung, es gebe eine hohe Anzahl ausländischer Söldner oder gar Nato-Soldaten in der Ukraine, die möglicherweise verdeckt schweres Gerät bedienen, gibt es also keine Belege.
Korrektur, 22. Juni 2023: Wir schrieben, Österreich sei Teil der Nato. Das ist falsch. Den entsprechenden Satz haben wir entfernt.
Redigatur: Kimberly Nicolaus, Sarah Thust
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Podiumsdiskussion der Diplomatischen Akademie Wien vom 27. Januar 2023: Link