Wozu braucht es einen internationalen Faktencheck-Tag?
Uschi Jonas: Anders als noch vor der Corona-Pandemie bekommt Desinformation mittlerweile die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit. Das ist auch gut so. Aber wir dürfen nicht locker lassen! Nach der Pandemie waren es der Krieg in der Ukraine, der Krieg im Nahen Osten, Klimawandel, Migration und viele weitere Themen, die Futter für die Verbreitenden von Fakes und Propaganda liefern. Dagegen kommen wir nur nachhaltig an, wenn die Aufmerksamkeit für das Thema hoch bleibt. Desinformation ist nach wie vor eine Bedrohung für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie – im Superwahljahr 2024 braucht es umso mehr Maßnahmen dagegen.
Zum Beispiel Faktenchecken?
Uschi Jonas: Genau. Denn Faktenchecks setzen konkreten Falschbehauptungen direkt etwas entgegen und können ihnen, vor allem wenn die Aufklärung schnell geschieht, den Wind aus den Segeln nehmen. Bei uns im Team arbeiten neun Faktencheckerinnen und Faktenchecker dauerhaft daran, virale Fakes mit transparent und nachvollziehbar recherchierten Faktenchecks zu entlarven. Außerdem veröffentlichen wir Checks im Videoformat auf Instagram und Tiktok und geben Tipps und Workshops, wie jeder selbst Desinformation aufdecken kann. Hier kommt auch das CORRECTIV.Faktenforum ins Spiel, das zum Jahresbeginn an den Start ging.
Caroline Lindekamp: Unser Ziel ist es, eine Faktencheck-Community aus Bürgerjournalistinnen aufzubauen. Ein Impuls für das Projekt kommt letztlich von den Nutzern selbst. Sie reichen unter anderem über unseren WhatsApp-Chatbot Hinweise bei der Faktencheck-Redaktion ein. An anderer Stelle nehmen sie an unseren Workshops teil. Solches Wissen können sie im Faktenforum direkt anwenden. Wir verfolgen damit zwei Ziele: Das Lernen wir nachhaltiger und vor allem eröffnen wir Handlungsoptionen gegen Desinformation. Wer sich für eine faktenbasierte Debatte einsetzen möchte, bekommt bei uns die Gelegenheit dazu und kann sich mit anderen vernetzen und austauschen.
Heißt das, Ihr bildet in dem Projekt Faktenchecker aus?
Caroline Lindekamp: Wir sind zumindest keine Ausbildungsplattform für Journalistinnen und Journalisten. Natürlich geben wir den Leuten mit Workshops, Community-Betreuung und Lernmaterialien nötige Tools und Fähigkeiten an die Hand, damit sie aktiv im Faktenchecken werden können. Aber jeder soll den Beitrag leisten, den er oder sie leisten kann und will. Es geht nicht bloß darum, die Community weiterzubilden. Wir wollen zudem das Faktenchecken zugänglicher machen – und dafür setzen wir auf eine Plattformlösung.
Wie genau sieht die aus?
Caroline Lindekamp: Wir werden in den kommenden Wochen den Userbereich auf unserer Plattform CORRECTIV.Faktenforum an den Start bringen. Dort können Interessierte einen persönlichen Account anlegen und gemeinsam mit anderen Usern Fakten checken. Sie reichen Behauptungen, die sie anzweifeln, ein. Über eine Kommentarfunktion diskutieren sie die Einreichungen mit Anderen und dem Faktenforum-Team. Sie recherchieren Quellen, die die jeweilige Behauptung entweder belegen oder widerlegen. Erst mit einer soliden Quellenbasis können wir eine Behauptung als falsch, irreführend oder richtig einordnen. Wer Interesse hat, kann sich übrigens schon jetzt in unserem Discord-Server und für unseren Newsletter anmelden.
Wie geht Ihr bei der Entwicklung der Plattform vor, damit diese von der Community auch angenommen wird?
Caroline Lindekamp: Bevor wir live gehen, werden wir sogenannte User-Tests machen. Zusammen mit Nutzerinnen und Nutzern spielen wir die Funktionalitäten auf der Plattform durch, schauen ob die Abläufe intuitiv sind und fragen, was fehlt. Dieses Vorgehen gilt für die Plattform und trifft ebenso auf das Projekt an sich zu: Wir geben einen Rahmen und die Idee vor, aber die eigentliche Entwicklung läuft zusammen mit der Community. Letztlich gelingt das Projekt nur, wenn Menschen Lust haben, daran mitzuwirken.
Uschi Jonas: Wir erleben im Austausch mit unseren Lesern und Leserinnen regelmäßig, dass das Bedürfnis groß ist, sich selbst gegen Desinformation zu engagieren. Sie fragen nach Tipps, wie sie damit umgehen können, wenn sie in ihrem Umfeld mit Fakes oder Verschwörungserzählungen konfrontiert werden. Wir liefern viele Tipps und Hacks auf unserer Webseite und auf Social Media – aber mit dem Faktenforum bekommen sie noch eine Handlungsoption mehr, durch die sie richtig aktiv werden können.
Welche Pläne hat die Faktencheck-Redaktion – auch mit Blick auf das Superwahljahr?
Uschi Jonas: Neben unserer täglichen Faktencheck-Arbeit haben wir stets einen Blick auf größere Desinformationskampagnen und -Player und berichten darüber auch 2024. Im Hinblick auf die Europawahl arbeiten wir zudem an einem tollen Projekt mit: Im Rahmen des European Fact-checking Standards Network (EFCSN) haben wir gemeinsam mit mehr als 40 Faktencheck-Redaktionen aus ganz Europa die erste EU-weite Faktencheck-Datenbank gestartet – unterstützt von der Google News Initiative. Neben Faktenchecks viraler Fakes wird es dort auch Richtigstellungen zu Aussagen von Politikern, Hintergrundberichte über Desinformationskampagnen und zu sich international verbreitenden Narrativen im Zusammenhang mit der Europawahl geben. Die Datenbank soll helfen, Menschen in Europa eine faktenbasierte Grundlage für ihre Wahlentscheidung zu liefern.
Caroline Lindekamp: Im Faktenforum haben wir die EU-Wahl ebenfalls im Blick. Wir planen einige Vor-Ort-Veranstaltungen mit Paneldiskussionen und Workshops. So wollen wir mit den Menschen ins Gespräch kommen: Was bewegt sie? Welche Themen interessieren sie? Die Erfahrungen werden wir nutzen, um im Sommer weitere Aktionen vor den Landtagswahlen zu planen.
Spielen sogenannte Deepfakes, also KI-generierte Inhalte, eine große Rolle?
Uschi Jonas: Wir sehen auf jeden Fall zunehmend manipuliertes Video- und Bildmaterial, darunter auch Inhalte, die KI-generiert sind. Aber häufig sind diese bislang mit einem konzentrierten Blick schnell zu entlarven – hat eine Person sieben statt fünf Finger an einer Hand? Bewegen sich die Lippen komisch? Täuschen lässt man sich im Zweifel natürlich dennoch davon – vor allem, wenn man eine solche Manipulation nicht erwartet. Immer häufiger begegnen uns auch gefälschte Tonspuren in Videos. Insgesamt lässt sich aber sagen: Noch hält sich die Gefahr, die von KI-generierten Inhalten ausgeht, in Grenzen. Nutzerinnen und Nutzer sollten trotzdem zunehmend wachsam sein. Und: Die Technologie entwickelt sich rasant weiter – natürlich nicht nur zum Negativen. Auch bei uns wird an KI-Tools getüftelt, die wir entsprechend journalistischen Standards nutzen können.
Caroline Lindekamp: Genau, es ist wichtig zu differenzieren. KI-Tools sind letztlich nur Werkzeuge, die mit guten ebenso wie schlechten Absichten eingesetzt werden können. Bei CORRECTIV haben wir zum Beispiel die Wolf-Schneider-KI entwickelt. Sie redigiert Texte automatisiert – und überlässt die Entscheidung für oder gegen eine Formulierung immer den Usern. Für ein Projekt wie das CORRECTIV.Faktenforum ist so eine Anwendung sehr hilfreich, denn sie erleichtert Menschen die Textarbeit. Daher kooperieren wir für das Projekt auch mit Wissenschaftsteams von der Ruhr-Universität Bochum und der TU Berlin. Sie entwickeln KI-basierte Assistenztools, die wir in einer der nächsten Entwicklungsphasen in die Faktenforum-Plattform integrieren wollen. Auch dabei gilt: Die Tools werden lediglich eine Unterstützung für die Community sein; die abschließende Einordnung einer Behauptung trifft immer der Mensch.
Solche Einordnungen sind oft komplex, aber habt ihr auch einen kurzen Faktencheck-Tipp?
Caroline Lindekamp: Nachdenken statt Teilen.
Uschi Jonas: … und im Zweifel erst mal schauen, ob es zu einem Thema schon einen Faktencheck oder andere seriöse Medienberichte gibt.