Liebe Leserinnen und Leser,
Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck macht Wahlkampf mit sozialer Gerechtigkeit – anstatt mit dem Markenkern seiner Partei, dem Klimaschutz. Welche Strategie steckt dahinter, und ist das klug? Darum geht es im Thema des Tages.
Außerdem heute wichtig: Noch bis morgen Mittag läuft unsere Aktion „Deine Stimme, Deine Themen“, bei der Sie darüber mitbestimmen können, zu welchen Themen sich die Kanzlerkandidatinnen und -kandidaten der Parteien im Bundestagswahlkampf äußern sollen. Stimmen Sie hier ab:
Im SPOTLIGHT (Rubrik „Werkbank“) erfahren Sie heute außerdem, was wir noch zu den „Abschiebetickets“ der AfD Karlsruhe recherchieren konnten. Apropos AfD: Wir haben ein Kurzvideo zu den Protesten gegen den Parteitag am vergangenen Wochenende veröffentlicht – hier entlang.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und schreiben Sie mir wie immer gern, was Sie umtreibt: anette.dowideit@correctiv.org.
Thema des Tages: Was macht Habeck denn da?
Der Tag auf einen Blick: Das Wichtigste
Faktencheck: Alice Weidel bei Elon Musk: Diese Behauptungen haben wir geprüft
CORRECTIV-Werkbank: Wie wir dem Pseudeo-„Abschiebeticket“ der AfD nachgespürt haben
Grafik des Tages: Digitale Gewalt: Mehr als die Hälfte der politisch Aktiven betroffen
Robert Habecks Wahlkampfstrategie sorgt gerade für angeregte Diskussionen. Und zwar bei seinen Anhängern ebenso wie bei seinen Gegnern. Der Kanzlerkandidat der Grünen will, dass künftig besonders Reiche stärker zur Finanzierung unserer Sozialsysteme beitragen sollen. Was man darüber wissen sollte:
Warum setzt Habeck dieses Thema?
Ziemlich viele Wähler finden, das Thema Klimaschutz komme in diesem Wahlkampf ohnehin schon viel zu kurz. Das sagen zum Beispiel die SPOTLIGHT-Leser (siehe Ausgabe von gestern). Deshalb ist es erstaunlich, dass Habeck nun ein anderes Thema in den Wahlkampf-Fokus gerückt hat. Warum? Er wollte offenbar zeigen, dass die Grünen noch mehr können als Klima.
War das klug?
Nein. Habecks Mitbewerber ums Kanzleramt, Friedrich Merz (CDU), hatte ihm Anfang dieser Woche eine Steilvorlage für einen Elfmeter gegeben, die der Grüne nur hätte verwandeln müssen:
Merz sagte, er lehne einen Ausstieg aus Kohle und Gas aus Klimaschutzgründen ab (nachzulesen beim Spiegel). Habeck aber ließ den Ball einfach unbeachtet auf dem Elfmeterpunkt liegen. Und versuchte stattdessen, mit dem Sozialthema zu punkten.
Was genau will Habeck von den Reichen?
Sein Plan: Künftig sollen Einkünfte aus Kapitalerträgen (zum Beispiel Aktiengewinne) dafür herangezogen werden, unter anderem die gesetzliche Krankenversicherung zu finanzieren. So will er Reiche stärker für unsere Solidargemeinschaft heranziehen, wie er selbst twitterte – denn nur die haben ja überhaupt Geld übrig, das sie in Aktien oder andere Kapitalgeschäfte stecken können.
Aber wen meint er damit?
Genau das ist das Problem – und das fällt Habeck gerade auf die Füße: Er und seine Parteikollegen haben tagelang überhaupt nicht erklärt, wen sie als „reich“ bezeichnen. Wo also für sie die Mittelschicht aufhört und die Oberschicht beginnt.
Diese Unschärfe in Habecks Wahlkampf-Manöver nutzten konservative Politiker und die Medien, die ihnen nahestehen, gnadenlos aus. Und das zurecht. Denn für sie war das natürlich eine sehr willkommene Gelegenheit, Wähler aus der Mittelschicht zu warnen: Die Grünen wollen euch, den hart arbeitenden kleinen Leuten, die vom Mund abgesparten Erträge aus euren Sparfonds wegnehmen.
Erst jetzt, Tage später, haben die Grünen präzisiert: Es gehe ihnen „nur um Millionäre“.
Hat das dem Wahlkampf der Grünen geschadet?
Wahrscheinlich schon. Die konservative FAZ zum Beispiel beschwört sogar schon herauf, Habeck habe den Grünen einen neuen „Veggie Day“ beschert.
Falls Sie sich nicht erinnern: 2013 verursachte die Partei ihr bisher größtes PR-Desaster, indem sie einen verpflichtenden vegetarischen Wochentag für Kantinen forderte. Die Deutschen lassen sich sehr ungern ihr Fleisch verbieten.
Egal also, ob man Habeck und die Grünen mag oder nicht: Eine politische Forderung raushauen, dann aber auf Nachfrage nicht präzisieren zu können, was man damit meint – da sollte Habeck kommunikativ definitiv besser aufgestellt sein.
Nahost: Einigung zwischen Israel und Hamas droht zu kippen
Beide Parteien verständigten sich am Mittwoch auf eine Waffenruhe im Gazastreifen, zudem sollen die von der Terrororganisation festgehaltenen Geiseln freigelassen werden. Final ist der Deal bislang nicht. Beide Seiten werden sich bei Details des Abkommens nicht einig – und auch innerhalb der israelischen Regierung gibt es keine einheitliche Linie.
bbc.com / tagesschau.de (Liveblogs)
Aserbaidschan-Affäre: Ehemalige Unionsabgeordnete vor Gericht
Eduard Lintner (CSU) und Axel Fischer (CDU) sollen hohe Summen aus Aserbaidschan angenommen haben, um im Europarat im Sinne des Regimes zu handeln. Beide bestreiten die Vorwürfe.
zdf.de
Lokal: Brandenburg fördert rechte Bildungsarbeit von AfD-naher Stiftung
Rund 100.000 Euro soll die parteinahe Stiftung in drei Jahren vom Land bekommen haben – obwohl der brandenburgische AfD-Landesverband als „rechtsextremistischer Verdachtsfall“ eingestuft wird. Das Geld wird für bildungspolitische Fachvorträge genutzt, in denen unter anderem Verschwörungserzählungen über die Corona-Pandemie verbreitet werden.
moz.de
Investigativ: PFAS-Verschmutzung könnte Hunderte Milliarden Euro kosten
Am Dienstag haben NDR, WDR und die Süddeutschen Zeitung bereits gezeigt, wie viel Einfluss die Industrie-Lobby beim Thema PFAS hat. Die Stoffe stellen eine langfristige Umwelt- und vor allem Gesundheitsgefahr dar. Einer neuen Recherche zufolge wird es mindestens 800 Millionen kosten, die verseuchten Böden zu reinigen. Die jährlich anfallenden Gesundheitskosten in Europa sind schon jetzt milliardenschwer.
tagesschau.de / sueddeutsche.de (€)
Vor einer Woche war AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel auf X zu Gast bei Tech-Milliardär Elon Musk. Im Gespräch fielen mehrere Falschbehautpungen. Wir haben einige der Aussagen von Alice Weidel geprüft.
CORRECTIV.Faktencheck
Endlich verständlich
Die Bundestagswahl rückt näher. Unverzichtbar für den Wahlkampf sind die Jugendorganisationen der Parteien. Unsere Jugendredaktion Salon5 wollte wissen, wie ihre Arbeit aussieht und hat die Linksjugend beim Plakatieren in Bottrop begleitet.
Disclaimer: Für die Begleitung beim Wahlkampf wurden alle Parteien angefragt. Nicht alle haben zugesagt. Deshalb stellt Salon5 nur einige Jugendorganisationen vor, zuletzt die Schülerunion (CDU/CSU).
Salon5 (Instagram)
So geht’s auch
Etwa 90 Prozent der neu zugelassenen Autos in Norwegen sind E-Autos. Was diesen Erfolg verursacht, was Deutschland davon lernen kann und was nicht, erklärt das ZDF.
zdf.de
Fundstück
Mit Falschnachrichten zum Medienstar aufsteigen? Das kann man in diesem Online-Spiel. Das eigentliche Ziel dahinter ist jedoch ein anderes, nämlich für die Taktiken und Manipulationstechniken zu sensibilisieren, die hinter den Verbreitern von Falsch- und Desinformation stehen.
getbadnews.com (Englisch)
Die AfD Karlsruhe hat gerade mit einem Propagandaflyer im Format eines Pseudo-„Abschiebetickets“ für einen weiteren Eklat im Wahlkampf gesorgt. Welche rechtsextreme Tradition hinter dieser Methode steckt, haben wir bereits am Dienstag im Spotlight mit einer Grafik erläutert.
Heute gebe ich Ihnen einen Einblick, wie das Ganze ins Rollen gekommen ist: In den sozialen Netzwerken kursierten am Wochenende Fotos von Menschen mit Migrationsgeschichte, die angaben, ein solches „Ticket“ in ihrem Briefkasten gefunden zu haben. Ich habe am Sonntag auf BlueSky einen Aufruf zur Crowd-Recherche gestartet. Nehmen Sie sich ruhig fünf Minuten Zeit, um durch die Antworten zu scrollen. Sie werden viel Medienkompetenz entdecken, was mir Hoffnung macht.
In einer zweiten Nachricht auf BlueSky habe ich zentrale Ergebnisse der Crowd-Recherche bereits wenige Stunden später zusammengefasst. Hier nur das Wichtigste, das CORRECTIV dank der Crowd verifiziert hat:
- Die Echtheit des „Abschiebetickets“
- Mehrere direkte Bezüge zu AfD-Verbänden in Baden-Württemberg
- Direkter Bezug zu Parteichefin Alice Weidel, weil ein AfD-Mann aus ihrem Kreisverband das Ticket beim Parteitag in die Kamera hielt.
Ab Montag begannen die ersten Medien zu berichten, auch mehrere Lokalmedien aus unserem Netzwerk CORRECTIV.Lokal. Erst danach äußerte sich die AfD erstmals öffentlich. Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Tatvorwurfs der Volksverhetzung.
Beleidigungen, Vergewaltigungsdrohungen, Mordaufrufe: Die Mehrheit der Menschen, die sich politisch einbringen, ist mit digitaler Gewalt konfrontiert. Das betrifft Frauen häufiger als Männer. Alarmierend ist zudem, dass es oft nicht nur bei Online-Drohungen bleibt: Wer schon einmal digitale Gewalt erlebt hat, ist auch häufiger von Gewalt im analogen Raum betroffen, zeigt eine Studie der TU München in Kooperation mit HateAid.
faz.net
An der heutigen Ausgabe haben mitgewirkt: Robin Albers, Till Eckert und Sebastian Haupt.
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