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Als der Krieg begann

Ich kann mich erinnern, wie der Krieg begann. Damals im Jahr 2001. Ich war in New York. Ich stand auf einer Brücke über dem East River und habe die Türme brennen gesehen.

von David Schraven

Kriegszeiten

Irgendwann in der Woche nach dem 11. September 2001 packte ich das gelbe Shirt der DBoon All-Stars in meine Tasche. Es war das Trikot meines Fußballteams für das ich damals spielte auf dem Dach eines Parkhauses am Ufer des Hudson-River. Mark Fason hatte mich angerufen, unser Kapitän. „Kannst du heute Abend spielen?“ Ich konnte. Es war das erste Mal, dass wir spielen würden; das erste Mal, seit die beiden Verkehrsflugzeuge ins World Trade Center gestürzt waren. Fußball beruhigt. Auf dem Platz fühle ich mich sicher. Ich denke nicht, ich renne. Und ich mag es, mit den Kollegen danach ein Bier zu trinken. Mark hatte gesagt, unser Stürmer ist tot. Er hat in den Twin Towers gearbeitet. Er hieß David — wie ich.

Einen Tag vorher war ich am „Ground Zero“. So nennen sie den Ort der Katastrophe. In dichten Stößen stieg Rauch aus einer Spalte. Ob es noch irgendwo brannte? Ein Feuerwehrmann nickte: „Was immer es ist, es stinkt wie eine schmelzende Pariser-Fabrik.“

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Ich war die ganze Woche nach den Anschlägen unterwegs. Ein paar Hush-Puppy-Schuhe hab ich in der City kaputtgelaufen. Mein Fahrrad stand bei einer Bekannten in Brooklyn. Meine Haut war damals seltsam gerötet, ich konnte nur schwer durch die Nase atmen. Ich versuchte ständig sie freizuniesen. Meine Mitbewohnerin sagte, das komme vom Trümmerdreck in Manhattan. Ich hatte keine Staubmaske auf. In der Stadt sah ich viele Menschen, die sich immer wieder an die Nase griffen. Der Staub kroch in die Nase, unter die Kleidung, auf die ganze Haut, bis man sich fühlte, als habe der Staub den Körper durchdrungen.

Eine Stadt im Schock

Über 5.000 Menschen wurden damals vermisst. Erst knapp 300 Tote hatten sie geborgen. Eine Freundin sagte, der Rest sei zu Asche verbrannt. Die Temperatur in den brennenden Twin Towers sei größer gewesen als in einem Krematorium. Es hat Jahre gedauert, alle Opfer zu bergen, zu identifizieren. Mindestens 2.759 Tote gab es in New York, darunter 127 Passagiere, 18 Besatzungsmitglieder und zehn Entführer der beiden Flugzeuge. Weitere fast 250 Menschen sind in Washington gestorben, im Pentagon und beim Örtchen Shanksville in Pennsylvania. Ein ganzes Land war im Schock. Alles war eingefroren. Still und Ängstlich. Panisch. Erst nach und nach konnten die Vermisstenfälle geklärt werden.

Ich kann mich immer noch an den Geruch erinnern, der aus den verbrannten Resten der Twin Towers von Downtown über Midtown nach Brooklyn und Queens rauszog. Dieser Geruch, der sich durch den Körper frisst. Der Geruch, der an ein Krematorium erinnert. Ich habe wohl Leichen eingeatmet.

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Ich wusste damals nicht, wie es sein würde, wieder auf dem Fußballplatz zu stehen und einer von uns wäre auch dort verbrannt. Mark sagte, David würde noch vermisst. „Aber du weißt ja, wie es ist. Es gibt keine Hoffnung.“ David war ein guter Spieler. Sehr schnell, mit einem guten Schuss. Rund zwei Monate habe ich mit ihm gespielt. Erst vier Monaten zuvor hatte er bei einer Versicherung im World Trade Center angefangen. Erst vierzehn Tagen vor den Anschlägen war er in Schweden, in seiner Heimat, bei seiner Familie. David hatte keine Freundin. Mark sagt, außer uns habe David nicht viele Bekannte in der Stadt gehabt. Er war ja noch neu.

Sneha Ann Phillip

Ich krame in meinen Notizbüchern. Immer wieder habe ich mir Namen notiert, die auf den Flugblättern in der ganzen Stadt hingen. Hinter jedem Namen habe ich die Etage geschrieben, in der das Opfer gearbeitet hat. Nie die Telefonnummer des Suchenden. Ein paar Flugblätter sehe ich immer noch vor Augen. Wie das von Dr. Sneha Ann Phillip. Es klebte einsam an einem Laternenpfahl an der Ecke Broadway/50. Straße. Auf dem Flugblatt sind vier Fotos, drei farbige, eines in Schwarzweiß. Unter den Fotos ist ein Steckbrief abgedruckt. Augen: braun. Haare: schwarz. Hautfarbe: oliv. Ron Lieberman bittet um Rückruf, falls jemand Frau Phillip gesehen hat.

Es ist Sneha Ann, die auf den Fotos lächelt. Auf einem spielt sie mit einer getigerten Katze. Ein anderes ist vor uralten Säulen aufgenommen, ein feines Relief ist zu erkennen. Sneha Ann schaut direkt in die Kamera — als suche sie die Person dahinter. Auf dem Schwarzweißfoto sind ihre Augen weit geöffnet, die Lippen feucht. Der Kopf ist vorgeneigt, eine Locke hängt ihr ins Gesicht. Sneha Ann sieht verliebt aus.

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Die Bewohner der Stadt hatten sich damals verändert. In den U-Bahnen saßen die Menschen dicht gedrängt. Eine junge Araberin suchte Augenkontakt zu mir, wich nicht aus, wie sie es sonst vielleicht getan hätte. Unsere Augen trafen sich einen Augenblick lang. Es war kein Flirt. Es war die Frage: Gehören wir zusammen? Oder bist du mein Feind?

Ein Mann vor mir trug eine blaue Breitling-Uhr am Handgelenk. Eine Uhr, die teuer ist und doch nicht auffallen soll. Seine Schultern waren nach vorne gezogen, seine Hände lagen im Schoß. Die Oberschenkel hatte er zusammengepresst, die Fußspitzen zeigten nach innen. Der Mann hatte Angst in der U-Bahn – und ich konnte es sehen.

Zum Fussballplatz

Unser Fußballplatz befand sich auf dem Dach des Port & Terminals Pier 40, eines großen Parkhauses am Hudson River. Als ich an jenem Abend ankam, war der Platz gesperrt. Parkwächter hatten hier eine Versorgungsstation für die 20.000 Hilfskräfte aufgebaut, die in den Trümmern des World Trade Centers nach Opfern suchten. Wände von Mineralwasser standen bereit, und Gummistiefel. New York hatte gespendet. Im Fernsehen sagten sie, man solle kein Essen mehr bringen, es beginne bereits in den Sammelstationen zu faulen. Ich kämpfte mich zu unserem Platz durch die Berge von Hilfsmitteln.

Von oben konnte ich das Empire State Building sehen. Es strahlte in den amerikanischen Nationalfarben: Blau, Weiß, Rot. Von der anderen Seite hatte man früher einen prächtigen Blick auf das World Trade Center. Jetzt ist dort nur noch eine Art Vulkan zu sehen: Die Wolkenkratzer in der Umgebung formten einen Berg mit Abhängen und Felsen. In der Mitte der Krater im Neonlicht, aus dem es dampfte und lärmte. Der Hudson River Drive war der Magma-Strom. Eine Kolonne von Lastern rumpelte nach Norden. Über 500.000 Tonnen Schutt mussten abtransportiert werden. Truck an Truck.

Höher als zuvor

Heute ist alles aufgeräumt. Das neue World Trade Center steht. Das One World Center. Ich war vor wenigen Monaten dort. Es ist riesig, höher als zuvor. Vor dem Gebäude ist eine neue U-Bahn Stadion. Sein Dach erinnert an Adlerschwingen und an die Bilder der eingestürzten Wolkenkratzer Fassade. Oben gibt es eine Besucherplattform, von der man aus über die Ostküste der USA sehen kann. Das weite, flache, reiche Land. Das Leben pulsiert weiter in der Stadt.

Unser Platz war damals unbespielbar. Ich traf Mark und die anderen vor unserer Fußballkneipe, ein paar Ecken weiter. Die Rockmusik war bis auf die Straße zu hören. Wir stellten uns gegenseitig die Frage, die alle zuerst stellten, wenn sie sich trafen. „Wo warst du am letzten Dienstag?“ Dann gingen wir hinein, ein Bier trinken. Die anderen waren schon da.

Der Krieg hatte begonnen.


Ich habe über die Zeit damals und den folgenden Afghanistan-Krieg eine grafische Reportage gemacht. Zusammen mit Vincent Burmeister. „Kriegszeiten“ – erschienen im Carlsen-Verlag.