
Liebe Leserinnen und Leser,
seit gestern haben mich fast 100 E-Mails von Ihnen erreicht. Ich hatte Sie gefragt: Wer ist verantwortlich dafür, den Müll wegzuräumen, der in Parks und an anderen öffentlichen Plätzen anfällt: die Parkbesucher oder die Stadtverwaltung?
Ihre Gedanken dazu fasse ich im Thema des Tages zusammen – und es geht auch um die große Frage, die dahinter steht: Wie unzufrieden sind die Menschen im Land damit, was „der Staat“ eigentlich für sie tut? Und welche politischen Konsequenzen hat diese Unzufriedenheit?
Außerdem im SPOTLIGHT: In einer neuen Folge „Gemeinsam aufgedeckt“ lesen Sie: Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) versucht gerade, den riesigen Investitionstopf (500 Milliarden Euro), der eigentlich nur für die Modernisierung unserer Infrastruktur zur Verfügung stehen soll, auch für ganz andere Dinge zu nutzen.
Schreiben Sie mir gern wie immer, was Sie derzeit besonders umtreibt: anette.dowideit@correctiv.org.
Thema des Tages: Deutsche Müll-Wut
Der Tag auf einen Blick: Das Wichtigste
Faktencheck: Nein, diese Aufnahmen zeigen nicht, wie Menschen im Iran israelische Angriffe feiern
CORRECTIV-Werkbank: Wie steht es um die Opposition in Belarus?
Grafik des Tages: Zivile Seenotrettung: Darum ist sie wichtig
Gemeinsam aufgedeckt: Wird Infrastruktur-Geld für die Autoindustrie abgezweigt?
Gerade jetzt im Sommer, wo viele Leute lauschige Abende in Parks verbringen, zeigt sich am Morgen danach oft ein verstörendes Bild: Da türmen sich vor den Mülleimern gebrauchte Einmal-Grills, Fast Food-Verpackungen und leere Sektflaschen.
Bei uns im SPOTLIGHT ist dieses Thema seit Anfang dieser Woche Anlass zur Diskussion unter Leserinnen und Lesern. Auslöser war, dass wir am Montag über die klammen Kassen der Kommunen berichtet hatten. Eine Auswirkung der Geldnot scheint zu sein, dass die Abfallwirtschaftsbetriebe der Städte es sich nicht ausreichend leisten können, all die Überbleibsel des Konsums wegzuschaffen.

Das gilt nicht nur für Parks – auch andere öffentliche Orte erscheinen den Leserinnen und Lesern zunehmend als vermüllt: Bahnhöfe zum Beispiel, oder Straßenecken, an denen Leute ihren Sperrmüll einfach abstellen und ihn mit Schildern versehen: „zu verschenken“.
Was die Verantwortlichen in den Stadtverwaltungen sagen:
Wir haben heute mal beispielhaft die Berliner Stadtverwaltung gefragt:
- Welche Maßnahmen ergreifen Sie aktuell, um das Müllproblem in öffentlichen Räumen zu bekämpfen? Gibt es neue Projekte, Konzepte oder Bußgeldregelungen?
- Ist Ihre Kommune personell und logistisch ausreichend aufgestellt, um der Situation gerecht zu werden? Gibt es Engpässe oder Herausforderungen bei Reinigung und Kontrolle?
Die zuständige Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt antwortete uns: Von 2020 bis 2024 hätten sich die Kosten für die Beseitigung illegaler Müllablagerungen (inklusive Bauschutt) ungefähr verdoppelt. 2020 musste die Berliner Stadtreinigung dafür rund fünf Millionen Euro ausgeben, 2024 mehr als zehn Millionen – weil die Menge des illegalen Mülls so stark gestiegen sei.
Berlin ist deshalb interessant anzuschauen, weil die Bürgermeisterin des Bezirks Kreuzberg vor zwei Jahren mit einer ziemlich umstrittenen Idee für Aufregung sorgte: Sie schlug vor, einen Teil der Mülleimer an öffentlichen Orten abzumontieren – denn so würde man vielleicht Parkbesucher dafür sensibilisieren, ihren Müll selbst wieder mitzunehmen.

Was Sie uns geschrieben haben:
Viele von Ihnen schließen sich grundsätzlich an den Gedanken der Berliner Bürgermeisterin an: Pizzakartons und leere Flaschen müssten die Parkbesucher selbst entsorgen und keinesfalls einfach stehenlassen.
Hier eine Auswahl guter Gedanken:
„Mein Eindruck ist, dass unsere Gesellschaft in Gleichgültigkeit versinkt. Gleichgültigkeit gegenüber den anderen Gliedern dieser Gesellschaft. (…) So lange diese Verantwortung unserer Gesellschaft gegenüber nicht erkannt wird, wird die geistige und materielle Vermüllung eben dieser Gesellschaft auch kein Ende nehmen.“
Michael B.
„Diese Ferkel sind einfach nicht erzogen. Ich habe meinen Kindern im Kleinkindalter beigebracht, wohin der Müll gehört. Und sie haben es an ihre Kinder weitergegeben.“
Angelika M.
„Wenn wir alle den Park, aber auch den Gehweg, Kinderspielplätze und alles öffentliche Gelände mehr als unser aller gemeinsames Wohnzimmer auffassen würden, fiele es manchen vielleicht leichter, ihren Müll mitzunehmen. Man kann auch etwas aufheben, was andere liegen gelassen haben und aufräumen. Einerseits will man nicht vom Staat gegängelt werden, andererseits soll der Staat wie Mama hinter einem her putzen. Erwachsen werden heißt, Verantwortung übernehmen und selbst schauen, was man tun kann.“
Miriam H.
„Wie es anders geht, zeigt Wien: Alle paar Meter Mülleimer, die Raben nicht leeren können, lustig und in allen Sprachen wird überall auf das Thema Müll hingewiesen. Jeder Mülleimer hat einen QR-Code mit Mülltelefon-Nummer. Alle paar Meter steht ein Mülleimer und daneben hängt ein Zigarettensammler.“
Petra L.
Sie schreibt weiter, dass die Stadt Wien offensiv vor Strafen warnt, wenn man seinen Müll stehen lässt: 50 Euro werden fällig, wenn das Ordnungsamt einen erwischt.
Was hinter der Debatte steht:
Viele von Ihnen schreiben, dass die Stadtverwaltung den Müll in den Parks teilweise sehr lange nicht wegräume, und fragen sich: Was tut denn die Kommune dafür, dass ich mich wohlfühle – für die Steuern, die ich zahle?
Mit dem Müll ist es also im Grunde wie mit den kaputten Schultoiletten oder den Bussen, die nicht mehr die Dörfer abfahren: Wird das Angebot an öffentlichen Dienstleistungen zusammengestrichen, fühlen Menschen sich „abgehängt“.
Das (gewerkschaftsnahe) Wirtschaftsforschungsinstitut WSI untersucht schon seit ein paar Jahren den Zusammenhang zwischen diesem Gefühl und den politischen Einstellungen, die sich daraus ergeben. Das Ergebnis, etwa hier nachzulesen: „Verteilungsauseinandersetzungen“, also Wut darüber, warum bei anderen Leuten (zum Beispiel Geflüchteten) vermeintlich mehr öffentliche Gelder ankommen, bei einem selbst aber zu wenig spürbar sei – das mache die Leute anfällig für Rechtspopulismus.
Wird das Klimaziel der EU für 2040 umgeworfen?
Frankreichs Präsident Macron könnte Widerstand gegen zu ehrgeizige Klimapläne leisten – aus Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft.
diepresse.com
Von der Leyen unterstützt LGBTQ in Ungarn
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fordert Ungarn auf, das Verbot der „Budapest Pride“-Demo aufzuheben. Die Werte der EU stünden für Gleichheit und Nichtdiskriminierung. Sie verlangte, dass die Veranstaltung ohne Repressionen gegen Teilnehmer oder Organisatoren stattfinden kann.
spiegel.de
Statt Insta und Tiktok? Besorgte Eltern gründen neue App
Der „eigene Leidensdruck“ hat zwei Hamburger zur Gründung der App „Nyzzu“ geführt, die auch für Kinder tauglicher sein soll. Ohne öffentliche Inhalte, als sichere Alternative zu den Netzwerk-Flaggschiffen.
watson.de
CORRECTIV-Recherche: Kern der Berichterstattung über einen Priester im Bistum Passau ist zulässig
Ein Verdacht des „geistlichen Missbrauchs“ eines Priesters sorgt in Passau für Wirbel. Der Priester wehrt sich vor Gericht – mit gemischtem Erfolg.
correctiv.org

Faktencheck

Durch israelische Angriffe auf den Iran wurden dort hunderte Menschen getötet. Mehrere Aufnahmen in Sozialen Netzwerken sollen zeigen, wie die Menschen im Iran diese Angriffe feiern. Doch die Videos zeigen nicht, was behauptet wird.
correctiv.org
Endlich verständlich
Mehr Entlastungen beim Gas, aber die versprochene Strompreissenkung für Otto Normalverbraucher kommt erst einmal nicht – sondern nur für Industriekunden. Der Blick auf die Regierungsvorhaben im Bereich Energie und Klima, den der Deutschlandfunk hier liefert, lässt sich so zusammenfassen: Klimaschutz spielt nur noch die zweite Geige.
deutschlandfunk.de
So geht’s auch
Ein gewohntes Bild: Stau, der Verkehr rollt nur langsam – doch in vielen Autos sitzt nur eine Person. Auf den Kanaren kommt nun ein neues EU-Verkehrsschild zum Einsatz, das den Anreiz zur Fahrgemeinschaft erhöhen soll. Es markiert Spuren, auf denen nur Autos fahren dürfen, in denen mindestens zwei Personen sitzen. Übrigens: Ausgerechnet in den USA und Kanada sind solche Fahrgemeinschaftsspuren bereits weit verbreitet.
watson.de
Fundstück
Eine autofreie Stadt – können Sie sich das vorstellen? In Berlin läuft diese Debatte aufgrund einer Volksinitiative gerade heiß. Gefordert wird ein Autoverbot im gesamten inneren Bereich (für die Berlinerinnen und Berliner: innerhalb des S-Bahn-Rings).
taz.de / rbb24.de
Der belarussische Oppositionsführer Sergei Tichanowski wurde am 21. Juni gemeinsam mit 13 weiteren politischen Gefangenen freigelassen – nach Verhandlungen zwischen Präsident Alexander Lukaschenko und dem US-Sondergesandten Keith Kellogg. Die Gruppe wurde von belarussischen KGB-Agenten an die litauische Grenze gebracht und gezwungen, Belarus zu verlassen.
Am darauffolgenden Tag hielten das Ehepaar Sviatlana Tsikhanouskaya und Sergei Tichanowski eine Pressekonferenz in Litauen ab. Tichanowski wandte sich an alle Belarussen: „Wenn ihr auf ein Zeichen gewartet habt — hier ist es!“ Er bekräftigte seine volle Unterstützung für die politische Führung seiner Frau.
Tichanowski war eine Schlüsselfigur der Opposition bei der Präsidentschaftswahl 2020, wurde jedoch zwei Monate vor der Wahl verhaftet. Swjatlana Tichanowskaja übernahm seine Rolle und wurde zur wichtigsten Herausforderin Lukaschenkos. Nach der Wahl, die von massiven Fälschungen begleitet war, kam es in Belarus zu landesweiten Protesten. Swjatlana Tichanowskaja musste daraufhin das Land verlassen, wurde aber international als demokratische Vertreterin von Belarus anerkannt. Kurz darauf wurde Sergei Tichanowski von einem belarussischen Gericht zu 19 Jahren und 6 Monaten Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis verurteilt. Er verbrachte fünf Jahre und drei Wochen in Haft, größtenteils in Einzelhaft und ohne Kontakt zur Außenwelt.
Wie es mit der Opposition weitergeht, bleibt ungewiss. Doch Swjatlana Tichanowskaja bleibt – mit Unterstützung ihres Mannes – die führende Stimme der belarussischen Demokratiebewegung.

Die Bundesregierung will ihre Unterstützung für zivile Seenotrettung einstellen. Zuletzt hatten Organistionen jährlich insgesamt zwei Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt erhalten, der ein Teil ihrer Aktivitäten finanziert. Grüne und Linke kritisieren die Entscheidung.
Der Union ist das öffentliche Geld für Seenotretter schon länger ein Dorn im Auge. Sie hatte in den vergangenen Jahren die öffentliche Unterstützung immer wieder kritisiert – auch mit Verweis darauf, dass die Organisationen damit ungewollt das Geschäft der Schlepper ermöglichen würden.
Doch die wissenschaftlichen Studien kommen immer wieder zum gegenteiligen Ergebnis: Seenotrettung ist kein Pull-Faktor im Mittelmeer, führt also nicht dazu, dass mehr Menschen Richtung Europa aufbrechen. Sie sorgt stattdessen lediglich dafür, dass weniger Menschen auf dem Meer sterben. Unsere Grafik des Tages zeigt die Zahlen: Bei über 175.000 Menschen waren die privaten Seenotretter in den vergangenen 10 Jahren an der Rettung von in Seenot geratenen Personen beteiligt. Wie ernst die Lage ist, zeigen auch die Daten der UN-Migrations-Organisation IOM: Mindestens 32.000 Personen sind seit 2014 auf den Fluchtrouten des Mittelmeers umgekommen oder verschollen – das ist nur das Hellfeld. Die Organisation gibt CORRECTIV gegenüber an, dass die wahre Zahl viel höher liegen dürfte.
Wo landen eigentlich die 500 Milliarden Euro aus dem „Sondervermögen Infrastruktur“? Das verfolgen wir in unserem Rechercheprojekt „Gemeinsam aufgedeckt“ hier im SPOTLIGHT. Und hier gibt es jetzt eine spannende Entwicklung:
Diese Woche diskutiert der Bundestag über die Haushaltspläne für das kommende Jahr – und über die Riesen-Etats für Aufrüstung und Infrastruktur. Letztere, also der 500 Milliarden Euro große Topf „Sondervermögen Infrastruktur“ soll ja dazu dienen, in den nächsten Jahren vieles wieder auf Vordermann zu bringen, was in den letzten Jahren vernachlässigt wurde: Krankenhäuser, Straßen, Brücken, Schulen sollen saniert werden.
Heute hat der Bundestag – als Teil der Verhandlungen über den Haushalt – dem sogenannten „Investitionsprogramm für die Wirtschaft“ zugestimmt: Die Wirtschaft soll angekurbelt werden, indem Firmen in den nächsten drei Jahren weniger Steuern zahlen müssen. Unter anderem wird dadurch die Anschaffung von E-Autos als Dienstwagen günstiger. Dadurch werden den Städten und Gemeinden im Land aber rund 13,5 Milliarden Euro an Steuereinnahmen fehlen – wir berichteten darüber im SPOTLIGHT.
Sie fordern dafür Ausgleichszahlungen vom Bund, und der Bund hat nun zugesagt: die bekommt ihr. So weit, so gut, aber:
Bundesfinanzminister Lars Klingbeil hatte vor ein paar Tagen gegenüber dem Haushaltsausschuss im Bundestag durchblicken lassen, dass er für diese Ausgleichszahlungen – indirekt – das Sondervermögen Infrastruktur heranziehen will. Und zwar so:
Der Bund gibt demnächst einen Teil des Geldes an die Bundesländer weiter und die geben es an die Kommunen. Bisher steht im ersten Gesetzentwurf für die Verteilung des Geldes, dass das Geld „zusätzlich“ zu dem ausgegeben werden muss, was ohnehin schon an Investitionen geplant ist. Das heißt, wenn eine Gemeinde jetzt schon Geld eingeplant hat, um eine Schule zu sanieren, darf sie nicht das frische Geld dafür nehmen – sondern muss davon zum Beispiel eine zweite Schule sanieren.
Jetzt aber hat Klingbeil dies in Absprache mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Bundesländer aufgeweicht. Das Ergebnis dieser Absprache können Sie hier im Original nachlesen – relevant ist Punkt 3:
Dort heißt es, „… dass insbesondere die Zusätzlichkeit entfällt, die Verwendungsbreite bei der Umsetzung (auch auf Bereiche wie etwa Sport, Kultur, Innere Sicherheit, Wasserwirtschaft und Wohnungsbau erstreckt) erweitert und eine Doppelförderung ermöglicht wird.“
Dieses Behördendeutsch haben wir uns einmal von Haushaltspolitikern übersetzen lassen. Es soll heißen: Die Bundesländer und damit die Kommunen dürfen jetzt relativ freihändig 100 von den 500 Milliarden Euro ausgeben – und eine Überprüfung, ob das Geld wirklich in Infrastruktur gesteckt wird, ist eher nicht vorgesehen.
Im Grunde genommen ist das also eine Umschichtung. „Die Löcher in den Finanzen der Kommunen werden mit Schulden aus dem Sondervermögen gestopft“, sagt dazu der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Andreas Audretsch.
Unter dem Strich heißt das also:
- Die Bundesregierung plant Steuererleichterungen für Firmen,
- von diesen profitieren unter anderem Autobauer wie VW, weil für Firmenkunden die Anschaffung von E-Dienstwagen billiger wird.
- Bei den Kommunen sorgt das für Steuerausfälle,
- das Geld bekommen sie vom Bund zurück,
- und zwar in der Form, dass die Kommunen über 100 Milliarden aus dem Topf, der eigentlich nur für die Erneuerung der Infrastruktur gedacht war, relativ frei hantieren dürfen.
Und noch etwas kommt hinzu:
Wir mussten jetzt lange ausholen, um das zu erklären – aber genau das ist oft das Prinzip der Milliardenschiebereien in öffentlichen Kassen: Weil sie so kompliziert sind, dass normale Menschen sie kaum verstehen, regt sich darüber auch kaum jemand auf.
An der heutigen Ausgabe haben mitgewirkt: Till Eckert, Samira Joy Frauwallner und Sebastian Haupt.
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