So unterschiedlich kürzen Jobcenter den Hartz IV-Empfängern das Existenzminimum
Ständig werden mehr als 130.000 Hartz IV-Empfänger von ihren Jobcentern bestraft und bekommen weniger Geld als das Existenzminimum. Eigentlich gibt es für solche Sanktionen feste Regeln. Doch nach einer gemeinsamen Recherche von CORRECTIV und „BuzzFeed News" kürzen manche Jobcenter rund zehnmal so häufig wie andere. Politiker kritisieren die Sanktionen gegen Hartz IV-Empfänger deshalb als „willkürlich“. Die Opposition fordert, Sanktionen für Hartz IV-Empfänger abzuschaffen.
Kein Bus oder Bahnticket, keine neue Kleidung, am Monatsende kaum noch Essen: Hartz IV-Empfänger, die von ihren Jobcentern sanktioniert werden, müssen oft auf fast alles verzichten. Die mehr als 400 Jobcenter in Deutschland sanktionieren Hartz IV-Empfänger, wenn diese nicht zu Terminen erscheinen, Jobs ablehnen oder eine Beschäftigungsmaßnahme abbrechen. Wenn es hart kommt, zahlt der Staat überhaupt nichts mehr. Jeden Monat trifft die komplette Streichung von Leistungen rund 7000 Menschen.
CORRECTIV und „BuzzFeed News“ haben Daten aller 407 Jobcenter ausgewertet. Die Analyse zeigt: Wie häufig und wie stark die Jobcenter das Existenzminimum kürzen, unterscheidet sich drastisch. So werden in manchen Städten nicht nur besonders viele Arbeitslose sanktioniert. Manche Jobcenter streichen den Empfängern auch deutlich mehr Geld als andere. Das Ergebnis der Recherche verwundert Experten und Politiker. Denn um genau solche extremen Unterschiede zu verhindern, gibt es für die Sanktionen gegen Hartz IV-Empfänger eigentlich klare Regeln.
Wie viele Menschen werden sanktioniert?
Meister im Kürzen von Leistungen ist demnach das Jobcenter der Stadt Rosenheim, das anteilig den meisten Hartz IV-Empfängern ihr Geld kürzt. Das ergibt eine Auswertung der durchschnittlichen Sanktionsquote für das Jahr 2016 für alle Jobcenter in Deutschland (Die Quoten für jedes Jobcenter in Deutschland findet ihr hier). In Rosenheim bekommen im Schnitt fast sieben Prozent aller Hartz IV-Empfänger weniger als das Existenzminimum. Das ist zum Beispiel zehnmal so viel wie im Hochtaunuskreis.
Top & Flops Sanktionsquoten in Prozent
Wie viel wird gekürzt?
Auch bei der Höhe der Sanktionen unterscheiden sich die Jobcenter dramatisch. Das Jobcenter Südwestpfalz kürzte 2016 im Schnitt mehr als ein Drittel des Regelbedarfs. Der Bundesdurchschnitt liegt bei gut 20 Prozent. Im Jobcenter Main-Taunus-Kreis sind es lediglich 11,5 Prozent.
In der folgenden Grafik steht die durchschnittliche Sanktionshöhe für jedes einzelne Jobcenter. Die Jobcenter auf der linken Seite der Graphen kürzen den Regelbedarf am geringsten. Die Jobcenter auf der rechten Seite ziehen den Hart-IV-Empfängern am meisten Geld ab.
Durchschnittliche Kürzungen bei Sanktionen in den Jobcentern
Wie kann es sein, dass manche Jobcenter nur einem Bruchteil ihrer Kunden das Geld kürzen – und andere fast zehnmal so vielen?
Kritik aus dem Bundestag: „Willkürlich“ und „sehr schäbig“
Bundestagsabgeordnete von Grünen und Linken sehen in der Auswertung ein Anzeichen für Behördenwillkür. „Die Sanktionspraxis, so wie wir sie in Deutschland beobachten, ist teilweise willkürlich und vor allem häufig kontraproduktiv“, sagt Wolfgang Strengmann-Kuhn nachdem er die Auswertung angesehen hat. Strengmann-Kuhn ist sozialpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag. Die Grünen fordern die Abschaffung der Hartz IV-Sanktionen, dass das Kürzen von Leistungen führe dazu, „dass die Leute sich zurückziehen und nicht mehr für die Vermittlungstätigkeit zur Verfügung stehen.“
Auch die Partei „Die Linke“ fordert schon lange eine Abschaffung der Sanktionen. Ihre stellvertretende Fraktionsvorsitzende und arbeitsmarktpolitische Sprecherin Sabine Zimmermann nennt die Sanktionen „sehr schäbig“.
„Wir reden ja nicht davon, dass die Leute viel Geld haben. Sondern denen wird von dem Nichts, was sie haben, noch was weggenommen. Sowas darf nicht sein, sowas darf es nicht geben. Gerade bei jungen Menschen passiert es, dass sie dann unter der Brücke schlafen oder sich bei Freunden was zu essen holen – das zu verursachen, finde ich schon sehr schäbig.“ (Sabine Zimmermann, Die Linke)
Eigentlich enge Regeln für Jobcenter-Mitarbeiter
Die Sachbearbeiter in den Jobcentern dürfen laut Gesetz nur sehr begrenzt selbst darüber entscheiden, ob ein Hartz IV-Empfänger von weniger als dem Existenzminimum leben muss. Die meisten Sanktionen verhängen Jobcenter für verpasste Termine. Erscheint ein Hartz IV-Empfänger ohne wichtigen Grund nicht beim Jobcenter, werden für die kommenden drei Monate zehn Prozent vom Regelsatz abgezogen, der maximal 409 Euro beträgt. Wer eine nach Ansicht des Jobcenters zumutbare Arbeitsstelle ablehnt oder eine Arbeitsmaßnahme abbricht, bekommt 30 Prozent weniger Geld. Arbeitslosen unter 25 Jahren wird nach der zweiten Sanktion alles gestrichen: das Geld für die Unterkunft, die Heizung und der Regelbedarf, den Hartz IV-Empfänger zum Beispiel fürs Essen brauchen.
Warum kürzen manche Jobcenter so viel häufiger?
Die großen Unterschiede zwischen den Jobcentern hat bisher kaum jemand wissenschaftlich untersucht. Joachim Wolff ist Forscher am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Er glaubt, dass die Jobcenter einen Teil der Unterschiede nicht beeinflussen können. So gebe es in manchen Landkreisen zum Beispiel mehr freie Stellen. Und wo es mehr Jobs gibt, da laden die Jobcenter ihre Hartz IV-Empfänger häufiger zu Terminen, bieten ihnen mehr Jobs an und wollen sie häufiger in Maßnahmen vermitteln. Im Jobcenter-Jargon nennt man das eine „hohe Betreuungsdichte“. Mehrere Jobcenter-Leiter nennen diese hohe Betreuungsdichte im Gespräch als einen wichtigen Grund für mehr Sanktionen.
Logisch: Wer mehr Termine hat, kann auch mehr Termine verpassen. Im Umkehrschluss heißt das jedoch auch, dass das Grundprinzip von Hartz IV – fördern und fordern – nicht überall gleich hart verfolgt wird.
Mit der hohen Betreuungsdichte verteidigt sich auch der Geschäftsführer des Jobcenters Rosenheim, Armin Feuersinger. Es gebe nunmal viele Beschäftigungsangebote, erklärt Feuersinger auf Anfrage. „Sanktionen gehören nicht zur Strategie und es gibt auch keinerlei Anweisungen an die Mitarbeiter.“
Die Arbeitsmarktsituation allein kann die Unterschiede jedoch nicht erklären. Das IAB teilt die Jobcenter-Bezirke in 15 verschiedene Typen ein. Dabei werden nicht nur die Zahl der offenen Stellen, sondern zum Beispiel auch die Bevölkerungsstruktur und die Wohnkosten einbezogen. Der Jobcenter-Bezirk der Stadt Rosenheim hat demnach verhältnismäßig wenige Hartz IV-Empfänger, einen hohen Migrantenanteil und eine günstige Arbeitsmarktlage. Genau das gilt aber auch für den Jobcenter-Bezirk der Stadt München. Dennoch kürzt Rosenheim etwa dreimal so viele Hartz IV-Empfänger unter das Existenzminimum wie München.
Auch die Sachbearbeiter scheinen Schuld
„Persönliche Einstellungen und Arbeitsbelastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern können ebenfalls die Sanktionswahrscheinlichkeit beeinflussen“, schrieb schon 2013 das rheinland-pfälzische Arbeitsministerium in der Antwort auf eine Kleine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Daniel Köbler. Auch Michael Löher vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge sagt, dass die Entscheidung letztlich an den Sachbearbeitern hänge. „Das ist eine Frage der persönlichen Reife des Mitarbeiters, das ist eine Frage des Mutes, das ist eine Frage des Klimas, das in den Jobcenter herrscht.“
Kritisch wird es dann, wenn das Verhältnis von Fördern und Fordern aus dem Gleichgewicht gerät. Wenn Hartz IV-Empfängern keine echten Jobs angeboten werden, sondern nur das zehnte Bewerbungstraining, dann könne es auf einmal attraktiv werden, stattdessen lieber eine 30-Prozent-Sanktion zu kassieren, sagt Sozialrechtsexperte Frank Jäger vom Erwerbslosenverein Tacheles.
Das Bundesarbeitsministerium sieht für die drastischen Unterschiede „vielfältige Ursachen“, wie ein Sprecher auf Anfrage mitteilt. Ebenso wie die Bundesagentur für Arbeit führt das Ministerium die Unterschiede auf die unterschiedliche Arbeitsmarktlage zurück. Anzeichen für eine Ungleichbehandlung von Hartz IV-Empfänger sehen beide nicht. Handlungsbedarf dementsprechend auch nicht.
Timo Stukenberg arbeitet als freier Journalist in Berlin. Die mehrteilige Recherche zu den Sanktionen der Jobcenter entstand in Kooperation mit „BuzzFeed News“ und ist ein Teil der Themenreihe zu Ungerechtigkeiten in der Arbeitswelt bei CORRECTIV.
Grafik durchschnittliche Sanktionshöhe: Stefan Wehrmeyer