Starkregen: Wenn die Stadt zum Schwamm werden muss
Städte in Deutschland arbeiten an Karten zum Schutz vor Starkregen: sie sollen zeigen, welche Häuser wie stark der Katastrophe ausgesetzt ist. Jetzt gibt es Streit darüber, ob die Karten veröffentlicht werden sollen. Der Schutz des Menschen steht dem Schutz der Immobilienwerte gegenüber.
Im Juni 2016 näherte sich der Gemeinde Wachtberg südlich von Bonn eine Gewitterzelle. Sie zog von Westen heran und war nicht sehr groß. Doch sie hatte für die Ansammlung der Dörfer in der rheinischen Hügellandschaft, eine verheerende Wirkung.
Die dunklen Wolken platzten. In eineinhalb Stunden gingen 100 Liter Regen pro Quadratmeter nieder. Der Mehlemer Bach, in der Regel 20 Zentimeter tief, schwoll auf einen Wasserstand von 1,60 Meter an. 90 Minuten Starkregen verwandelten das „Drachenfelser Ländchen“, Straßen, Gärten, Garagen und Keller in Wasserwüsten. Er zerlegte Brücken, die zentrale Straßenverbindung war über Wochen nicht mehr befahrbar. Wachtberg war zum dritten Mal in sechs Jahren derart verwüstet.
Starkregen-Ereignisse, so der Fachbegriff, werden als Folge des Klimawandels häufiger. Braunsbach und Schorndorf in Baden-Württemberg sind zwei weitere Beispiele für die vielen kleinen Orte, die in den letzten Jahren bundesweite Bekanntheit erlangten: weil sie tagelang unter Wasser standen. Starkregen trifft aber auch längst auch Metropolen wie Hamburg und Berlin und andere Großstädte. 2008 gab es die Wolkenbrüche über dem Dortmunder Westen. Die Autofahrer konnten nur noch zu sehen, wie ihre Fahrzeuge weg schwammen.
Viele Städte in Deutschland entwickeln derzeit eine neue Art Stadtplan. Was bewirken diese neuartigen Stadtpläne? Die Nutzer werden – bis auf die Hausnummern genau – auf den Karten erkennen, welche Straßenzüge bei welcher Regenmenge wie stark durch Überflutungen gefährdet sind.
Erkenntnisse aus Meteorologie, Statistik, Topografie und Baukunde fließen in die Herstellung ein, die Lage von Grünflächen, Gefälle und Kanälen spielen eine Rolle. „Die Karten erfordern hohe Auflösung, also einen großen Maßstab. Sie zeigen überflutungsgefährdete und besonders verwundungssensible Bereiche“, sagt Peter Schütz vom Umweltministerium in Düsseldorf.
Solche Karten werden derzeit in vielen Rathäusern angedacht und entwickelt. Baden-Württemberg ist, so der Deutsche Wetterdienst, weit vorangekommen, Niedersachsen liegt eher noch zurück. Das bevölkerungsstärkste Bundesland Nordrhein-Westfalen pendelt in der Mitte. Das NRW-Umweltministerium weiß von Plänen, Bemühungen und ersten Karten-Realisierungen in Köln, Münster, Neuss, Remscheid, Solingen, Wuppertal, Unna und Ruhrgebietsstädten wie Dortmund (zum Starkregen in NRW mehr unter correctiv.ruhr).
Am Ende ist die apokalyptisch anmutende Situationsbeschreibung in den speziellen Stadtplänen – wie zum Beispiel in Wuppertal vorgesehen – durch unterschiedliche Blautöne erkennbar. Hellblaue Bereiche stehen für „knöcheltiefe“ Überschwemmung, eine mittlere Färbung für „hüfthohen“ Wasserstand. Bei tiefblau droht Totalschaden. Interessierte können sich das auf den Webseiten von Köln und Unna ansehen.
Die Sprengkraft solcher Informationen liegt auf der Hand. Es geht um viel Geld.
Das Institut für Unterirdische Infrastruktur (IKT), ansässig im Norden Gelsenkirchens, entwickelt Vorsorgemaßnahmen für Starkregenereignisse. „Heiß“ sei es zugegangen, sagt IKT-Projektentwickler Thomas Brüggemann, als Gemeindevertreter in Gelsenkirchen über die Frage stritten, ob diese Karten nach der Fertigstellung im Internet überhaupt als Ganzes veröffentlicht werden sollten.
Das IKT trainiert die Mitarbeiter von inzwischen 50 Kommunen und Abwasserverbänden in mehrtägigen Seminaren. Sie erstellen Checklisten für den Starkregen-Ernstfall und gibt Eigentümern von Grundstücken Hinweise, wie sie sich vor dem Wasser schützen können.
Intensiv beschäftigt sich das IKT mit Risikokarten. Sie sind wie gelbe Warnwesten, die lange vor dem Ereignis signalisieren: Achtung! Hier kann das Wasser über die Kante gehen.
Die Gegner einer Veröffentlichung fürchten um den Marktwert der Lagen ihrer begehrten Stadtkerne und ihrer beliebten Vororte. „Gebäude und Grundstücke in den ausgewiesenen Risikozonen könnten an Wert verlieren“, referiert Brüggemann die Einwände der Skeptiker. Überdies fürchteten sie Unklarheiten beim Daten- und Persönlichkeitsschutz, wenn Überflutungsgefahren „grundstücksscharf“ in offen zugänglichem Kartenmaterial erkennbar würden.
Die Befürworter einer Veröffentlichung hingegen betonen die Chance, dass einmal durch die Karte gewarnte Bürger selbst für mehr Schutz ihres Eigentums vorsorgen können. Quasi als Auftrag, sich zu verschanzen: Schotten dicht! Stärkere Garagentore, besser Fensterdichtung, die Höherlegung von Grundstücken gehören dazu. Auch schütze rechtzeitige Transparenz die Kommune vor Schadenersatzforderungen.
Der Streit hat auch einen juristischen Grund: Es gibt eine Rechtslücke. Die Veröffentlichung von konkreten Hochwassergefahren in der Nähe von Gewässern und auch der dazugehörigen Karten ist im Gesetz schon lange vorgeschrieben. Doch Starkregen ist nicht berücksichtigt. Die Folge laut Brüggemann: „Es werden teils unterschiedliche rechtliche Positionen vertreten.“
Starkregen ist gefährlicher als Überschwemmungen durch Flüsse, die über das Ufer treten. „Keine tagelange Vorwarnung. Keine nahende Scheitelwelle. Die Flut kommt von oben, dann geht es rasend schnell. Kein Deich, kein Schutz, weil niemand damit rechnet“. So beschreibt der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) das neue Wetterphänomen in seinem letzten Großschadens-Report.
2016 starben bei diesen Unwettern elf Menschen. Werte in Höhe von 1,2 Milliarden Euro wurden vernichtet.
Gibt es einen Schutz? Nicht wenigstens Vorwarnungen? Eine andere Klimapolitik ist die eine Sache. Sie funktioniert nur auf lange Sicht. Was hilft aber, wenn die Wolken schon von den Azoren heranziehen?
Mit zielgenauen Unwetter-Prognosen haben Experten Probleme. Der Meteorologe Guido Halbig ist Chef bei der Niederlassung Essen des Deutschen Wetterdienstes DWD. Er sagt, was seine Branche recht genau weiß: „Normale Niederschläge werden im Sommer abnehmen und im Winter zunehmen. Es wird zu schweren Extremniederschlägen kommen“. Geht es ins Detail, wird die Sache unsicherer. „Ich weiß, dass eine Gewitterlage da ist. Aber wo genau, das weiß ich heute noch nicht. Wir arbeiten heftig daran, besser zu werden“.
Der 28. Juli 2014 ist in Münster der „Tag, als der Regen kam“, heißt es in der Chronik der Stadt. Sieben Stunden lang hörte es nicht auf zu regnen. 292 Liter Niederschlag pro Quadratmeter wurden gemessen, davon 220 Liter in eineinhalb Stunden. 40 Millionen Kubikmeter Wasser kamen vom Himmel. Das ist 26 mal so viel wie die Kanalisation und die Bäche und Flüsse in der Stadt zusammen aufnehmen können.
Am Ende gab es nicht nur einen riesigen Sachschaden und einen Müllberg, den 1.000 Lkw wegschaffen mussten. Es gab Tote. Ein 76-jähriger hat in seinem Keller nahe dem sonst als Rinnsal hintröpfelnden Igelbach nach den Fenstern sehen wollen. Ein Fenster zerbrach. Der ältere Mann ertrank. Von Fluten getötet wurde an diesem Tag auch ein Autofahrer, der sein Fahrzeug in einen Graben gelenkt hatte. Mitarbeiter der Autobahnmeisterei haben ihn später nahe dem Kreuz Münster-Nord entdeckt.
Der Streit um die Veröffentlichung der Karten spaltet nicht nur Kommunen, sondern sogar die Bundesländer, bestätigt Andreas Becker. Er ist Leiter der Niederschlagsüberwachung beim Deutschen Wetterdienst. Seine Behörde entwickelt und plant den großen Wurf: eine Risikokarte für das ganze Bundesgebiet mit den „Hot Spots“ der Gefährdung durch Starkregen.
Dann wird klar, wo Deutschland durch den Klimawandel besonders verwundbar ist. In zwei oder drei Jahren soll sie vorliegen. „Einige Bundesländer haben Bedenken bekommen“, sagt er. Nicht nur die Furcht vor sinkenden Grundstückspreisen steckt dahinter. Es könne auch die Annahme sein, dass Elementarschaden-Versicherungen in Gefahrengebieten die Prämien erhöhten.
Klartext redet dazu das Umweltministerium in Nordrhein-Westfalen. Es macht auf CORRECTIV-Anfrage deutlich: „Aus der Sicht unseres Hauses ergibt sich grundsätzlich die Veröffentlichung der Informationen, damit alles getan werden kann, um solche Gefährdungen zu vermindern und die daraus resultierenden Schäden zu verhindern“. Es gehe schließlich um Menschenleben. Wie eben das des alten Herrn in Münster, der das Anschwellen des Igelbach nicht überlebte.
Dabei sind die warnenden Kartenwerke nur der erste Schritt, um den Folgen einer Überflutung Herr zu werden. Der zweite ist der eigentlich wichtigere. Was kann man tun, um es aufgrund der Erkenntnisse durch die Karten gar nicht zu Schäden kommen zu lassen?
Hier kommt der Stadtumbau ins Spiel, ein Kapitel, bei dem Klimawandel und Starkregenereignisse Verwaltungen und Stadtplaner herausfordern. Denn beim Institut für unterirdische Infrastruktur IKT moniert Geschäftsführer Roland Waniek, Städte und Gemeinden seien schon organisatorisch nur begrenzt für eine ausreichende Unwetter-Vorsorge aufgestellt. „In keiner Kommune werden Sie ein Infrastruktur-Dezernat finden“.
Doch weil – nach übereinstimmender Expertensicht — entgegen allgemeiner Einschätzungen der Bevölkerung ein größeres Kanalnetz im Notfall kaum hilft und im Alltag nichts nützt, drängen Fachleute von Unternehmen wie dem IKT oder auch beim Deutschen Wetterdienst, einer Bundesbehörde, auf andere Mittel: In den von Überflutung bedrohten Stadtteilen soll das Orts- und Straßenbild „wasserdicht“ verändert werden. Hier liegt die nächste Brisanz. Die Liste der vorgeschlagenen Maßnahmen ist nicht nur lang und teuer. Sie kann auf erhebliche Widerstände Betroffener stoßen.
- Die meisten Gullis an Straßenrändern sind falsch angeordnet. Sie verfügen heute, um Radfahrer vor Stürzen zu schützen, über Streben quer zum Verlauf der Fahrbahn. Das führt dazu, dass im Fall einer Sturzflut das Wasser nicht abläuft, sondern drüber weg rauscht. Gullis wären also, sollen sie ihren Zweck auch beim großen Unwetter erfüllen, wie früher längs zur Straße anzuordnen.
- Hauptstraßen müssen im Notfall wie Kanäle wirken, sagen die Starkregen-Fachleute. Das Wasser soll „kontrolliert“ abfließen können. Das erfordert besonders hohe Bordsteine. Doch gerade mit Rücksicht auf behinderte Menschen werden sie derzeit eher niedrig gebaut.
- Spielplätze sollten so angelegt werden, dass sie bei Starkregen als Auffangbecken genutzt werden können. Das gilt auch für Tunnel und Unterführungen.
- Vor allem aber fehlen heute Freiflächen, in denen die Wassermengen versickern können. Nicht nur die grassierende Bauwut blockiert hier die Vernunft. Vielfach verbieten das auch die Ländergesetze. Denn Regenwasser gilt dort als Schmutzwasser, und das darf aus Umweltgründen nicht versickern.
Der Essener Meteorologe Halbig sagt, man brauche eben nicht nur die warnenden Karten. Sondern am Ende die „Schwamm-Stadt“, deren freie Flächen die Fluten aufsaugen.