Barrierefreiheit

„Ein erschreckendes Bild“: Gemeinde-Webseiten sind nicht barrierefrei

Bereits 2020 haben sich Schweizer Städte und Gemeinden dazu verpflichtet, ihre Webseiten und Apps barrierefrei zu machen. Eine Recherche von CORRECTIV.Schweiz in Kooperation mit der Stiftung Zugang für alle zeigt nun: Keine einzige der von uns untersuchten Gemeinde-Webseiten ist vollkommen barrierefrei.

von Janina Bauer

Edith-Stein-Realschule am Sehbehindertenzentrum in Unterschleißheim, 2024
Blinde Menschen oder Menschen mit Sehbehinderung können Webseiten mithilfe von Screenreadern und Braillezeilen lesen. (picture alliance / SZ Photo | Leonhard Simon)

An einem Herbsttag Mitte Oktober sitzt Brigitte Stahel in ihrem Schlafzimmer vor dem Computer. Mit der rechten Hand bewegt sie die Maus, der Zeiger huscht über die Webseite ihrer Heimatstadt Winterthur. Ihre linke Hand liegt regungslos neben der Tastatur.  Mit dem Mauszeiger markiert sie ein Wort auf der Webseite: innovativ. Sie sagt:  „Was heisst das nochmal? Das müsste ich jetzt googeln.“

Brigitte Stahel lebt mit einer linksseitigen Körperlähmung, Epilepsie und einer Gefühlsstörung in der linken Hand. Auch das Lesen von langen Texten fällt ihr schwer. Worte, die sie im Alltag nicht selbst braucht, versteht sie oft nicht. 

Trotzdem bestreitet Stahel ihr Leben zum grössten Teil selbst: Sie arbeitet 80 Prozent im Büro der Brühlgut-Stiftung in Winterthur, fährt mit dem Fahrrad ­– eine Spezialanfertigung mit drei Rädern ­– durch die Stadt und lebt und versorgt sich alleine. 

Um eine neue ID zu beantragen oder die Krankenversicherung zu kontaktieren, ist Brigitte Stahel jedoch auf die Hilfe ihrer Schwester angewiesen: „Da komme ich zu wenig draus!“

Genau wie auf der Webseite der Stadt Winterthur: Lange Textpassagen, die unübersichtliche Struktur und eine fehlende Abgrenzung von Elementen ­erschweren ihr das Zurechtfinden auf der Seite. Sucht sie dort oder auch auf anderen Webseiten Informationen, ist sie immer wieder auf Hilfe angewiesen. 

Wie barrierefrei sind Schweizer Gemeinde-Webseiten wirklich?

Manchmal, sagt die 52-Jährige mit der Kurzhaarfrisur, mache sie das schon verrückt. „Die könnten die Dinge ja auch einfacher schreiben.“ Weniger Fremdwörter und Texte in Leichter Sprache würden ihr die Nutzung massiv erleichtern. 

Wie eine Untersuchung von CORRECTIV.Schweiz zusammen mit der Stiftung Zugang für alle zeigt, stellt die Stadt Winterthur fast keine Informationen in Leichter Sprache zur Verfügung. Überhaupt ist die Webseite der Stadt voller Hürden: Wichtige Hilfsmittel wie Screenreader, die blinden Menschen Geschriebenes vorlesen, oder die Tastaturbedienung, auf die Menschen mit Mobilitätseinschränkung angewiesen sind um den Computer zu steuern, funktionieren auf der Seite gar nicht oder nur beschränkt. 

Winterthur ist kein Einzelfall. Auch die Webseiten der Städte St.Gallen, Baden, Locarno und Montreux sind nicht barrierefrei. Gemeinsam mit der Stiftung Zugang für alle, der Schweizer Zertifizierungsstelle für digitale Barrierefreiheit, hat CORRECTIV.Schweiz die Webseiten von 70 Schweizer Gemeinden und Städten untersucht. Das Ergebnis: Keine einzige Webseite ist vollständig barrierefrei. 20 davon werden nur als teilweise barrierefrei eingestuft und 50 Webseiten ­– also 70 Prozent ­– als nicht barrierefrei. 

Das Bild zeigt eine Karte der Schweiz. Darauf sind 70 Gemeinden in Form von Punkten markiert. 50 Gemeinden haben rote Punkte, wie zum Beispiel Winterthur, St.Gallen und Chur. Das bedeutete, ihre Webseiten sind nicht barrierefrei zugänglich. 20 Gemeinden haben grüne Punkte. Das bedeutet, ihre Webseiten sind teilweise barrierefrei. Keine einzige Webseite hat einen blauen Punkt, denn keine einzige ist vollständig barrierefrei.

Wer seine Adresse ändern, eine Anzeige erstatten oder die Steuererklärung machen will, kann das über die Gemeinde-Webseite tun. Wer Informationen zur Stadtplanung, zu Schulen oder zu Abstimmungen sucht, findet sie ebenfalls dort. Gemeinden sind die erste und unmittelbarste Ebene politischer und gesellschaftlicher Teilhabe in der Schweiz. Von den insgesamt zwei Millionen Menschen mit Behinderung, die hier leben, bleibt vielen der Zugang dazu verwehrt. 

„Ein erschreckendes Bild“, wie die Expertinnen und Experten der Stiftung in ihrem Abschlussbericht schreiben. Teilweise seien nicht einmal die Basics einer barrierefreien Nutzung erfüllt. 

Barrierefreie Webseiten: Ein Grundrecht, kein Luxus

Und das, obwohl in der Schweiz eine rechtliche Verpflichtung zur Beseitigung solcher Hürden besteht: Gemeinden und Städte sind dazu verpflichtet, die Barrierefreiheit ihrer Webseiten sicherzustellen. Bereits 2020 unterschrieb der Gemeinde- und Städteverband den Rahmenvertrag für die E-Government-Zusammenarbeit, in dem es heisst, dass die Barrierefreiheit sichergestellt werden muss. Zudem verpflichtet das Behindertengleichstellungsgesetz das Gemeinwesen, Massnahmen zu ergreifen, um Benachteiligungen zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen. Im Jahr 2014 wurde Menschen mit Behinderung durch die Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention zudem ein gleichberechtigter Zugang zu Informationen und Dienstleistungen für die Öffentlichkeit zugesichert. 

Wieso schneiden die Gemeinde-Webseiten trotzdem so schlecht ab?

Digitale Barrierefreiheit ist ein komplexes Feld mit vielen Anforderungen. Checklisten für den hierzulande gültigen Standard für E-Accessibility, der vom Verein eCH vorgegeben wird, umfassen dutzende Prüfpunkte. Für die Recherche haben CORRECTIV.Schweiz und die Stiftung Zugang für alle fünf elementare Kriterien überprüft ­– jeweils auf der Startseite der Webseite und auf einer Formularseite. Der langjährige Accessibility Consultant Josua Muheim geht davon aus, dass bei einer Überprüfung der gesamten Webseiten noch viele weitere Barrieren auffindbar gewesen wären. 

Testkriterien

Folgende Kriterien wurden im Rahmen der Recherche überprüft:

1. Screenreaderbedienbarkeit
Screenreader sind ein essentielles Hilfsmittel für Blinde, Menschen mit Seh- und Hörbehinderung oder für Personen mit Leseschwierigkeiten. Sie lesen auf dem Bildschirm sichtbare Inhalte stellvertretend für den Benutzer und geben die Informationen per Sprachfunktion aus oder wandeln sie in Brailleschrift um, die der Benutzer wiederum über eine Braillezeile lesen kann. Sie geben zudem an, ob es sich um eine Überschrift, ein Bild, einen Link oder eine Liste handelt.

2. Tastaturbedienbarkeit
Personen mit motorischen Einschränkungen der oberen Gliedmassen, zum Beispiel aufgrund einer körperlichen Behinderung, Zittern oder einem Armbruch, sind meistens nicht in der Lage, eine Maus zu bedienen. Computer können sie mithilfe der Tastatur steuern. Mit der Tab-Taste können sie Webseiten erschliessen, indem sie von Element zu Element springen. Dabei ist es besonders wichtig, dass eine Webseite einen sogenannten Fokusindikator hat, der dem Nutzenden anzeigt, auf welchem Element (zum Beispiel Grafik oder Menüpunkt) er sich gerade befindet.

3. Farbe & Kontrast
Einzelne Elemente auf einer Webseite, wie zum Beispiel Überschriften oder Links, müssen sich klar voneinander abheben. Nur dann sind Menschen mit Sehschwächen, Farbfehlsichtigkeit, ältere Menschen und auch Personen mit Lernschwäche in der Lage, Informationen zu lesen. Ist ein entsprechender Kontrast nicht gegeben, können Betroffene den Text nur mit grösster Anstrengung oder gar nicht lesen.

4. Untertitel / Audiodeskription
Damit hörbehinderte Menschen Inhalte, die via Audio oder Video vermittelt werden, verstehen können, sind sie auf Untertitel angewiesen. Für Menschen mit Sehbehinderung braucht es wiederum bei Videoelementen, die textbasiert sind, wie zum Beispiel den Namen von sprechenden Personen.

5. Leichte Sprache
Laut Pro Infirmis fällt 800‘000 Menschen in der Schweiz das Lesen schwer; rund 85‘000 leben hierzulande laut Schätzungen mit kognitiven Einschränkungen. Damit auch diese Menschen sich selbstständig informieren können, gibt es ein Hilfsmittel: die Leichte Sprache. Sie bricht komplexe Satzstellungen und Inhalte auf das Wesentliche herunter. Auch gehörlose Personen und Nicht-Muttersprachler profitieren von der Verwendung von Leichter Sprache.

Damit ein Screenreader in der Lage ist, eine Webseite zu erfassen und dem Nutzer vorzulesen, ist er auf eine klare Struktur angewiesen. Überschriften müssen zum Beispiel als solche im technischen System der Webseite hinterlegt sein, genauso wie Grafiken. Nur wenn ein Screenreader eine Webseite adäquat beschreiben kann, ist ein blinder oder sehbehinderter Nutzer in der Lage, die Informationen darauf zu erfassen. Nur auf fünf der 70 untersuchten Webseiten funktioniert ein Screenreader hürdenfrei. 

Ähnlich ist es mit der Tastaturbedienbarkeit: Damit diese funktioniert, ist es unerlässlich, dass die Webseite anzeigt, auf welchem Element, also beispielsweise einem Menüpunkt, der Nutzer sich befindet. Auf 36 Webseiten funktioniert das nicht. Auf der Webseite der Stadt Winterthur ist es beispielsweise unmöglich, mit der Tastatur den Menüpunkt E-Services, also digitale Anwendungen wie etwa eine Adressänderung, zu erreichen. 

Der Schweizer Standard für E-Accessibility legt fest, dass „zentrale Lebens- beziehungsweise Informationsbereiche in Form von Leichter Sprache“ zur Verfügung stehen müssen. Lediglich fünf der untersuchten Webseiten erfüllen dieses Kriterium. 

Fehlendes Know-how bremst Barrierefreiheit in Schweizer Gemeinden

Elf der untersuchten Webseiten bieten einen sogenannten „Barrierefreiheitsmodus“ an, der sich mit einem Klick auf das entsprechende Element in der Kopfzeile aktivieren lässt. Die Überprüfung durch die Experten der Stiftung Zugang für alle ergab jedoch, dass auf nur drei dieser Webseiten der Barrierefreiheitsmodus auch mithilfe der Tastatur erreicht werden kann. Ansonsten ist er entweder gar nicht zu erreichen oder nur auf Umwegen. Auf der Webseite der Stadt Schaffhausen muss insgesamt 22- mal die Tab-Taste, also einmal die gesamte Webseite hinunter und wieder hinauf, geklickt werden, um den Modus zu erreichen.

Auf Anfrage von CORRECTIV.Schweiz schreibt eine Sprecherin der Stadt Schaffhausen, es sei bekannt, dass der Barrierefreiheitsmodus derzeit nicht optimal über die Tastatur erreichbar sei. Sie gibt an, die Stadt werde das Problem gemeinsam mit der Webdienstleisterin iWeb, die die Webseite entwickelt hat, besprechen. 

Hinter der Recherche
Wo gibt es Barrieren in der Schweiz? Daten darüber gibt es zu wenige. CORRECTIV.Schweiz hat deshalb gemeinsam mit der Hochschule Luzern das Projekt „Achtung Barriere!“ gestartet. Von der Bevölkerung wollen wir wissen: Wo wird euch das Leben erschwert? Unser Ziel: Barrieren erfassen und sichtbar machen, Hintergründe und Zusammenhänge aufzeigen und damit die Politik zum Handeln bewegen. Unsere Recherche in der Stadt Luzern zeigte zum Beispiel, dass gerade unsichtbare Hürden für Angst und Unsicherheit im Alltag sorgen.

Die Stiftung Zugang für alle ist seit 25 Jahren das Schweizer Kompetenzzentrum und die unabhängige Zertifizierungsstelle für barrierefreie Websites und mobile Apps in der Schweiz. Gemeinsam mit den Expertinnen und Experten der Stiftung hat CORRECTIV.Schweiz die Kriterien sowie das Punktesystem zur Überprüfung der Gemeinde-Webseiten ausgearbeitet. Jedes Kriterium wurde auf allen siebzig Webseiten im Juli und August 2025 von einer dafür zuständigen Fachperson durchleuchtet.

Die Redaktion von CORRECTIV.Schweiz hat die Webseiten der Gemeinden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Weil aus den grösseren Kantonen jeweils mehrere Webseiten ausgewählt wurden, hat die Redaktion hier lediglich auf die Einwohnerzahl der jeweiligen Gemeinde geachtet. Konkret: CORRECTIV.Schweiz hat versucht, jeweils die Webseite der grössten, einer mittelgrossen und einer kleinen Gemeinde auszuwählen.

Expertenkritik: „Websites müssen von Grund auf barrierefrei aufgebaut sein“

Dass es Optionen wie den Barrierefreiheitsmodus gibt, würde zwar zeigen, dass manche Gemeinden das Thema durchaus im Blick haben, sagt der IT-Experte Josua Muheim von der Stiftung Zugang für alle. „Anstatt sich jedoch wirklich mit der Thematik zu beschäftigen, wird auf wenig durchdachte Sonderlösungen gesetzt, die wiederum neue Hürden schaffen. Den betreffenden IT-Anbietern sollte eigentlich bewusst sein, dass sie ihre Kunden zu halbherzigen, technisch unzulänglichen Lösungen verführen.“ Der langjährige Accessibility Consultant ist überzeugt, dass Webseiten eigentlich von Grund auf barrierefrei aufgebaut werden sollten. Es scheitere dabei jedoch schon an der untersten Stufe, sagt er, insbesondere, weil es an Wissen fehle: „Informatiker lernen in ihrer Grundausbildung nichts zum Thema Barrierefreiheit.“ 

Mit den Rechercheergebnissen zu ihrer Webseite konfrontiert, gibt auch die Stadt Winterthur an, von den Hürden zu wissen. Laut Mediensprecher Peter Weber wird die Webseite aktuell bereits neu aufgebaut: „Dabei ist die Barrierefreiheit gemäss den einschlägigen und eCH-Standards eine zentrale Anforderung.“ Er betont, dass eine Anpassung des bestehenden Auftritts die Barrieren nur teilweise hätte beheben können, weswegen man sich für einen Neuaufbau entschieden habe. Trotzdem, so schreibt Weber, ist davon auszugehen, dass es Hürden geben wird, die nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt beseitigt werden könnten. Die Gründe: fehlende Alternativen zu externen Anwendungen, die auf der Webseite eingebunden werden, oder mangelnde Ressourcen.

Monika Litscher, Direktorin des Schweizerischen Städteverbands, betont, die Mitglieder unterstützen die Anliegen und Ziele des Behindertengleichstellungsgesetzes. Der Verband mache sich für die Umsetzung digitaler Barrierefreiheit stark, indem er seine Mitglieder vernetze und fachlichen Austausch fördere. Zu einzelnen Webseiten nimmt sie keine Stellung. 

Auch Claudia Kratochvil, Direktorin des Schweizerischen Gemeindeverbands, möchte sich zu Vorwürfen gegen einzelne Webseiten nicht äussern. Sie bedauert, dass die von CORRECTIV.Schweiz untersuchten Webseiten nicht den Standards entsprechen. Für die Gemeinden sei die Digitalisierung ein enormes Unterfangen: „Dabei geht es nicht nur um die Gemeinde-Webseiten, sondern auch um die Bereitstellung von digitalen Dienstleistungen, die selbstverständlich auch barrierefrei sein sollten.“ Übersetzungen in Leichte Sprache müssten die meisten Gemeinden beispielsweise extern einkaufen. Da die Inhalte auf der Webseite regelmässig aktualisiert würden, sei es für viele aktuell schwierig bis unmöglich, sämtliche Texte in Leichter Sprache zur Verfügung zu stellen. 

Letzteres verlangt auch der Schweizer Standard für E-Accessibility nicht von den Gemeinden. Für Betroffene wie Brigitte Stahel wären jedoch schon zugängliche Informationen in zentralen Lebensbereichen ein Fortschritt. Stahel würde sich wünschen, zukünftig noch selbständiger im Internet und auf Webseiten unterwegs zu sein.  „Es wird immer Sachen geben, die für mich schwierig sind. Aber vielleicht könnte man sie ja ein bisschen weniger schwierig machen.“  

Text & Recherche: Janina Bauer
Redaktion: Hanna Fröhlich
Faktencheck: Sven Niederhäuser 
Grafiken: Sebastian Haupt 
Kommunikation: Charlotte Liedtke