Wirtschaft

Was wurde aus den Thyssenkrupp-Immobilien? Eine Crowdrecherche

Es war einer der größten Immobiliendeals Deutschlands: Vor rund zehn Jahren verkaufte der Thyssenkrupp-Konzern den Großteil seiner Flächen und Gebäude. Die Hoffnung: Das Geschäft sollte vor allem dem Ruhrgebiet einen Entwicklungsschub geben. Was daraus wurde? – Das ist unklar. Wir wollen mit Ihrer Hilfe Licht ins Dunkel bringen. Helfen Sie mit, das Rätsel zu lösen. 

von David Schraven

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Collage: Ivo Mayr / CORRECTIV, Fotos: google earth & Markus Spiske / unsplash.com

Es ist ziemlich genau zehn Jahre her, dass einer der größten Immobiliendeals Deutschlands seinen Anfang nahm. Damals musste sich der Konzern Thyssenkrupp von seinen Immobilien trennen. Rund zehn Millionen Quadratmeter an Fläche sollten abgegeben werden, darunter alte Stahlwerke, Wälder, Wohnungen, Bürogebäude, Äcker. Eben alles an Land, was in einer langen und bewegten Konzerngeschichte zusammenkommen kann.

Der Verkauf musste offenbar schnell gehen, denn Thyssenkrupp steckte in einer Krise. Weltweit sank die Nachfrage nach Stahl, Billigexporte aus Asien verschärften den Wettbewerb und gleichzeitig drückten hohe Energiekosten auf die Erlöse.

Die Geschäftsführung von Thyssenkrupp entschied daher: Alle Konzernimmobilien, die nicht unmittelbar wichtig waren, sollten verkauft werden – um Geld in die Hand zu bekommen, das in den Wandel investiert werden sollte. So berichteten es uns mehrere Quellen aus dem Aufsichtsrat von Thyssenkrupp, die damals am Geschäft beteiligt waren.

Anfang 2015 beauftragte Thyssenkrupp das Beratungsunternehmen Ernst & Young Real Estate, alle nicht betriebsnotwendigen Liegenschaften als Gesamtpaket zu verkaufen. Der Einzelverkauf hätte vielleicht viel mehr Geld bringen können – doch ein solcher Verkauf hätte unter Umständen länger gedauert.

Auch, weil es sehr aufwändig gewesen wäre, an jede einzelne Immobilien ein einzelnes Preisschild zu heften: Teilweise waren die Eigentumsverhältnisse der Gelände nicht endgültig geklärt, hier und da bestanden Erbbaurechte oder langfristige Mietverträge, wieder andere Liegenschaften waren industriell verseucht. Und die alten Wälder standen mittlerweile unter Naturschutz, ursprünglich sollten sie Holz für die Industrie liefern. Unter dem Strich ein großes Chaos.

Die Berater von Ernst & Young schnürten aus der Masse an unterschiedlichen Immobilien zunächst fünf Pakete, bot diese dann potenziellen Interessenten zum Kauf an. Das Ganze hieß: „Projekt Hera“.

Soweit, so normal. Die RAG Montan Immobilien GmbH, die Essener Wohnungsgesellschaft Allbau, die Essener Sparkasse und das Helaba-Tochterunternehmen OFB sahen sich damals die Grundstücke an. Sie hatten es vor allem auf jene vier Millionen Quadratmeter in Essen abgesehen, die sich in einem der Pakete befanden. Diese Fläche umfasst einen ganzen Stadtteil, die ehemalige Krupp Fabrik, die alten Panzerfabriken, von der Essener Weststadt bis nach Borbeck.

Den Zuschlag erhielt schließlich die Essener Thelen-Gruppe – eine der größten Immobilienfirmen Deutschlands. Sie ist privat geführt von Wolfgang Thelen, einem Unternehmer mit Wurzeln in Bottrop. Ihren Sprung an die Spitze verdankt die Firma Thelens „kaufmännischen Begabung und pragmatischen Art, die Dinge anzugehen“ – so zumindest steht es in einer Firmenpräsentation. Mittlerweile wird die Thelen-Gruppe auf ein Vermögen in Höhe von über einer Milliarde Euro geschätzt. Genaue Zahlen veröffentlicht die Thelen-Gruppe nicht. Sie hat Standorte im ganzen Bundesgebiet.

Ihren Aufstieg hat die Thelen-Gruppe vor allem dem Thyssenkrupp-Geschäft zu verdanken.

Kaufpreis bis heute unbekannt

Wie viel Geld das Privatunternehmen für den Kauf zahlte, ist bis heute unbekannt: In der Bilanz im Juni 2016 wies Thyssenkrupp zwar einen Wert des Immobilienpaketes von rund 63 Millionen Euro aus, das heißt einen Preis für das Bauland, die Industriegelände, Äcker und Wälder von durchschnittlich 6,30 Euro je Quadratmeter. Vielleicht zahlte die Thelen-Gruppe aber auch mehr: Im Dezember 2016, also ein halbes Jahr später, wies der Konzern in seinen Geschäftsunterlagen die Summe von 126 Millionen Euro als Bargeld-Erlöse aus dem Verkauf von Immobilien aus.

Seit Vollzug des Kaufes finden sich die Immobilien in den Unterlagen der Thelen-Gruppe wieder. Hier werden die zehn Millionen Quadratmeter in den Bilanzen der beteiligten Tochterunternehmen der Thelen-Gruppe vor allem als Anlagevermögen verbucht. Rechnet man hier allein den Wertzuwachs im betreffenden Zeitraum zusammen, kommt man auf eine Summe von rund 200 Millionen Euro, die vor allem auf den Kauf der Thyssenkrupp Immobilien zurückgehen werden.

Weder Thyssenkrupp noch die Thelen-Gruppe wollten sich zum Kaufpreis oder dem Geschäft äußern.

Was sagen Unternehmensbilanzen über Immobilienpreise aus?

Tatsächlich sagen alle genannten Summen wenig über den tatsächlichen Kaufpreis und den tatsächlichen Wert der betroffenen Immobilien aus. Es kommt auf unterschiedliche Bewertungen an: Für Thyssenkrupp kann eine alte Industriebrache eine finanzielle Belastung sein, da das Gelände saniert werden muss, bevor es verwertet werden kann. Für die Thelen-Gruppe kann das gleiche Grundstück ein finanzielles Geschenk sein, da sie dort ein neues Baugebiet planen können.

Diese unterschiedlichen Bewertungen und potentiellen Reichtümer oder Verluste spielen eine große Rolle bei der Aufnahme der Werte in die Bilanzen. Die Phantasie der Unternehmer definiert den Besitzwert.

Wir wollen den wahren Kaufpreis herausfinden. Und wir wollen herausfinden, was genau in der Zwischenzeit mit den Immobilien und Flächen geschah. 

All das ist aus gibt mehreren Gründen relevant:

1.) Für die Gesellschaft

Viele der früheren Thyssenkrupp-Flächen sind für die Stadtentwicklung in NRW wichtig – und vor allem im Ruhrgebiet. Denn die ehemaligen Industriegebiete liegen oft in Innenstadtnähe. Dort liegen heute große Flächen brach. Stadtplaner wollen dort neue Wohnviertel errichten. Zum Beispiel im Gelände Essen51. Dort hat die Gemeinde bereits für einen hohen Millionenbetrag Straßenbahn-Anschlüsse vorbereitet und Straßen angelegt.

Damit die neuen Quartiere entwickelt werden können, müsste auch die Thelen-Gruppe vorankommen. Sie plant, auf dem Gelände Essen51 ein neues Quartier mit über 1.500 Wohnungen entwickeln. Doch die Bauarbeiten kommen seit Jahren nicht voran.

Liegt es daran, dass die Thelen-Gruppe sich mit dem Kaufpreis übernommen und nun zu wenig Geld hat, um die Baugebiete zu entwickeln? Wir wollten die Thelen-Gruppe fragen, doch Gesprächsanfragen wurden abgeblockt.

Im Frühjahr 2026 soll nun ein Bebauungsplan vorgelegt werden. In Dortmund dagegen sah die Stadtverwaltung lange keine Chance, mit Thelen zu einem Abschluss zu kommen. Zu unsicher sei der Partner. Zu groß die Gefahr, in eine Sackgasse zu laufen.

2) Für Geschäftspartner:

Die Thelen-Gruppe verzeichnete von 2016 bis 2023 nahezu eine Verdoppelung der Buchwerte in den Gesellschaften, die am ThyssenKrupp-Geschäft beteiligt waren: auf deutlich über 400 Millionen Euro. Wurde hier tatsächlich so viel investiert oder entwickelt, dass das Vermögen so deutlich wachsen konnte – obwohl auf etlichen Flächen auf den ersten Augenschein wenig passiert ist? Die Antwort auf diese Frage ist relevant für Geschäftspartner der Thelen-Gruppe, zum Beispiel für Banken. Für jeden, der mit der Thelen-Gruppe geschäfte macht.

Ein Beispiel, warum sich diese Frage stellt, ist eine Ackerfläche in Bottrop Die Thelen-Gruppe schloss mit der dortigen Stadtverwaltung einen Deal ab: Auf dem kaum genutzten Gelände wollte die Gemeinde eine Feuerwehrstation bauen. Dafür nahm sie den alten Acker für 60 Jahre als Bauland in Erbpacht.

Dadurch stieg nun der Wert der ehemaligen Ackerfläche um ein Vielfaches.

Den Vermögenszuwachs zahlte also letztlich die Stadt Bottrop und damit die Bürgerinnen und Bürger der klammen Ruhrpottstadt.

Die Frage ist: Wurden ähnliche Deals auf Kosten der Bürger auf anderen Flächen aus dem ThyssenKrupp-Geschäft gemacht? Oder sind die Buchwerte gestiegen, ohne dass diesem Wertanwuchs tatsächliche Geschäfte gegenüberstehen? Das wäre wichtig, da diese Werte für die Aufnahme von Krediten bei Banken entscheidend sind. In der Vergangenheit gingen beispielsweise oft Baulöwen pleite, weil sie Buchwerte vorspielten, die nicht existierten.

Die Verbindlichkeiten der Kerngesellschaften der Thelen-Gruppe lagen zum Bilanzstichtag Ende 2023 addiert und unbereinigt bei rund 600 Millionen Euro. Darin enthalten sind zum Teil auch Schulden der Konzerngesellschaften untereinander. Also Zahlen, die sich in Luft auflösen, wenn man die Schulden gegen die Guthaben verrechnet. Zahlen für 2024 liegen noch nicht vor.

3) Für die ThyssenKrupp-Anteilseigner:

Und dann die Kernfrage: Hat das damalige Management von Thyssenkrupp die Grundstücke des einst stolzen Konzerns weit unter Wert verkauft? Das wäre relevant für die Anteilseigner des Konzerns.

Die Vermutung, das dem so sei könnte, basiert auf folgenden Gedanken: Grund und Boden wurden zunächst relativ niedrig von den Buchprüfern und Beratern von ThyssenKrupp geschätzt und zu einem niedrigen Preis verkauft. Doch dann tauchen sie für mehr als die doppelten Werte in den Bilanzen der Thelen-Gruppe auf. Passt das zusammen?

So hat ThyssenKrupp zum Beispiel ein  Bürogebäude in dem Paket verkauft, das dauerhaft und profitabel an große Konzerne vermietet ist. Durch die Einnahmen alleine dieses einen Gebäudes werden Millionen in die Kassen der Thelen-Gruppe gespült.

Wir haben über mehrere Monate hinweg versucht, mit allen wesentlichen Managern zu sprechen, die beim Verkauf der Immobilien an die Thelen-Gruppe involviert waren. Offiziell wollte niemand etwas sagen.

Inoffiziell sagten einige Beteiligte, Thyssenkrupp habe damals jeden Euro gebraucht und am Ende sei eben das höchste Gebot angenommen worden. Zudem seien viele Grundstücke verseucht oder unverkäuflich gewesen. Da sei es besser gewesen, alles in einem Paket zu verkaufen. Sicher werde die Thelen-Gruppe hier und da einen Schnapper gemacht haben. Auf der anderen Seite müsse sich die Thelen-Gruppe aber nun eben auch mit den Brachen rumärgern.

Uns reichte diese intransparente Aussage nicht.

Wir haben deswegen nachgeschaut, wie hoch die Bodenrichtwerte für die betroffenen Grundstücke zum Zeitpunkt des Geschäfts waren. Allein, wenn man diesen Wert annimmt, der von den Grundstücksgutachtern in jeder Kommune einzeln festgelegt wird – und darauf einen großen Abschlag macht – kommt man auf weit über 250 Millionen Euro, die die ThyssenKrupp Grundstücke wert waren.

Wenn die Grundstücke aber unter Wert verkauft wurden, betrifft das auch den Staat. Denn auf alle Grundstücksgeschäfte musste die Thelen-Gruppe Steuern zahlen. Wenn der Verkaufswert niedrig ist, gibt es eben weniger Steuern, als wenn ein höherer Wert festgelegt ist.

Allerdings kann man im Fall des ThyssenKrupp Immobiliengeschäftes auf Basis der vorliegenden Informationen nicht abschätzen, wie hoch der wirkliche Wert war.

Denn bei der Berechnung der Verkaufspreise machen die Bodenrichtwerte nur einen Teil der Wahrheit aus. Die Gebäude und Einrichtungen, die auf den Grundstücken stehen, müssen bewertet werden. Und da kann es sogar Negativwerte geben, wenn ein Gebäude beispielsweise mit Asbest verseucht oder baufällig ist. Genausogut kann es aber auch positive Werte geben, beispielsweise wenn auf dem Grundstück eine Fläche gut vermietet ist.

Und weil das alles so kompliziert ist, brauchen wir ab heute Ihre Hilfe.

Wir brauchen Ihre Unterstützung:

Wir wollen uns besser an die tatsächlichen Werte der Grundstücke annähern.

Deswegen bitten wir alle Menschen, die Lust haben, sich an unserer Recherche im CrowdNewsroom zu beteiligen. Sie müssen keine Vorkenntnisse haben und nichts über Grundstücke wissen. Sie müssen nur ein paar Fragen zu Adressen in ihrer Umgebung beantworten. Vielleicht haben Sie aber auch Dokumente oder Unterlagen zu dem Geschäft oder zur Wertermittlung des großen Grundstückdeals. Die können Sie bequem und sicher mit uns teilen. Wir freuen uns, wenn Sie helfen, die Frage zu lösen:

Was wurde aus den Thyssenkrupp-Immobilien?

Wir wollen wissen, was heute wirklich auf den Grundstücken steht, die ThyssenKrupp verkauft hat, wie diese bewirtschaftet sind und welchen eigentlichen Wert sie wirklich haben.

Suchen Sie sich auf der digitalen Karte des Projekt Hera ein Grundstück heraus, das Sie beschreiben möchten. Alternativ können Sie auch Adressen ins Suchfeld eingeben.

Sie können dann Angaben zur Nutzung der Grundstücke machen, Fotos hochladen sowie weitere Angaben zu den Immobilien machen.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an:

Hera@CORRECTIV.org

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