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Stau-Irrsinn NRW: Kein Ende in Sicht

Nordrhein-Westfalen ist auf dem besten Weg zum Stau-Rekord: 2018 toppt schon jetzt vergangene Jahre. Und der Stau-Trend wird bis 2024 weiter ansteigen. Verantwortlich sind immer größer werdende Lkw-Flotten, mehr Baustellen und baustellenbedingte Unfälle. Hier ein Überblick der größten Staustrecken: Wo in NRW stehen Autofahrer am längsten?

von Dietmar Seher

© Stau auf der A3 von Marco Verch unter Lizenz CC BY 2.0

NRW ist das Stauland Nummer 1. Auf insgesamt 455.000 Kilometer reihten sich die Blechkolonnen im vergangenen Jahr. Eine Zunahme um über 41 Prozent von 2015 zu 2017. Die Stau-Daten des ADAC zeigen seit Jahren einen Trend nach oben. Und es deutet alles darauf hin, dass 2018 der Staurekord von 2017 noch einmal gebrochen wird.

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Kein Ende in Sicht: Der Stau-Trends in NRW zeigt deutlich nach oben.

Grafik: CORRECTIV.Ruhr

Das Düsseldorfer Verkehrsministerium meldet schon für das erste Quartal diesen Jahres auf der A 40 einen sprunghaften Anstieg der Staulängen. Im Vergleich zum vergangenen Jahr stiegen die Staukilometer um 20 Prozent auf insgesamt 6425 Kilometer.

Zwischen 2022 und 2024 ist dann der absolute Stau-Höhepunkt zu erwarten. Denn der Masterplan der Landesregierung zu den Verkehrswegen sieht in diesem Zeitraum 26 Instandsetzungs- und Neubauprojekte an NRW-Autobahnen vor. Mit zahllosen Baustellen.

Die staureichsten Strecken im Überblick: wie lang, wie oft, wie weit?

Wie kommt es zu den Staus?

1. Baustellen

„Baustellen sind Staustellen“, sagt ADAC-Mann Roman Suthold. „Empirische Untersuchungen haben ergeben, dass fast 50 Prozent der Staus auf den Autobahnen Nordrhein-Westfalens durch Baustellen verursacht werden“, führt auch der Landesbetrieb Straßenbau NRW aus. Und die Baustellen in NRW werden jährlich mehr. Seit 2012 ist die Zahl der Baustellen längerer Dauer um mehr als ein Drittel gestiegen. Bei denen kürzerer Dauer war die Zunahme sogar noch höher.

Das wird sich in den kommenden Jahren nicht ändern. Im Gegenteil – wie aus dem Masterplan zur Umsetzung des Fernstraßenbedarfsplans der Landesregierung deutlich wird.

Mehr Investitionen: Schon in diesem und im nächsten Jahr hat NRW 1,3 Milliarden Euro für Straßenbau und Straßenerhalt zur Verfügung. So viel wie nie. Der Bedarfsplan des Bundes bis zum Jahr 2030 umfasst für Autobahnen und Bundesstraßen in NRW 200 Projekte mit Investitionen von 20 Milliarden Euro. Zwar sind 70 Prozent dieser Summe für die Instandhaltung maroder Fahrbahnen und Brücken bestimmt, errechnet Verkehrswissenschaftler Prof. Michael Schreckenberg von der Universität Duisburg-Essen, aber die schwarz-gelbe Landesregierung treibt Neubauten stärker voran als die Vorgängerregierung. Der von Rot-Grün gestoppte Lückenschluss der A 52 im Essener Norden gehört dazu, im Süden des Landes der der A 1.

Was passiert, wenn die beiden marodesten Rheinbrücken in Leverkusen und Duisburg, die beiden großen Engpässe des Landes, vor Fertigstellung ihrer Nachfolger noch mehr Risse bekommen und für alle Fahrzeuge, nicht nur für Lkw, gesperrt werden müssen? Gibt es dafür einen Plan B? „Nein“, sagt Schreckenberg. Auch im Verkehrsministerium in Düsseldorf weiß man: Das wäre der Gau.

2. Fahrzeugdichte

Pkw- wie Lkw-Bestand in Nordrhein-Westfalen haben sich seit 1980 um ein Drittel vermehrt.

  • Zwischen 2000 und 2014 stieg die Zahl der Personenwagen von 9,07 auf 9,35 Millionen.

  • Die Zahl der Lkw stieg in diesem Zeitraum von 475.000 auf 530.000.

  • Bundesweit legen LKW 8,5 Milliarden Fahr-Kilometer zurück, die höchste von den Mautstellen gemessene Zahl seit 2005.

Der LKW-Schub ist importiert: Ausländische Trucks rücken in der Mautstatistik vor und stellen bald die Mehrheit der Transporter auf unseren Autobahnen. Der deutsche Anteil liegt nur noch bei 55,6 Prozent. Bald jeder fünfte Lkw ist mit PL-Kennzeichen unterwegs. Der Anteil der in Polen gemeldeten stieg binnen Jahresfrist von 15,8 Prozent auf 17,1 Prozent und der der in Rumänien gemeldeten von 3,4 auf 3,7 Prozent.

NRW liegt an der Rennstrecke von Osteuropa, die zu den Seehäfen der Nordsee und des Atlantiks führt. „Der belgische Seehafen Antwerpen wird in den nächsten Jahren um 50 Prozent wachsen. Der Verkehr geht zum Großteil durch Nordrhein-Westfalen, und die Landesregierungen haben es nicht geschafft, dem Bau des ‘Eisernen Rheins’ zuzustimmen und damit eine Schienen-Alternative zwischen Düsseldorf und Antwerpen zu schaffen“, sagt Michael Schreckenberg von der Universität Duisburg/Essen.

3. Unfälle

Von 135 auf jetzt 194 ist die Zahl massiver Lkw-Crashs auf den NRW-Autobahnen in den letzten fünf Jahren gestiegen, ein Plus von 44 Prozent. „Nicht in der Baustelle kommt es zu den meisten Unfällen, sondern zu Beginn des Baustellen-Bereichs“, sagt Roman Suthold. Vor allem „Lastwagen können zu tonnenschweren Geschossen werden“, warnt NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). Er ist für die Verkehrssicherheit im Land verantwortlich. 19 Menschen kosteten LKW-Unfälle 2017 das Leben.

Übermüdung und Ablenkung sind die Unfallursachen: Lkw-Fahrer schlafen ein, weil sie nicht ausreichend zur Ruhe kommen. Vor allem Osteuropäer stehen unter Druck. Viele werden mit 300 Euro Grundgehalt abgespeist und können Tagesspesen dazu verdienen. Dafür müssen sie Kilometer abreiten. Die Polizei hat Trucker erwischt, die 24 Stunden am Steuer waren. Auch werden häufig die Notbremsassistenten ausgeschaltet, was unverantwortlich, aber nicht verboten ist. Der Notbremsassistent ist eine Einrichtung, die wie ein Radar vorab stehende Fahrzeuge wahrnimmt, wie es sie zu Beginn eines Staus oder einer Baustelle gibt, und die dann von sich aus herunterbremst. Problem: Lkw-Piloten fahren gerne dicht auf, damit sie umso besser mit Schwung überholen können. Der Assistent behindert dieses Nah-Auffahren.

Landesweit will NRW nun Sonderparkplätze „zur besseren Durchführung von Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen“ einrichten, für die Überprüfung der Sicherheitstechnik und der Arbeitszeit-Messungen. Örtliche Polizeidienstellen wurden mit speziellen Abstandsmessgeräten ausgestattet. Die Landesregierung setzt sich überdies für Regeln ein, die es verbieten, Notbremsassistenten auszuschalten. Hier will sie aber eine europaweite Lösung. Das kann noch dauern.

Hinweis: Unterschiedliche Messmethoden

Der Trend hin zu mehr Staus ist eindeutig. Aber der genaue Umfang der Stau-Belastung auf dem landesweit 2220 Kilometer großen Autobahnnetz in NRW ist heiß diskutiert. Land, ADAC und die Verkehrsredaktion des Westdeutschen Rundfunks fechten einen kleinen Streit um die Deutungshoheit aus: 88.000 Stau-Kilometer zählt zum Beispiel das Landesverkehrsministerium im Jahr 2017 — statt der 455.000 des ADAC.

Wahr ist: Schon jedes Bundesland definiert anders, was ein Stau ist. Ob er beim Kolonnen-Tempo von 30 km/h beginnt oder erst bei Tempo 45, auch wie lange er anhalten muss, um überhaupt als Stau gewertet zu werden. Bayern veröffentlicht also Zahlen, die nicht mit denen aus NRW oder Hessen vergleichbar sind.

Auch die Ermittlungstechniken unterscheiden sich. Rund 4500 stationäre Induktionsschleifen sind in die Fahrbahnen der NRW-Autobahnen eingebaut, um den Verkehrsfluss zu beobachten. Die nutzt das Land. Die Meldungen von dort an die Verkehrszentrale des Landes werden durch die Autobahnpolizei – sozusagen händisch – mit den Informationen über „Störfälle auf Strecken ohne automatische Datenerfassung“ (Landesregierung) angereichert.

Der ADAC sagt, er bediene sich modernerer Kommunikationsmittel. Per Handys und GPS ermittelt er durch Fahrzeuge verschiedenster Art, die ständig unterwegs sind, die Häufigkeit und Ausdehnung der Staus und deren zeitliche Beanspruchung für die Fahrer. So könne man auch kleinere Staus erfassen.