Nein, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt den „Schutz des Islam“ nicht über die Meinungsfreiheit
Ein AfD-Bundestagsabgeordneter behauptet, der „Schutz des Islam“ sei laut Europäischem Gerichtshof „wichtiger als Meinungsfreiheit in Europa“. Das geht aus dem Urteil, auf das er verweist, aber nicht hervor.
Die Webseite Politikstube veröffentlichte am 27. März einen Artikel mit der Überschrift „EU-Gerichtshof: Schutz des Islam ist wichtiger als Meinungsfreiheit in Europa“. Im Text steht, die Meinungsfreiheit sei „in großer Gefahr“. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe in einem Berufungsverfahren „festgestellt, dass die Aussetzung der Meinungsfreiheit in ‘einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist’“. Der Text wurde bisher 1.345 Mal auf Facebook geteilt.
Als Quelle wird auf ein finales Urteil des Gerichtshofs vom 18. März verlinkt – und der AfD-Bundestagsabgeordnete Martin Sichert angegeben. Wer die Facebook-Seite von Sichert ansteuert, findet heraus: Der Text von Politikstube wurde eins zu eins von einem Post des Politikers vom 26. März übernommen, der seinerseits bisher 1.383 Mal geteilt wurde. Sichert schreibt zudem: „Islam-Kritik verboten!“
Auch Sichert verlinkt in seinem Post auf das Urteil des Gerichtshofs. Doch CORRECTIV kann darin keine Grundlage für seine Behauptung finden.
Sichert vereinfacht komplexen Sachverhalt stark
Hintergrund ist ein Fall aus Österreich, der schon seit 2011 andauert. Elisabeth Sabaditsch-Wolff, die damals als Islamexpertin für die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) auftrat, wurde im Februar 2011 erstinstanzlich wegen „Herabwürdigung religiöser Lehren“ zu einer Geldstrafe von 480 Euro oder sechs Monate Haft verurteilt. Sabaditsch-Wolff hatte in einem Seminar einer Vortragsreihe eines FPÖ-Bildungsinstituts behauptet, der islamische Prophet Mohammed „hatte nun mal gerne mit Kindern ein bisschen was“. Später fragte sie: „Wie nennen wir das, wenn’s nicht Pädophilie ist?“
Der Europäische Gerichtshof schreibt zu diesem Urteil: „Das Landgericht stellte fest, dass die obigen Aussagen im Wesentlichen die Botschaft vermittelten, dass Mohammed pädophile Tendenzen gehabt habe. […] Das Gericht stellte jedoch auch fest, dass nicht nachgewiesen werden konnte, dass die Klägerin beabsichtigt hatte, alle Muslime zu verurteilen. Sie deutete nicht an, dass alle Muslime pädophil seien, sondern kritisierte die unreflektierte Nachahmung eines Vorbildes. […] Da es sich bei der Pädophilie um ein von der Gesellschaft geächtetes und verbotenes Verhalten handelte, war es offensichtlich, dass die Äußerungen der Klägerin zu Empörung führen konnten. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass die Klägerin beabsichtigt hatte, Mohammed zu Unrecht der pädophilen Tendenz zu beschuldigen.“
Sabaditsch-Wolff ging daraufhin in Berufung. Sie berief sich dafür auf Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Ihr Recht auf freie Meinungsäußerung werde durch das Urteil des Landesgericht für Strafsachen in Wien beschnitten, argumentierte Sabaditsch-Wolff.
Doch sowohl das Oberlandesgericht in Wien im Dezember 2011, als auch der Oberste Gerichtshof Österreichs im Januar 2014 wiesen die Berufung zurück und gaben dem Landesgericht für Strafsachen recht. Sabaditsch-Wolff wandte sich daraufhin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Dessen Urteile sind für betroffene Staaten bindend.
Zusammengefasst stellte der Gerichtshof am 18. März fest:
- dass „die Seminare im Internet und in Broschüren, die vom Chef der rechten Freiheitspartei verschickt wurden, breit in der Öffentlichkeit bekannt gemacht worden“ waren. „Der Titel des Seminars hatte den – im Nachhinein irreführenden – Eindruck erweckt, dass es objektive Informationen über den Islam enthalten würde“, schreibt der Gerichtshof.
- dass Sabaditsch-Wolff Mohammed „subjektiv“ „Pädophilie als seine allgemeine sexuelle Präferenz bezeichnet, ohne ihr Publikum neutral über den historischen Hintergrund zu informieren, der folglich keine ernsthafte Debatte über diese Frage zuließ, und hatte daher ein Werturteil ohne ausreichende sachliche Grundlage abgegeben. Selbst wenn sie als sachliche Aussagen einzustufen waren, hatte sie es versäumt, dafür Beweise zu liefern.“
- dass Sabaditsch-Wolff sich „als Expertin auf dem Gebiet der islamischen Lehre bezeichnet“ hatte, „die bereits seit einiger Zeit derartige Seminare durchführte, so dass ihr bewusst sein musste, dass ihre Aussagen zum Teil auf falschen Tatsachen beruhen und bei anderen zu (berechtigter) Empörung führen können.“ Das könne als böswillige Verletzung des „Geistes der Toleranz verstanden werden, der eine der Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft“ sei.
- dass es „nicht vereinbar mit Artikel 10 des Übereinkommens“ sei, „belastende Aussagen in die Verpackung einer ansonsten akzeptablen Meinungsäußerung zu packen und daraus den Schluss zu ziehen, dass dadurch die Aussagen, die über die zulässigen Grenzen der Meinungsfreiheit hinausgehen, passabel würden.“
- dass Sabaditsch-Wolff „zu Unrecht davon ausgegangen“ sei, „dass unzulässige Angriffe auf religiöse Gruppen toleriert werden müssten, auch wenn sie auf falschen Tatsachen beruhen“. Im Gegenteil stellt das Gericht fest, „dass Aussagen, die auf (offensichtlich) falschen Tatsachen beruhen, nicht den Schutz von Artikel 10 genießen“.
- dass die österreichischen Gerichte „den breiteren Kontext der Äußerungen der Klägerin umfassend bewertet und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung sorgfältig mit dem Recht anderer auf Schutz ihrer religiösen Gefühle und auf Erhaltung des religiösen Friedens in der österreichischen Gesellschaft abgewogen haben“.
- dass die österreichischen Gerichte „stichhaltige und ausreichende Gründe vorgebracht und ihren breiten Ermessensspielraum nicht überschritten. Die Beeinträchtigung der Rechte der Antragstellerin nach Artikel 10 hat in der Tat einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprochen“ und habe „in einem angemessenen Verhältnis“ gestanden.
Aus dem Urteil des Gerichtshof lässt sich nicht entnehmen, dass der „Schutz des Islam“ wichtiger sei als Meinungsfreiheit. Der Satz „Schutz des Islam“ kommt gar nicht darin vor.
Sichert vereinfacht mit seiner Behauptung einen komplexen Sachverhalt stark. Die Behauptung, der Gerichtshof stelle fest, eine „Aussetzung der Meinungsfreiheit ist in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“, ist frei erfunden. Das Gericht schreibt das nicht derart generalisierend im Urteil.
Das Urteil sei im Gegenteil bereits erstinstanzlich unter sorgfältiger Abwägung entstanden und trage Artikel 10, Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention Rechnung. Auch die Meinungsfreiheit ist nicht „in Gefahr“, wie Sichert schreibt – sie hat laut des Urteils des Gerichtshof nur dort ihre Grenze, wo es sich nicht um Meinung, sondern um Böswilligkeit oder Verzerrung von Tatsachen handele.