Faktencheck

Keine Belege, dass 96 Prozent der Corona-Todesfälle in Italien auf andere Krankheiten zurückzuführen sind

In einem Artikel des Blogs „Alles Schall und Rauch“ wird behauptet, dass 96 Prozent der Todesfälle in Italien im Zusammenhang mit dem Coronavirus auf andere Krankheiten zurückzuführen seien. Dafür gibt es jedoch keine Belege.

von Uschi Jonas

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Es gibt keine Belege dafür, dass 96 Prozent der Corona-Todesfälle in Italien auf andere Krankheiten zurückzuführen sind. (Symbolbild: Fusion Medical Animation / Unsplash)
Bewertung
Unbelegt. Der Verfasser des Artikels zieht falsche Schlussfolgerungen aus einer Studie. Es ist unklar, wie viele Menschen in Italien wirklich ursächlich am Coronavirus starben.

In einem Artikel des Blogs „Alles Schall und Rauch“ vom 26. Mai 2020 wird behauptet, dass in Italien 96 Prozent der Todesfälle im Zuge von Covid-19 auf andere Krankheiten zurückzuführen seien. Diese Behauptung ist unbelegt. Laut dem Analysetool Crowdtangle wurde der Artikel fast 2.000 Mal auf Facebook geteilt (Stand 10. Juni). 

Wie CORRECTIV mit Unterstützung der italienischen Faktenchecker von Pagella Politica recherchiert hat und wie auch der Verfasser des Artikels selbst angibt, bezieht sich die Behauptung auf eine Studie der italienischen Gesundheitsbehörde – Institutio Superiore de Sanità (ISS). Allerdings zieht der Verfasser des Artikels Schlüsse daraus, die die Studie nicht zulässt. Denn darin werden zwar Vorerkrankungen untersucht, jedoch nicht Todesursachen.

Studie untersucht nur einen Teil der verstorbenen Patienten genauer

Die Studie gibt, ähnlich wie das Robert-Koch-Institut für Deutschland, Handlungsempfehlungen für den Umgang mit der Corona-Krise in Italien. Sie wird immer wieder aktualisiert. Durch das Datum des Blog-Artikels und der dort verwendeten Zahlen ist darauf zu schließen, dass sich der Verfasser des Artikels auf die Version der Studie vom 21. Mai 2020 bezieht. 

Aus den Daten dieser Studie schließt der Autor des Blog-Artikels auf alle Covid-19 Todesfälle in Italien. Das ist jedoch nicht möglich. Die Studie trifft nur Aussagen zu einer bestimmten Anzahl von Patienten. In der Studien-Version vom 21. Mai wurden die Charakteristika von 31.096 verstorbenen Covid-19-Patienten untersucht –aber nur bei 3.032 Personen davon wurden die Krankenakten im Hinblick auf Vorerkrankungen analysiert. Die Aussagen der Studie zu Vorerkrankungen beziehen sich also nur auf 3.032 in Italien verstorbene Personen und nicht, wie suggeriert, auf alle „Virustodesfälle des Landes“.

Studie untersucht Vorerkrankungen – aber keine Todesursachen

 Der Blog-Artikel listet einige Ergebnisse der Studie größtenteils richtig auf, etwa dass …

  • … mehr als 68 Prozent der Verstorbenen an Bluthochdruck, etwa 30 Prozent an Diabetes (Anm. d. Redaktion: 31,8 Prozent laut Studie) und 28 Prozent an Herzerkrankungen litten und …
  • … 59,5 Prozent drei oder mehr zusätzliche Krankheiten (Anm. d. Redaktion: 59,6 Prozent laut Studie), 21,4 Prozent zwei Vorerkrankungen, 15,0 Prozent eine zusätzliche Erkrankung hatten und 4,1 Prozent keine weitere Erkrankung hatten, die im Zuge von Covid-19 gestorben sind.

Allerdings fehlt auch dort der Hinweis, dass sich diese Zahlen nur auf 3.032 Patienten beziehen. Hinzu kommt, dass der Verfasser des Artikels auch hieraus falsche Schlüsse zieht. Er schreibt: „[…] von den gemeldeten Corona-Toten hatten 59,5% drei oder mehr Krankheiten, 21,4% zwei Vorerkrankungen, 15,0% eine Krankheit und nur 4,1% sind an Covid-19 gestorben, 96% NICHT!!!“ Der Verfasser des Artikels behauptet folglich, dass lediglich 4,1 Prozent der Patienten an Covid-19 gestorben seien und 96 Prozent nicht. Für diese Aussage gibt es aber keinen Beleg, denn für die Studie wurden keine Todesursachen untersucht.

Vorerkrankungen bedeuten nicht zwingend, dass Patienten nicht ursächlich an Covid-19 gestorben sind

In der Auswertung der Studie kommen die Autoren zum Schluss, dass in 124 der 3.032 analysierten Krankenakten keine Vorerkrankung vermerkt war. Das entspricht 4,1 Prozent. Im Umkehrschluss bedeutet das zwar, dass 95,9 Prozent eine oder mehrere Vorerkrankungen hatten. Die Studie bietet aber keine Grundlage für die Behauptung, dass keiner dieser Menschen an Covid-19 gestorben ist. 

Dass ein Corona-Patient eine oder mehrere Vorerkrankungen hat, bedeutet nicht zwingend, dass er daran stirbt und nicht ursächlich an Covid-19: Laut RKI steigern Vorerkrankungen das Risiko für schwere Verläufe, das bedeutet jedoch nicht, dass jeder an Covid-19 erkrankte Patient mit Vorerkrankungen auch zwingend stirbt. Immer wieder finden sich auch in Deutschland Medienberichte über Menschen, die trotz hohen Alters und Vorerkrankungen eine Covid-19-Erkrankung überlebt haben, zum Beispiel bei Infranken.de oder der Mainpost.

Es ist auch unklar, ob der Tod jeweils letztlich durch genau eine Krankheit verursacht wird oder nicht auch mehrere Faktoren in Kombination den Tod verursachen können. Obduktionen von verstorbenen Corona-Patienten in Hamburg zeigen jedoch beispielsweise, dass der Großteil ursächlich durch die Infektion mit dem Coronavirus starb. 

 

Zudem wird in der Studie festgehalten, dass von den 3.032 im Krankenhaus gestorbenen Patienten nur 217 ursprünglich wegen anderer Diagnosen eingeliefert worden waren. Bei allen anderen, 92,3 Prozent, wurden bei der Einlieferung Zustände (zum Beispiel Lungenentzündung, akutes Lungenversagen) oder Symptome (zum Beispiel Fieber, Kurzatmigkeit, Husten) beschrieben, die zu  SARS-CoV-2 passen. Die Erkrankung, die den Krankenhausaufenthalt notwendig machte, wurde also vermutlich in den meisten Fällen vom Coronavirus verursacht.

Eine Grafik der ISS-Studie vom 21. Mai 2020 zeigt die am häufigsten beobachteten Symptome bei 3.032 Patienten. (Screenshot: CORRECTIV)

Die Erkenntnis, dass die meisten Corona-Toten in Italien eine oder mehrere Vorerkrankungen hatten, ist nicht neu. In einem Faktencheck vom 20. März hatten wir schon von einer ähnlichen Studie berichtet, die das ISS am 17. März veröffentlicht hatte. Damals lag der Anteil der Verstorbenen ohne Vorerkrankung unter 2.003 Patienten bei 0,8 Prozent. 

In Italien werden laut Pagella Politica alle positiv getesteten Menschen, die sterben, als Corona-Todesfälle gezählt – ähnlich wie in Deutschland. So lange nicht alle Verstorbenen obduziert werden, ist also unklar, wie viele genau an Covid-19 starben. 

Fazit: Der Verfasser des Blogartikels zieht falsche Schlussfolgerungen aus der Studie des ISS. Denn, vorliegende Vorerkrankungen bedeuten nicht zwingend, dass Patienten daran und nicht an Covid-19 sterben. Außerdem bezieht er die Studienergebnisse ohne Datengrundlage auf alle Todesfälle des Landes. In der Studie wurden jedoch insgesamt nur Krankenakten von 3.032 Patienten auf Vorerkrankungen untersucht. Somit ist nicht belegt, dass 96 Prozent der Corona-Todesfälle in Italien auf andere Krankheiten zurückzuführen sind. 

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