Schweinegrippe und Bill Gates: Erneut irreführende Behauptungen über Impfungen im Umlauf
Ein Facebook-Nutzer vergleicht Impfungen mit einem „Genozid“ und zieht verschiedene Beispiele heran. Es geht um die Schweinegrippe-Impfung, Impfungen in Indien, die angeblich tausenden Menschen geschadet hätten oder Bill Gates. Die Behauptungen sind größtenteils falsch.
In einem Facebook-Beitrag vom 2. Juli, der mehr als 1.100 Mal geteilt wurde, wird unter der Überschrift „Genozid am deutschen Volk?“ Stimmung gegen Impfungen gemacht. Er enthält zahlreiche Spekulationen in Bezug auf einen zukünftigen Corona-Impfstoff. Es werden aber auch mehrere konkrete Behauptungen über Impfungen gegen die Schweinegrippe oder Fälle in Indien oder Afrika aufgestellt, die sich überprüfen lassen.
CORRECTIV hat recherchiert: Die überprüfbaren Behauptungen sind alle falsch, irreführend oder unbelegt.
1. Behauptung: Bei der Schweinegrippe habe es einen Impfstoff für die Bevölkerung und einen für die Regierung gegeben. Ersterer habe Giftstoffe enthalten und für schwere Impfschäden gesorgt.
Die Behauptungen sind teilweise falsch. Richtig ist, dass es zwei verschiedene Impfstoffe gab – irreführend ist jedoch, dass suggeriert wird, der für die Bevölkerung habe gefährliche Giftstoffe enthalten.
Das Influenza-Virus H1N1, auch als Schweinegrippe bezeichnet, löste 2009/2010 eine Pandemie aus. Rückblickend schätzt das Robert-Koch-Institut, dass es in Deutschland etwa 350 Todesfälle gab.
2009 gab es Medienberichte über die Bestellung eines anderen Impfstoffes für die Bundesregierung, Bundesbeamte und Soldaten der Bundeswehr als für den Rest der Bevölkerung. Es war die Rede von einer angeblichen „Zwei-Klassen-Impfung“. Für die Bevölkerung seien 50 Millionen Dosen des Impfstoffes Pandemrix des Herstellers Glaxo-Smith-Kline bestellt worden. Das Innenministerium habe dagegen 200.000 Dosen eines anderen Impfstoffes namens Celvapan von der Firma Baxter bestellt.
Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums, Sebastian Gülde, bestätigte auf Anfrage von CORRECTIV per E-Mail, dass der Bund sich über das Bundesinnenministerium einer Bestellung der Bundeswehr bei der Firma Baxter angeschlossen habe. Für Bundesbeamte wurde demnach Celvapan bestellt.
Das Bundesinnenministerium hat nicht auf eine Presseanfrage von CORRECTIV nach den Gründen für die Bestellung von Celvapan geantwortet. Laut einem Bericht der Welt im Oktober 2009 steckte dahinter aber ein älterer Liefervertrag der Bundeswehr mit Baxter. Dasselbe berichtete die FAZ: Die Bundesregierung habe den Vorwurf eines „Regierungsimpfstoffes“ zurückgewiesen. Die Bundeswehr und Bundespolizisten würden Celvapan wegen des Vertrags mit Baxter bekommen, der noch aus Zeiten der Vogelgrippe stamme. Der Grund sei nicht, dass Celvapan unbedenklicher sei oder weniger Nebenwirkungen hervorrufe. Mitglieder der Bundesregierung würden im Falle einer Impfung Pandemrix erhalten.
Unterschied der Schweinegrippe-Impfstoffe: Pandemrix enthielt Wirkverstärker
Der Unterschied der Impfstoffe bestand den Medienberichten zufolge darin, dass Pandemrix Wirkverstärker enthalte, mit denen typische Impf-Nebenwirkungen häufiger auftreten könnten. Wirkverstärker sorgen dafür, dass auch geringere Dosen eines Impfstoffes eine starke Immunreaktion des Körpers auslösen. Diese Wirkverstärker sind offenbar mit den angeblichen „Giftstoffen“ in dem Facebook-Beitrag gemeint.
Die Sprecherin des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), Susanne Stöcker, schrieb auf Nachfrage von CORRECTIV: „Bei Pandemrix gab es tatsächlich deutlich mehr Lokalreaktionen (Schmerzen an der Einstichstelle, Hautrötungen), aber auch mehr und stärkere systemische Reaktionen wie Kopfweh, leichtes Fieber, starke Abgeschlagenheit. Das ist aber eine normale und letztlich auch zu erwartende Reaktion, denn der Wirkverstärker soll ja die Reaktion des Immunsystems verstärken.“
Die Bezeichnung dieser Wirkverstärker (Adjuvanzien) als „Giftstoffe“, die „schwere Impfschäden“ verursachten, ist demnach irreführend. Der Wirkverstärker in Pandemrix habe Squalen, Polysorbat 80 und Vitamin E enthalten, so Stöcker. Bereits 2009 gab es Bedenken gegen Squalen, deshalb hat das PEI zu diesem Thema einen Artikel veröffentlicht.
Demnach handelt es sich bei Squalen um einen natürlichen Bestandteil von Körperzellen, ein Zwischenprodukt des menschlichen Cholesterin-Stoffwechsels. Es sei in vielen Lebensmitteln wie Fisch oder Olivenöl enthalten. „Die Menge an Squalen, die in einer Dosis Impfstoff enthalten ist, liegt nicht höher als die durchschnittliche Menge, die täglich mit der Nahrung aufgenommen wird“, schrieb das PEI.
Pandemrix erhöhte laut Studien das Risiko für Narkolepsie
Auf einem anderen Blatt steht, dass Pandemrix später in die Kritik geriet, weil die Impfung offenbar das Risiko für Narkolepsie bei jungen Menschen erhöhte. 2011 machte Schwedens Gesundheitsbehörde laut PEI darauf aufmerksam. Narkolepsie ist eine seltene Schlaf-Wach-Störung.
Das PEI hat nach eigenen Angaben auch in Deutschland Untersuchungen durchgeführt. Bis Ende Oktober 2016 seien 86 Meldungen von Narkolepsie-Verdachtsfällen nach einer Pandemrix-Impfung eingegangen. Eine bundesweite Studie des PEI zu dem Thema bestätigte die erhöhten Narkolepsie-Zahlen bei den geimpften Kindern und Jugendlichen.
Ein Zusammenhang mit dem Wirkverstärker sei jedoch nicht nachgewiesen, erklärt PEI-Sprecherin Susanne Stöcker per E-Mail: „Die Vermutung, dass der Wirkverstärker in Pandemrix die Ursache für die sehr seltene Nebenwirkung Narkolepsie war, hat sich bis heute nicht bestätigt. Zudem war der Grippeimpfstoff Fluad (für Menschen über 65) mit dem ebenfalls squalenhaltigen Wirkverstärker MF59 schon seit 1997 millionenfach im Einsatz gewesen, ohne dass Narkolepsiefälle gemeldet worden wären.“
Pandemrix war ein Impfstoff speziell gegen die sogenannte Schweinegrippe und ist aktuell nicht mehr in der EU zugelassen.
2. Behauptung: In Afrika seien Impfungen Stoffe hinzugefügt worden, die mehr als eine Million Frauen bis zu zehn Jahre unfruchtbar machten.
Die Behauptung, in Afrika seien Frauen durch Impfungen unfruchtbar gemacht worden, kursiert schon seit vielen Jahren und ist falsch. Die Aussage in dem Facebook-Beitrag ist sehr allgemein gehalten, bezieht sich aber mutmaßlich auf Tetanus-Impfungen in Kenia.
Die katholische Kirche dort hatte behauptet, in Tetanus-Impfstoffen 2014 das Hormon HCG nachgewiesen zu haben. Die Kombination mache Frauen angeblich unfruchtbar. Die Kirche hatte sechs Ampullen in Laboren untersuchen lassen. In dreien sei angeblich das Hormon gefunden worden.
An den Vorwürfen war jedoch nichts dran. Wie die Faktenchecker von Africa-Check 2017 berichteten, bezeichneten Labore, die mit der Untersuchung der ersten Proben beauftragt worden waren, ihre eigenen Analysen als fehlerhaft.
Die Kirche habe die Ergebnisse falsch interpretiert, sagte der Leiter eines der Labore, Ahmed Kalebi, laut einem Medienbericht. Die Proben seien seinem Labor als menschliches Gewebe präsentiert worden, nicht als Impfstoff – daher seien unpassende Testmethoden angewendet worden. Ähnlich äußerte sich ein weiterer Laborleiter, Andrew Gachii, laut einem Bericht von Business Daily.
WHO und Kenias Gesundheitsministerium widersprachen dem Vorwurf
In einer Pressemitteilung schrieb die WHO 2014, man sei besorgt über Misinformation über die Tetanus-Impfungen. Der Impfstoff sei sicher. „Es ist kein HCG-Hormon in Tetanus-Impfstoffen.“ Der Impfstoff sei seit 40 Jahren im Einsatz, habe zu einer Verbesserung der Überlebensrate von Neugeborenen geführt, und es gebe keine Anzeichen, dass die Impfung Frauen oder Föten schade.
Das kenianische Gesundheitsministerium schrieb in einer Pressemitteilung 2017, man habe nach den Vorwürfen ein Expertenkomitee eingerichtet, um die Tetanus-Impfstoffe zu testen. Es seien Impfstoff-Proben gesammelt worden, um, sie untersuchen zu lassen. Dabei sei festgestellt worden, dass sie sicher und frei von Verunreinigungen seien.
Und auch Matercare International (ein Verband katholischer Gynäkologen und Geburtshelfer) erklärte 2015 in einer Pressemitteilung, die erste Untersuchung der Impfstoff-Proben in Kenia sei fragwürdig gewesen, da ungeeignete Testmethoden verwendet worden seien. Selbst wenn HCG vorhanden gewesen wäre, hätte die Dosierung nicht ausgereicht, um einen Verhütungseffekt zu haben.
Und: „Wenn Tetanus-Impfungen, die an Millionen Frauen in vielen Ländern vergeben wurden, in der Lage wären, Unfruchtbarkeit hervorzurufen, gäbe es inzwischen reichlich demografische Daten, die das bestätigen. Wir wissen von keinen Daten dieser Art.“ (Der Link zur Pressemitteilung, der von Africa Check genutzt wurde, funktioniert nicht mehr, ist aber archiviert verfügbar.)
3. Behauptung: Nach einer Impfkampagne von Bill Gates sei es in Indien bei mehr als 450.000 Kindern zu Impfschäden gekommen.
Für die Behauptung, nach einer Impfkampagne von Bill Gates hätten mehr als 450.000 Kinder Schäden erlitten, gibt es keine Belege. Es werden erneut keine konkrete Angaben gemacht, sie bezieht sich aber mutmaßlich auf irreführende Informationen über Polio-Impfungen in Indien, die seit Jahren im Netz kursieren. Angeblich sollen die Impfungen Lähmungen bei tausenden Kindern verursacht haben.
Poliomyelitis (kurz: Polio) ist eine Viruskrankheit, die vor allem Kinder unter fünf Jahren betrifft. Zur Ausrottung von Polio wurde unter anderem von der WHO und Unicef 1988 die Global Polio Eradication Initiative gegründet, der sich später auch die Bill & Melinda Gates Stiftung angeschlossen hat. Ein wichtiger Baustein ihrer Strategie war die Immunisierung der Bevölkerung durch Impfungen. Genutzt wurde dafür vor allem ein oraler Impfstoff (Schluckimpfung).
Die Polio-Fallzahlen weltweit sind in der Folge dieser Bemühungen laut WHO um über 99 Prozent gesunken, von schätzungsweise 350.000 Fällen im Jahr 1988 auf 175 gemeldete Fälle im Jahr 2019.
Viren aus Polio-Impfstoffen können mutieren
In seltenen Fällen könne es dazu kommen, dass das Impfstoff-Virus, das in abgeschwächter Form in oralen Impfstoffen vorhanden ist, selbst Lähmungen auslöst, erklärt die WHO. Die Viren würden von den geimpften Menschen ausgeschieden – und wenn sie in Gemeinschaften ohne Immunität zirkulieren, können sie mutieren und zur Gefahr werden. Man spricht dann von „circulating vaccine-derived poliovirus“ (cVDPV).
Die Fallzahlen sind jedoch gering. Laut den Daten der Polio Eradication Initiative gab es 2020 weltweit bisher 81 Fälle „wilder Polio“ und 194 Fälle von „Impfstoff-Polio“ (Stand: 9. Juli 2020). Als „wilde Polioviren“ werden normale Polioviren bezeichnet, die nicht aus Impfstoffen stammen.
Insgesamt 17 Fälle von „Impfstoff-Polio“ in Indien seit 2009
Indien führte ab 1995 Impfungen im Rahmes des „Pulse Polio“-Programms durch und wurde 2014 von der WHO für „poliofrei“ erklärt. Laut Datenportal der WHO trat der letzte Fall wilder Polio in Indien 2011 auf. Die Daten zeigen, dass in Indien bisher insgesamt nur 17 Fälle von cVDPV dokumentiert wurden (alle 2009 und 2010).
Woher kommt also die angebliche Zahl von „über 450.000 Kindern mit Impfschäden“? Sie beruht mutmaßlich auf einer irreführenden Interpretation einer Studie von August 2018. Darin geht es um Fälle von Lähmungen ohne Nachweis von Polio zwischen 2000 und 2017 in Indien (Nonpolio Acute Flaccid Paralysis, NPAFP).
Die Wissenschaftler merkten an, diese Zahl liege 491.000 Fälle höher als normalerweise zu erwarten wäre und spekulieren, ob es einen Zusammenhang mit den oralen Polio-Impfstoffen geben könnte. Für einen Nachweis sei aber mehr Forschung nötig.
Keine Belege für Zusammenhang von AFP-Fällen mit Polio-Impfung
Ein Zusammenhang könnte allenfalls indirekt sein, denn in diesen 491.000 Fällen wurden explizit keine Polioviren nachgewiesen – das sagt bereits der Begriff „Nonpolio Acute Flaccid Paralysis“. Es waren also weder wilde Polioviren noch Impfstoff-Viren vorhanden.
Acute Flaccid Paralysis (AFP) ist definiert als eine Lähmung mit unbekannter Ursache, bei der Polio-Verdacht besteht (PDF, Seite 12). Wird ein AFP-Fall in Indien registriert, werden Stuhlproben im Labor auf Polioviren hin analysiert. Dabei wird auch untersucht, ob Impfstoff-Polio nachweisbar ist (PDF, Seiten 29 und 31). So steht es auch auf der Webseite der Polio Eradication Initiative.
Für die Behauptung, es habe „450.000 Impfschäden“ durch Impfungen in Indien gegeben, gibt es demnach keine Belege. Die WHO hat auch eine andere Erklärung für den Anstieg der registrierten AFP-Fälle: Als Indien sich dem Status „poliofrei“ näherte, sei die Definition von AFP breiter gefasst worden, um sicherzugehen, dass keine Polioviren mehr zirkulierten, schreibt uns die WHO-Pressestelle per E-Mail. „Als Resultat wurden viel mehr AFP-Fälle klassifiziert.“
4. Behauptung: Bill Gates wolle durch Impfungen eine Reduktion der Weltbevölkerung um 15 Prozent erreichen.
Die Behauptung, Bill Gates wolle die Weltbevölkerung durch Impfungen um 15 Prozent reduzieren, ist, wie die anderen, mehrere Jahre alt und wird oft wiederholt. Sie ist jedoch falsch. Wie wir bereits 2017 in einem Faktencheck recherchiert haben, beruht sie auf einer verzerrten Interpretation eines Zitat von Bill Gates. Bei einem Vortrag von 2010 sagte Gates (etwa ab Minute 4:20):
„Zuerst haben wir die Bevölkerung. Heute leben 6,8 Milliarden Menschen auf der Welt. Es geht auf etwa 9 Milliarden zu. Wenn wir sehr erfolgreich mit neuen Impfstoffen, der Gesundheitsversorgung und Reproduktionsmedizin sind, könnten wir das wohl um 10 Prozent bis 15 Prozent senken, aber zur Zeit sehen wir eine Steigung um 1,3.“
Gates sprach also von einer Reduktion des Bevölkerungswachstums – nicht davon, die aktuelle Bevölkerung zu dezimieren. Auf der Webseite der Bill & Melinda Gates Foundation heißt es explizit, die Stiftung wolle mit Impfungen und anderen Gesundheitsprogrammen in Entwicklungsländern Leben retten.
Wie das nach Ansicht von Gates mit einem langsameren Bevölkerungswachstum zusammenhängt, erklärt ein Schreiben der Stiftung von 2009. Darin steht: „Eine überraschende Erkenntnis war für uns, dass die Verringerung der Zahl der Todesfälle das Bevölkerungswachstum tatsächlich reduziert. […] Im Gegensatz zur malthusianischen Sichtweise, dass die Bevölkerung wächst, solange Kinder ernährt werden können, bekommen Eltern tatsächlich so viele Kinder, dass die Chancen hoch genug sind, dass einige von ihnen überleben, um sie im Alter zu unterstützen. Wächst die Zahl der Kinder, die das Erwachsenenalter erreichen, können Eltern dieses Ziel erreichen, ohne so viele Kinder zu bekommen.“