Nein, die Grippe ist nicht plötzlich „verschwunden“
Eine Statistik, die auf Facebook verbreitet wird, erweckt den Eindruck, die Weltgesundheitsorganisation habe seit Beginn der Corona-Pandemie weltweit keine Grippefälle mehr verzeichnet. Das stimmt nicht, es werden weiterhin Grippefälle registriert.
Auf Facebook kursiert eine Grafik, die angeblich belegt, dass es weltweit seit Beginn der Corona-Pandemie keine Grippefälle mehr gebe. Auch auf dem inoffiziellen Telegram-Kanal „Ken Jebsen – Aufklärung und Information“ tauchte die Grafik auf und wurde dort mehr als 87.000 Mal gesehen. Auf Facebook wurde sie in einem Beitrag von Michael Spitzbart verbreitet und mehr als 3.300 Mal geteilt.
Für das vermeintliche Rätsel der angeblich verschwundenen Influenza (Grippe) wird im Text von Spitzbart eine Erklärung vorgeschlagen: „Seit April ist das Influenza-Virus auf wundersame Weise vom Erdboden verschwunden. Mögliche Erklärung: Influenza-Kranke haben ein neues Etikett bekommen und laufen alle unter Covid-19.“
Die Grafik stammt zwar von einer offiziellen Quelle, der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie beweist jedoch weder, dass es keine Influenza-Fälle mehr gibt, noch dass Influenza-Patienten jetzt als Covid-19-Patienten erfasst würden.
Die im Beitrag verwendete Statistik wurde offenbar auf einer Datenbank erstellt, die die WHO online zur Verfügung stellt. Lässt man sich dort die Influenza-Fälle für das Jahr 2020 anzeigen, fällt auf: Seit der 16. Kalenderwoche (13. bis 19. April) wurden im Vergleich zu den Wochen davor sehr wenige Influenza-Fälle gemeldet.
In der Regel steigen die Fallzahlen nach Jahresende (im Winter) und gehen im Frühsommer wieder stark zurück. Das liegt laut einer Informationsseite des Robert-Koch-Instituts (RKI) daran, dass Influenza-Viren „bei niedrigen Temperaturen und in trockener Luft stabiler“ seien. „Außerdem wird vermutet, dass die Schleimhaut der oberen Atemwege bei trockener Luft anfälliger für eine Infektion und das Immunsystem im Winter weniger schlagkräftig ist als im Sommer.“ Auch dass sich im Winter mehr Menschen in schlecht belüfteten Räumen aufhalten, trage zum Anstieg der Influenza-Fälle in den kalten Monaten bei.
WHO verzeichnete im Sommer 2020 weniger Grippefälle als in den Vorjahren
Vergleicht man die Entwicklung in den letzten drei Jahren, ist zu erkennen, dass die Influenza-Zahlen kurz nach dem Jahreswechsel bis Frühjahr stets stark ansteigen, aber auch Fälle in den Sommermonaten zu erkennen sind.
Im Herbst und Winter 2020 ist in der Grafik bisher kein sichtbarer Anstieg der Influenza-Fälle zu erkennen; es wirkt, als lägen die Fälle seit dem Sommer bei Null.
Dass die Grippe schlagartig komplett verschwunden wäre, ist jedoch nicht korrekt. Das zeigt sich, wenn man im WHO-Tool den anzuzeigenden Zeitraum verringert und sich nur die Sommermonate anzeigen lässt.
Robert-Koch-Institut: Kurze Grippesaison mutmaßlich wegen Kontaktbeschränkungen
Das Robert-Koch-Institut (RKI) stellt ein ähnliches Tool wie die WHO zur Verfügung, mit dem man sich die Statistik der Grippefälle für Deutschland anzeigen lassen kann. Hier ergibt sich für das Jahr 2020 ein ähnliches Bild wie weltweit: Seit der 15. Kalenderwoche (6. bis 12. April) wurden vergleichsweise wenige Influenza-Fälle gemeldet.
Im Epidemiologischen Bulletin des RKI vom 16. April heißt es, dass „eine um mindestens 2 Wochen kürzere Dauer der Grippewelle auffällig“ geworden sei. Das RKI vermutete „die bundesweiten Maßnahmen zur Eindämmung und Verlangsamung der Covid-19-Pandemie in Deutschland“ als Ursache. Besonders die Schulschließungen ab der zwölften Kalenderwoche (16. bis 22. März) dürften laut RKI zur Verkürzung der Grippewelle beigetragen haben, da Kinder wesentliche Verbreiter des Influenza-Virus seien. (Seite 2 im Bulletin).
Der erste Corona-Fall in Deutschland wurde am 27. Januar gemeldet. Ab dem 22. März galten in Deutschland Kontaktbeschränkungen, die oft als „Lockdown“ bezeichnet werden.
Werden Grippefälle als Corona-Fälle gemeldet?
Für eine frühere Recherche, in der es ebenfalls um die angeblich verschwundenen Influenza-Fälle ging, schrieb uns das RKI per E-Mail: „Die Influenzasaison war kurz nach Einführung der bundesweiten Maßnahmen zur Eindämmung und Verlangsamung der Covid-19-Pandemie in Deutschland beendet (KW 12)“.
Laut RKI sind Doppelinfektionen – also Menschen, die gleichzeitig mit dem Coronavirus und Influenza infiziert waren – zudem selten. Daher könnten Menschen mit einer solchen Doppelinfektion auch nur in Einzelfällen als Corona-Tote gezählt werden.
Das Statistische Bundesamt teilte uns außerdem mit: „Bei einer vorliegenden Doppeldiagnose (Influenza und Covid-19) wird NICHT automatisch das eine durch das andere ersetzt, sondern es wird diejenige Erkrankung zugrunde gelegt, die letzten Endes tödlich war. Das ist im Einzelfall nicht unbedingt klar voneinander zu trennen, einen Automatismus bei der Zuordnung der Todesursachen gibt es hingegen nicht.“
RKI: Niedrige Grippezahlen in Deutschland sind im Sommer und Herbst normal
Wir haben die WHO und das RKI gefragt, weshalb seit Beginn der Corona-Pandemie weniger Influenza-Fälle registriert wurden.
Das RKI antwortete uns auf eine E-Mail-Anfrage, dass es für Deutschland normal sei, dass im Herbst nur wenige Grippefälle auftreten würden. „Die Grippewelle beginnt üblicherweise nach der Jahreswende. Dass derzeit noch eher wenig Fälle verzeichnet werden, passt daher ins Bild. Aber es ist auch davon auszugehen, dass die Kontaktbeschränkungen einen Effekt haben“, schrieb Susanne Glasmacher, Pressesprecherin des RKI.
Die Daten des RKI bestätigen diese Aussage. Lässt man sich die Jahre 2016 bis 2020 nach Meldewoche im Tool anzeigen, ist deutlich zu sehen, dass in den letzten fünf Grippesaisons nach der 17. Kalenderwoche (in diesem Jahr war das die Woche vom 20. bis 26. April) regelmäßig nur noch sehr wenige Grippefälle in Deutschland gemeldet wurden. Erst kurz vor oder nach dem Jahreswechsel steigen die Zahlen wieder.
Auch WHO vermutet, dass Maßnahmen gegen das Coronavirus die Grippewelle gedämpft haben
Auch die WHO schrieb uns via E-Mail, dass es momentan eine geringere Anzahl von Influenza-Fällen gebe. Wie auch das RKI vermutet die WHO die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie als Ursache dafür.
In dem Beitrag auf Facebook wird auch die Frage aufgeworfen, weshalb zur Grippeimpfung aufgerufen werde, wo doch die Krankheit „augenscheinlich gar nicht mehr existiert“.
Sebastian Gülde, ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums erklärt dazu, dass davon ausgegangen werden müsse, „dass das Covid-19-Infektionsgeschehen im Winter weiter zunimmt. […] Ziel der Bundesregierung ist es deshalb – soweit es geht – zu verhindern, dass wir parallel dazu auch noch viele Grippefälle haben, damit die Krankenhäuser nicht überlastet werden“.
Gülde betont außerdem, dass sowohl Covid-19 als auch die Grippe „besonders für ältere Menschen und chronisch kranke Menschen gefährlich“ sei und beide die Lunge angreifen würden, was gegebenenfalls zu notwendigen Beatmungsmaßnahmen auf Intensivstationen führe. „Wenn also viele Covid-19-Fälle und viele Grippefälle gleichzeitig auftreten, steht zu befürchten, dass das Gesundheitssystem sehr schnell überlastet ist.“
Fazit
Dass die Grippe plötzlich „verschwunden“ sei und die Erkrankung jetzt unter Covid-19 laufe, wie es in dem Facebook-Beitrag gemutmaßt wird, stimmt nicht. Das weiß vermutlich auch Michael Spitzbart, denn er schreibt: „Unter uns Pastorensöhnen und -töchtern: selbstverständlich existiert die Influenza-Grippe weiterhin. Derzeit ist aber ausschließlich SARS-CoV-2 in unserem Bewusstsein.“
Dass die Influenza im Sommer und Herbst viel weniger präsent ist, ist ein jährlich wiederkehrender Rhythmus: Zu diesen Jahreszeiten gibt es in Deutschland kaum Grippefälle und auch weltweit sind die Grippezahlen zwischen Frühsommer und Jahresende niedrig. WHO wie auch RKI bestätigen jedoch, dass es aktuell weniger Grippefälle gibt als sonst. Als Ursache werden die Maßnahmen gegen Covid-19 vermutet.
Redigaturen: Sarah Thust, Alice Echtermann
Update, 8. Dezember: In der ersten Version dieses Artikels hatten wir geschrieben, die Behauptung sei im Telegram-Kanal des Bloggers Ken Jebsen aufgetaucht. Wir haben das korrigiert: Der Telegram-Kanal „Ken Jebsen – Aufklärung und Information“ ist nach Angaben von KenFM inoffiziell.
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck: