Der Inzidenzwert wird nicht „falsch“ berechnet, aber es gibt Kritik daran, ihn als einzigen Maßstab zu nutzen
In einem viralen Video behauptet ein Mathematikstudent, der Inzidenzwert enthalte einen „Fehler in der Berechnung“. Wir erklären, weshalb die alternative Methode, die er vorschlägt, nicht besser geeignet ist, an seiner grundsätzlichen Kritik aber etwas dran ist.
Ist der Inzidenzwert so, wie er aktuell berechnet wird, „nutzlos“? Diese These stellt ein junger Mathematikstudent aus Bayerisch Gmain am 10. März in einem Video auf, das sich viral in Sozialen Netzwerken verbreitet. Er kritisiert, der Inzidenzwert beziehe die Anzahl der durchgeführten Tests in einer Region nicht mit ein: Bei Landkreisen mit gleich hohem Anteil von Corona-Fällen pro Einwohner hätten angeblich diejenigen eine höhere Inzidenz, die mehr testen würden. Er schlägt daher eine alternative Berechnungsmethode vor.
„Ich versuche, in diesem Video kurz zu beschreiben, warum der für uns alle so wichtige Inzidenzwert derzeit mathematisch falsch berechnet wird, und wie man es besser machen könnte“, schrieb er zu seinem Video auf Youtube. „Gravierende Auswirkungen hat das insbesondere für Grenzlandkreise, die deutlich mehr testen als der deutsche Durchschnitt.“
Mehrere Medien berichteten darüber, zuerst die Lokalzeitung Traunsteiner Tagblatt am 15. März und kürzlich auch der Merkur und Focus Online. Inzwischen ist das Originalvideo auf Youtube nicht mehr vorhanden; es wurde offenbar vom Urheber entfernt. Kopien kursieren jedoch immer noch im Netz, mit Titeln wie „Lockdown beruht auf Rechenfehler – Merkel, setzen, sechs!“. Diese Formulierungen sind nach Recherchen von CORRECTIV.Faktencheck irreführend.
Der Inzidenzwert beinhaltet keinen „Rechenfehler“. Dennoch ist an der Kritik grundsätzlich etwas dran. Denn es gibt bei der Inzidenz ein Problem: die lückenhafte Datengrundlage bei den Testzahlen. Forschende stellen auch schon länger die Frage, ob der Inzidenzwert als einziger Indikator für die Pandemie-Lage in Deutschland herangezogen werden sollte. Die alternative Berechnungsmethode, die der Student vorschlägt, ist aber auch nicht besser geeignet. Denn ihr liegt eine falsche Annahme zugrunde.
Was ist der Inzidenzwert?
Die 7-Tage-Inzidenz beschreibt die Anzahl der neu gemeldeten, mit einem PCR-Test bestätigten Corona-Fälle pro 100.000 Einwohner in einem Zeitraum von sieben Tagen. Sie wird folgendermaßen berechnet: Man addiert alle neuen Fälle in einer Region über sieben Tage. Man teilt sie durch die Einwohnerzahl und multipliziert den Wert mit 100.000. So lässt sich eine Inzidenz auf 100.000 Einwohner für verschiedene Städte, Landkreise, Bundesländer und auch bundesweit berechnen. Der Wert schafft eine Vergleichbarkeit für Regionen mit unterschiedlich hoher Einwohnerzahl.
Überschreiten die neuen Fälle pro 100.000 Einwohner bestimmte Grenzwerte, ist das mit strengeren Corona-Schutzmaßnahmen verknüpft, wie genau das geregelt ist, kann in jedem Bundesland unterschiedlich sein. Den Grund hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 6. Mai 2020 in einer Pressekonferenz erklärt: Man arbeite mit dem Schwellenwert von 50 neuen Fällen pro 100.000 Einwohnern, weil man glaube, bei dieser Menge die Infektionsketten noch nachverfolgen zu können.
Es gibt jedoch immer wieder Kritik an der Fokussierung auf den Inzidenzwert. Laut verschiedenen Medienberichten (hier, hier oder hier) kritisierten Expertinnen und Experten, dass er als einziger Parameter für die Corona-Maßnahmen herangezogen wird. Der Spiegel zitierte im November 2020 den Epidemiologen Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, der sagte, man sollte auch auf die Zahl der freien Intensivbetten oder die Altersverteilung der Fälle schauen. Bei den Neuinfektionen handele es sich zudem um Laborbefunde – und deren Häufigkeit sei stark abhängig davon, wer wie getestet werde.
Haben Regionen, die mehr testen, eine höhere Inzidenz?
Der Mathematikstudent aus Bayerisch Gmain kritisiert etwas Ähnliches: Als „mathematisches Problem“ bezeichnet er, dass die Anzahl der insgesamt an einem Ort durchgeführten Tests bei der Inzidenzberechnung nicht einbezogen wird (ab Minute 1:29). Wenn es in zwei Landkreisen gleich viele Infektionen gäbe, dann würden in dem Kreis, in dem mehr getestet wird, mehr positive Fälle entdeckt und die Inzidenz liege höher, behauptet er.
Am Beispiel des Berchtesgadener Lands erklärt er seine alternative Berechnungsmethode. Er geht davon aus, dass bundesweit pro Woche etwa 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung getestet werden. Im Berchtesgadener Land sei dagegen viel mehr getestet worden: 6,4 Prozent der Bevölkerung (6.817 Tests). 1,2 Prozent der Tests dort seien positiv gewesen (Positivenquote) und die offizielle Inzidenz liege bei 78,3.
Er schlägt vor, sich bei der Berechnung der Inzidenz an dem bundesweiten Durchschnitt der durchgeführten Tests zu orientieren, den genannten 1,5 Prozent. So ergebe sich für das Berchtesgadener Land eine Inzidenz von 18 – diese Zahl sei die „korrigierte Inzidenz“, behauptet der Student. Die Inzidenzwerte verschiedener Landkreise seien mit seiner Methode besser vergleichbar, weil die Anzahl der dort jeweils durchgeführten Tests keine Rolle mehr spiele.
Laut der Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation liegt in dem Video aber ein grundlegender Denkfehler vor.
Die Positivenquote ist nicht immer gleich
Priesemann kritisierte am 14. März auf Twitter, im Video werde davon ausgegangen, dass die Bevölkerung zufällig auf Covid-19 getestet wird. Das sei falsch – es werde bei konkretem Verdacht wie Krankheitssymptomen, einem positiven Schnelltest oder Kontakt zu einem Infizierten getestet. So steht es auch in der Nationalen Teststrategie.
Die Annahme des Studenten, dass die Positivenquote der Tests in einem Landkreis immer gleich hoch wäre, egal, wie viele Menschen man dort testet, ist also falsch. Eine Positivenquote von 1,2 Prozent bedeutet nicht, dass 1,2 Prozent aller Menschen im Berchtesgadener Land mit dem Coronavirus infiziert sind.
Priesemann schrieb auf Twitter: „Das Video hört sich logisch an, macht aber eine falsche Annahme. Und also ist die Schlussfolgerung falsch.“ Die Möglichkeit, dass in einer Region mehr getestet wird, weil es dort mehr Verdachtsfälle gibt, werde komplett ausgeblendet.
Außerdem schrieb sie: „Nach der Rechnung in dem Video könnte man die Inzidenzen im Landkreis ganz einfach drücken: Man mache für jeden Test auf Verdacht einen Test bei Personen, die sehr wahrscheinlich negativ sind (oder einen Zufallstest). Schon ist die Inzidenz (fast) halbiert.“
Am 25. März hat der Student sich noch einmal auf Facebook zu Wort gemeldet und geschrieben, er wolle sich davon distanzieren, dass sein Video „von Verschwörungstheoretikern und populistischen Parteien“ aufgegriffen worden sei. Er habe aber auch viele konstruktive Zuschriften erhalten. „Nochmal möchte ich betonen, dass ich mit meinem Vorschlag keine ‘richtige Lösung’ aufzeigen wollte.“ In der Statistik gebe es immer nur eine Annäherung an die Realität. „Die vereinfachte Annahme mit gleich bleibender Infektionswahrscheinlichkeit in dem Beispiel im Video stimmt nicht mit der Realität überein (Stichwort Teststrategie).“ Sein Vorschlag habe natürlich „Verbesserungspotential“.
Das Video greife aber ein wichtiges Thema auf, erklärte Viola Priesemann. „Vermehrtes Testen wird kurzfristig ‘bestraft’, denn man entdeckt mehr der Infektionsketten. Langfristig lohnt es sich aber, denn es stoppt die Ketten.“ Als Lösung schlug sie ein „Screening“ vor, „also rund 100.000 Zufallstests, die jede Woche ein objektives Bild des Ausbruchsgeschehens liefern“.
Die Entwicklung der Fallzahlen hängt mit Testzahlen zusammen, lässt sich aber nicht allein damit erklären
Auch das Robert-Koch-Institut (RKI) sieht einen Zusammenhang zwischen der Teststrategie und der Anzahl der gemeldeten Infektionen. Veränderungen der Teststrategie – zum Beispiel das Testen von Reiserückkehrern – oder eine Erhöhung der Testzahlen können Auswirkungen auf die Fallzahlen haben, darauf weist das RKI auf seiner Webseite hin („Welchen Zusammenhang gibt es generell zwischen erhöhten Testzahlen und erhöhten Fallzahlen?“).
In den vergangenen Monaten wurde in Sozialen Netzwerken deshalb behauptet, ein Anstieg oder Absinken der Fallzahlen sei allein durch mehr oder weniger Tests zu erklären. Das ist wiederum nicht richtig – auch darauf weist das RKI hin. Zuletzt waren bundesweit 7,91 Prozent der PCR-Tests positiv und damit deutlich weniger als Anfang Januar (10,44 Prozent), obwohl damals weniger Tests pro Woche dokumentiert wurden (Stand: 24. März). Das RKI schreibt dazu: „Je höher der Positivenanteil bei gleichzeitig anhaltend hohen Fallzahlen ist, desto höher wird die Anzahl unerkannter Infizierter in einer Population geschätzt (Untererfassung).“ (PDF, Seite 11-12)
Meldung der SARS-CoV-2-Testzahlen ist für Labore freiwillig
Die Zahl der wöchentlich durchgeführten Tests und deren Positivenquote, die das RKI immer mittwochs in seinen Lageberichten veröffentlicht, erlauben aber nur eine grobe Orientierung. Sie sind nicht vollständig.
Es gibt stets einen gewissen Rückstau von Proben in den Laboren. Die begrenzten Laborkapazitäten haben auch Einfluss auf die Teststrategie; sind sie überlastet, fokussiert man sich auf Menschen mit Symptomen und konkrete Verdachtsfälle (PDF, Seite 13).
Zudem gibt es laut RKI für Labore keine Pflicht, die Zahl ihrer Tests zu melden. Insgesamt haben sich aktuell 259 Labore in Deutschland für die Testzahlerfassung registriert (PDF, Seite 9-10). Die Zahl der wöchentlich meldenden Labore schwankte jedoch seit der 12. Kalenderwoche 2020 zwischen 154 und 213. Die genauen Daten stellt das RKI hier als Excel-Tabelle zur Verfügung (Stand 24. März). Nur 74 Labore melden im Rahmen eines Surveillance-Systems derzeit noch weitere Daten an das RKI, aus denen sich Testzahlen, Altersgruppen und Positivenquoten für einzelne Bundesländer ableiten lassen (PDF, Seite 12-13).
Ein vollständiges Bild ist mit diesen Daten also nicht möglich. Wenn die Zahl der Tests pro Woche im Lagebericht des RKI zu- oder abnimmt, ist unklar, was genau der Grund dafür ist – weniger meldende Labore, andere Labore, tatsächlich weniger Tests oder weniger Corona-Verdachtsfälle? Das RKI weist in seinem Lagebericht selbst darauf hin: „Die hier veröffentlichten aggregierten Daten erlauben keine direkten Vergleiche mit den gemeldeten Fallzahlen.“
Kritik am Inzidenzwert als alleinigem Maßstab
Die Berechnungsmethode in dem Video des Mathematikstudenten ist keine gute Alternative zur 7-Tage-Inzidenz. Dennoch gibt es vielfach Kritik daran, die Corona-Maßnahmen allein nach dem Inzidenzwert auszurichten. Unter anderem deshalb, weil nicht bekannt ist, wie viele PCR-Tests pro Woche wirklich durchgeführt werden.
Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung ist einer dieser Kritiker. Auf unsere Anfrage hin verwies er uns auf zwei Sachverständigengutachten, die er für den Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestags verfasst hat – im November 2020 für die Anhörung zum „Dritten Bevölkerungsschutzgesetz“ und dann noch einmal im Februar 2021.
Im ersten Gutachten schrieb Krause: „Die alleinige Reduktion der Lageeinschätzung auf einen einzigen Messwert, wie hier vorgesehen, ist epidemiologisch nicht begründbar und entspricht nicht dem Stand der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz.“ Dadurch würden viele Faktoren nicht berücksichtigt, wie die Altersverteilung der Fälle, der Anteil schwerer und leichter Erkrankungen oder die Anzahl der Menschen im Krankenhaus (Seite 6).
In dem neueren Gutachten ging der Epidemiologe auf das Problem der Testzahlen ein: „Durch die im Dritten Bevölkerungsschutzgesetz beschlossene Koppelung von Maßnahmen an einen einzigen Indikator, nämlich alleinig den Inzidenzwert der Fallmeldungen, hat der Gesetzgeber die Exekutive in Abhängigkeit eines Messwertes gegeben, der nachweislich keine konstante Messgrundlage hat“, schrieb er. „Zur sachgerechten Bewertung der Fallmeldezahlen ist zusätzlich mindestens notwendig, einen Referenzwert über die Zahl der überhaupt durchgeführten Tests zu erheben.“
Krause schlägt als Lösung eine wöchentliche Meldepflicht für durchgeführte PCR-Tests vor. Die Meldungen sollten die Altersgruppe und die Postleitzahl der getesteten Person enthalten. So könne man „die strategiebedingten Schwankungen der Testaktivitäten korrigieren“.
Auf Nachfrage teilte ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums, Oliver Ewald, uns per E-Mail mit: „Eine Verpflichtung zur einheitlichen Erhebung der durchgeführten PCR-Tests ist nicht geplant. Die Nationale Teststrategie gibt bundesweit einheitliche Empfehlungen dazu, welche Personen auf SARS-CoV-2 getestet werden sollten.“ Über die 7-Tage-Inzidenz hinaus analysiere das RKI verschiedene Datenquellen, „um die Lage in Deutschland so genau wie möglich erfassen und einschätzen zu können“. Dazu zählten neben den Meldedaten auch Informationen aus Überwachungssystemen, wie dem für Influenza, oder Projekten und Studien. Auch die Anzahl der Covid-19-Patienten auf Intensivstationen werde erfasst. „Alle Informationen werden gemeinsam bewertet und im täglichen Situationsbericht veröffentlicht.“
Update, 26. März 2021: Wir haben die Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf unsere Presseanfrage ergänzt.
Redigatur: Matthias Bau, Sarah Thust
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Bericht: