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Wenn Dich Dein Mann verprügelt

Wieder und wieder misshandelt Stefan seine Freundin Anja. Wieder und wieder kehrt sie zu ihm zurück. Warum? Anjas Mutter sagt: „Ich habe das Gefühl, auf unserer Stirn steht: Bitte schlag mich.“ Stimmt das?

von Janine Engeleiter

© Ivo Mayr

Diese Recherche wurde ermöglicht durch ein Crowdfunding und erscheint auch in der Wochenzeitung „Der Freitag“

Der Sommer 2010 leuchtet noch. Ihre Liebe ist eifrig und jung. In einem Auto fährt die 19-jährige Anja, so soll sie hier heißen, an Stefan, auch sein Name ist verändert, vorbei. Da sieht er sie das erste Mal. Schnell findet er heraus, wer sie ist, was sie macht, wo sie wohnt. Nur 71.000 Einwohner hat Brandenburg an der Havel, da bekommt man so was schnell heraus. Sie findet es süß, dass er durch die Stadt zieht und nach ihr fragt. Sie lässt sich auf ihn ein. Beide tragen ein Piercing in der Lippe, beide lieben lange Party-Nächte, sie fühlen sich frei.

Jetzt aber ist Anja schnippisch. Sie stichelt. Selbstbewusst ist sie in ihrer Berliner Mundart. Das passt Stefan nicht. Anja kellnert in einem bekannten Restaurant. Der Job macht ihr Spaß, ihre grünen Augen strahlen. Stefan schraubt an Autos herum, brennt, schweißt, lötet. Seine Hände sind von der Arbeit so schmutzig, dass es scheint, sie werden nie sauber, auch wenn er sie noch so sehr schrubbt. Er ist sieben Jahre älter und viele Zentimeter größer als sie. Sie sind seit drei Monaten zusammen. Anja ist schwanger. Verhält sie sich deshalb so anders ihm gegenüber, so provokant? Eines Abends nimmt Stefan ihr Handy und liest einen Geburtstagsgruß an ihren Ex-Freund. Sie streiten, lauter und lauter, bis er sich vergisst. Er greift nach ihrem Staffordshire Bullterrier und schleudert ihn durch das Zimmer, gegen ihren Bauch.

Auf der Flucht

Etwas stimmt mit diesem Mann nicht, denkt sie danach: Denkt: Er ist gewalttätig. Haben das nicht auch die anderen gesagt, die von seinen Eskapaden gehört hatten? Sie haben mich gewarnt. Er will mir wehtun, wie seiner Ex. Er kennt keine Grenzen. Sie will es nicht glauben. Sie kennt ihn doch auch anders. In den folgenden Monaten gehen sie mehrfach auseinander und finden wieder zusammen. Irgendwann werden ihr Krach und Gewalt zu anstrengend. Die gemeinsame Zukunft, die sie sich ausgemalt hat, sie ist nicht mehr bunt. Sie will weg von ihm. Im Dezember geht sie zusammen mit ihrer Mutter nach Dortmund, ihre Tante lebt dort,  eine Wohnung ist schnell gefunden. Ihre Mutter hält zu ihr und bestärkt sie. Sie ist selbst jahrelang misshandelt worden von ihrem Mann, von Anjas Vater. Sie weiß, wie das ist.

Anja will neu anfangen. Und begeht die nächste Torheit: Fragt Stefan, ob er den Transporter mit den Möbeln nach Dortmund fahren könne. Ja. Er bleibt ein paar Tage und sieht sich gleich noch eine Wohnung im Haus gegenüber an. Als sie einige Tage später beim Dortmunder Arbeitsamt ansteht, sieht sie ihn dort. Verfolgt er sie? Sie schickt ihn zurück. Schon nach kurzer Zeit hat sie Heimweh. Die neue Wohnung, die neue Stadt, alles fühlt sich falsch an. Sie sehnt sich nach bekannten Orten und vertrauten Gesichtern. Wieder packt sie ihre Sachen. Am Ende ist es fast wie eine Flucht: Sie lässt alles, was sie nicht braucht, im Ruhrpott und kommt bei einer Freundin daheim in Brandenburg unter. Die aber will den Stafford nicht zu Hause haben. Anja nimmt Kontakt zu Stefan auf und übergibt ihm den Hund. Als sie bald darauf eine Wohnung findet, verlangt sie ihn zurück. Doch Stefan hat den Kampfhund verkauft. Wie bitte? Sie ist allein. Sie steht kurz vor der Entbindung. Stefan nähert sich ihr ein weiteres Mal, mit fürsorglichen Akkorden. Rosen am Auto, Liebesbekundungen, Versprechen. Er will Anja zurück, er will der Vater ihres Kindes sein. Und auch sie träumt von einem Leben zu dritt, von einer intakten Familie.

Was ist häusliche Gewalt?

Was häusliche Gewalt sein kann, dafür gibt es  verschiedene Definitionen: Stalking oder Körperverletzung, Sachbeschädigung oder Raub, Vergewaltigung oder Kindesmisshandlung – in jedem Bundesland wird häusliche Gewalt anders gefasst, werden die Statistiken anders geführt. Mal findet sie nur zwischen (Ex-)Partnern statt, mal umfasst sie auch nahe Verwandte oder Kinder. Mal betrifft sie nur das, was im Haus geschieht, hinter der Wohnungstür, mal auch den Arbeitsplatz oder Supermarkt. Das macht es fast unmöglich, aus den bundesweiten Daten eine Tendenz abzulesen. Wird in Partnerschaften heute mehr geprügelt als vor zehn, zwanzig, dreißig  Jahren? Oder weniger? Wir wissen es nicht. In der Statistik des Bundeskriminalamtes sind die Daten so zusammengefasst, dass sie nur einen vagen, gesamtdeutschen Überblick ermöglichen. Ballungen häuslicher Gewalt finden sich in den Städten.

Aber sie ist  überall. Kein Landkreis in Deutschland, in dem keine Fälle angezeigt werden. Rund ein Viertel der Opfer ist männlich. In Berlin gibt es jährlich beinahe 16.000 Fälle. Das ist, absolut gesehen, der Höchstwert. Doch umgerechnet auf die Bevölkerungszahl rangiert die Hauptstadt eher am Rande. Mittelgroße Städte sind besonders auffällig so wie Ludwigshafen und Pirmasens zum Beispiel. In der Heimat von Anja und Stefan gab es zwischen 2011 und 2014 pro Jahr rund 200 Anzeigen wegen häuslicher Gewalt. Das ist das „Hellfeld“, sind die zur Anzeige gebrachten Fälle. Dazu kommen nicht aktenkundig gewordene Prügeleien, Schikanen, Zerstörungen, weil sich viele Opfer nicht trauen, zur Polizei zu gehen, aus Scham oder um die prügelnden  Angehörigen zu schützen. Im Lagebild des Brandenburger Landeskriminalamtes sieht man die Schwerpunkte häuslicher Gewalt: Hennigsdorf, Potsdam, Frankfurt, Oranienburg, Cottbus und Brandenburg. Neutrale Zahlen, sie geben einen polizeilich ermittelten Stand wieder. Um  zu verstehen, wie es zu solchen Ausbrüchen kommt, muss man hinein gehen in die Häuser. Man muss hinabsteigen, dahin, wo ein Trauma liegt.

Posttraumatische Störung

Anja ist noch ein Kind. Sie hört, wie ihr Vater laut wird. Sieht, wie er ihre Mutter schlägt, anschreit, bevormundet und klein hält. Jeden Tag geht das so. Die Mutter versucht, die Familie zusammenzuhalten. Sie kümmert sich um die vier Kinder. Der Ehemann ist kaum zu Hause, er arbeitet auf Montage und teilt seiner Frau ein wenig Geld von seinem Lohn zu. Sie ist komplett abhängig von ihm. Sie glaubt, ihn nicht verlassen zu können. Die Kinder sind ihre einzige Sorge. Sie opfert sich, Jahr um Jahr. Die kleine Anja kennt ihren Vater kaum und muss durch Ehrgeiz und vorbildliches Verhalten ständig beweisen, dass es sie gibt. Während sie, die Älteste, ihrem Vater nur wenige Sätze entlocken kann, sieht sie zu, wie er lieber mit den jüngeren Geschwistern spielt. Mit 17 will Anja raus aus der Familie, unabhängig sein. Sie beginnt eine Ausbildung zur Restaurantfachfrau. 2008 zieht sie bei ihrem damaligen Freund ein. Und schließlich findet auch ihre Mutter die Kraft, sich von dem Tyrannen zu trennen. Nach 23 gemeinsamen Jahren. Die Kinder bleiben vorerst bei ihm. Anja ist stolz auf ihre Mutter. Und ahnt nicht, wie ähnlich sie ihr sein wird. Wie sie, ohne es zu wollen, ihr Verhalten kopieren, unbewusste Muster aktivieren wird.

Für die Traumaforschung ist das ein bekanntes Bild. Jörg M. Fegert ist Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Ulm. Seit Jahren sucht er nach Gründen und Lösungen für Gewalt in Familien. Fegert teilt eine weit verbreitete Theorie: Unverarbeitete Traumata können eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) erzeugen. Man kennt das von Soldaten, die aus einem Krieg heimkehren. Aber sie betrifft auch misshandelte, missbrauchte und vernachlässigte Menschen. Nach einem traumatischen Ereignis ist der Betroffene weder in der Lage zu fliehen, noch kann er zum Angriff übergehen. Er ist wie gelähmt, als wären Erfahrung und Verhalten eingefroren. Das kann zu Depressionen, Suizid, Sucht und psychosomatischen Erkrankungen führen.  Je länger ein Trauma anhält und je öfter es wiederkehrt, desto stärker ist die Entwicklung im Gehirn beeinträchtigt. Ein dauerhaft traumatisiertes Kind kann sich emotional oder sozial kaum unbelastet entwickeln. Es übernimmt bisweilen das Verhalten, das es beobachtet. „Transgenerationale Weitergabe“ nennt Professor Fegert den Effekt, der dann die nächsten Opfer und Täter schafft. In welche Rolle das traumatisierte Kind unbewusst schlüpft, hängt davon ab, wem es sich in seiner Beobachtung stärker verbunden fühlt. Steht es dem Opfer näher, verinnerlicht es die Opferrolle. Und umgekehrt.

Sechs Monate auf Bewährung

Im April 2011 liegt Anja gebärend im Krankenhaus. Zu Stefan hat sie damals keinen Kontakt. Einsam bringt sie ihren Sohn zur Welt. Wiegt ihn im Arm und verspricht ihm ein schönes Leben. Wo eine Mutter ist, da sollte auch ein Vater sein, denkt sie, als Stefan seinen drei Monate alten Sohn kennenlernen möchte. Und sie beschließt: Ja, Stefan darf sein Kind sehen. Aber unter ihrer Beobachtung. Er gibt sich Mühe, badet den Kleinen, bringt ihn ins Bett. Hoffnung. Und Zerstörung. Bald kommt es zur nächsten Gewalttat, zum ersten Anruf bei der Polizei, zur ersten Anzeige, zum ersten Auftauchen von Anja und Stefan in den anonymen Statistiken zur häuslichen Gewalt.

Stefan soll das Kind abholen, kommt aber zwei Stunden zu früh. Sie lässt ihn nicht herein, weil sie Besuch von ihrem Ex-Freund hat. Stefan ist sich sicher, dass dieser Freund oben ist. Auf einmal steht er vor der Wohnungstür. Sie geht ins Schlafzimmer und hält dort das Baby fest. Sie weiß, dann bleibt es ruhig. Sie wollen so tun, als sei niemand da. Dann brummt die Waschmaschine. Stefan weiß, Anja würde niemals ausgehen bei laufenden Geräten.

Er schreit und tritt gegen die Tür. Sie ruft die Polizei und beobachtet, wie Tür und Rahmen kaum noch halten. Sie donnert auf der anderen Seite dagegen. Stefan beschimpft Anja und den Ex-Freund. Die Tür springt auf. Da steht die Polizei hinter ihm und legt ihm Handschellen an. Anja zeigt ihn an wegen Hausfriedensbruch. Wenige Wochen später ist die Gerichtsverhandlung. Sie sagt aus, dass Stefan noch nicht erwartet war, erst zwei Stunden später. Er sagt, sie hätte ihm sein Kind verwehrt. Er hat einen guten Anwalt. Stefan kommt davon mit sechs Monaten auf Bewährung und der Auflage die Tür instandsetzen zu lassen. Dann geht alles wieder von vorne los.

Plötzlich saust der Toaster durch die Luft

Anjas Vater verschafft Stefan einen Job in der gleichen Firma. Sie gehen zusammen auf Montage. Ihr Vater, den sie als Kind liebte und der sie quälte, und ihr Freund, den sie nun liebt und der sie quält – sie sind jetzt Kollegen. Stefan schickt eine SMS. Er mache Schluss. Zwei Tage später kommt sie gegen Mitternacht von der Arbeit in die gemeinsame Wohnung. Das Kind schläft. Er riecht nach Alkohol. Für sie ist es aus. Für ihn nun doch nicht. Sie sitzt in der Küche am Fenster und raucht. Plötzlich saust der Toaster durch die Luft, an ihrem Kopf vorbei und prallt gegen die Wand. Sie rennt ins Schlafzimmer. Schon steht er hinter ihr und boxt sie. Sie geht nicht auf ihn ein. Er verlässt die Wohnung. Kurz darauf kommt er zurück, wirft Anja auf das Bett. Wirft ihr Handy so oft gegen die Wand, bis es zertrümmert ist. Dann tritt er sie. „Ich setze die Wohnung in Brand und schließe ab, dass euch keiner haben kann!“, schreit er. „Du bist krank! Mach eine Therapie!“, brüllt sie zurück. Er spuckt ihr ins Gesicht. „Ich mache dir einen Betonfuß und schmeiße dich in den See!“ Die Nachbarn haben einen Schlüssel, kommen in die Wohnung und holen das Kind. Die Polizei rufen sie nicht.  Mit einem anderen Handy ruft Anja Hilfe. Ihre Schwester  holt sie ab.

Am nächsten Tag erstattet Anja Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung. Der Polizist gibt ihr die Nummer des Frauenhauses in Brandenburg. Noch am gleichen Tag zieht sie dort ein. Es wird ihr schnell unerträglich. Sie darf nicht raus, nicht arbeiten, nicht einkaufen, nicht mit dem Sohn auf den Spielplatz. Mit einer weiteren Mutter und deren Kind teilte sie sich eine Wohnung. Eine Betreuerin aus dem Frauenhaus begleitet sie zum Gericht. Wie Freundinnen reden die beiden miteinander. Die Frau ist eine große Hilfe und organisiert einen Kitaplatz für den Kleinen. Allein würde Anja das nicht schaffen. Sie hat Angst und ist wie gelähmt. Im Frauenhaus fühlt sie sich bald wie eine Gefangene.  Nach nicht einmal zwei Wochen sucht sie sich eine neue Wohnung, zwei Monate später liegt ihr Sohn im Krankenhaus, er hat sich den Fuß eingeklemmt und dabei den Zehnnagel ins Nagelbett geschoben. Er fragt nach seinem Vater. Anja will ihm Stefan nicht verwehren. Sie lässt die Verfügung des Gerichtes annullieren, dass Stefan sich den beiden nicht mehr nähern darf. Stefan ist wieder herzlich. Sie ist wieder schwanger von ihm. Sie überlegt, sein Kind abzutreiben. Sie vereinbart einen Termin. Auf dem Weg in die Klinik ruft er sie an. Die Worte „eine Familie“ fallen. In der Klinik fragt sie nach dem Entbindungstermin und geht dann wieder. Auch den zweiten Sohn gebärt sie allein.

„Papa ist böse“

Das letzte Mal trennte sich Anja im Sommer 2014 von Stefan. Die beiden Kinder schlafen. Wieder hat Stefan ihr Handy genommen, und Nachrichten gelesen. Das ist mein Leben, sagt sie zu ihm. Er stürzt sich auf sie, sitzt auf ihr, schlägt auf sie ein. Sie schützt ihr Gesicht, weil sie daran denkt, dass sie noch arbeiten muss. ‚Papa hör auf‘, ruft der ältere Sohn, er ist inzwischen vier Jahre alt und steht plötzlich in der Tür. ‚Papa, was machst du da?‘ Stefan lässt von ihr ab. ‚Mama, warum weinst du?‘, fragt der Sohn. Er streichelt und drückt sie. ‚Papa ist böse‘, bringt sie zum ersten und einzigen Mal hervor. Zum ersten Mal bestätigt sie dem Sohn, was sie ihm so oft versucht hat auszureden.

Es ist Nachmittag. Wir sitzen in Anjas eigener Wohnung. Ihre Mutter ist zu Besuch, eine Frau mit kurzem blonden Haar und kräftiger Stimme. Lautlos läuft der Fernseher. Anja hat sich diese Bleibe liebevoll eingerichtet. Wenn sie konnte, kaufte sie Möbel, die graue Couch inmitten des Wohnzimmers, oder den großen Esstisch in einer Nische. Das Kinderzimmer ist in Blau gestrichen. In einem Regal steht ein Foto ihres Vaters.

Als sei es ein Stigma

Anja ist jetzt 25. Sie erzählt von ihrer Wut, sich nicht schon früher anders verhalten zu haben. „Wären die Kinder nicht gewesen, hätte ich das nicht so gemacht“, sagt sie. Wäre nicht immer wieder zu Stefan zurückgekehrt. Die Mutter sagt in eine längere Pause: „Ich habe das Gefühl, auf unserer Stirn steht: Bitte schlag mich.“ Das Sorgerecht für den älteren Sohn teilt  sich Anja heute mit Stefan. Eine Woche ist er bei ihr, eine Woche bei ihm. Das entschied das Gericht. Sie kann es nicht verstehen. „Wie kann das Jugendamt bei seinem Vorstrafenregister bestimmen, dass das Kind bei ihm leben darf?“ Eine der vielen Fragen, mit denen Anja nun leben muss.


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