Aktuelles

Boateng-Prozess: Ex-Partnerin spricht über Gewalt

Die frühere Lebenspartnerin von Jérôme Boateng sagt im Prozess aus: Sie wirft ihm vor, sie geschlagen und misshandelt zu haben. Er lässt die Taten über seine Anwälte bestreiten. Der Prozess eröffnet einen Blick in eine Welt, aus der Vorwürfe von Gewalt selten nach außen dringen.

von Gabriela Keller , Maike Backhaus

Auftakt im Berufungsprozess gegen Boateng
Der Fußball-Star Jérôme Boateng hatte Berufung gegen ein erstinstanzliches Urteil eingelegt. Seit Donnerstag läuft der Prozess vor dem Landgericht München. Foto: Peter Kneffel /picture alliance/dpa

Am Tisch sitzt eine Frau, die ihre gefütterte Weste nicht ausgezogen hat. Sie spricht über  ihren Ex-Freund, der an der Seite links neben ihr zwischen seinen Anwälten sitzt. Ihr gegenüber blättert der Richter an seinem Pult in den Akten, während er Zwischenfragen stellt: 

Er ist frontal auf mich zu und wollte mit beiden Händen an meinen Kopf greifen.

Was wollte er mit beiden Händen?

An meinen Haaren ziehen.

Ihrer Meinung nach.

Ich kannte den Angriff schon. 

Sherin S. war elf Jahre lang mit dem Fußball-Weltstar Jérôme Boateng zusammen, 2007 bis 2018, eine On-Off-Beziehung, nennt sie das, „toxisch“: „Geprägt von Streit, Untreue und Gewalt.“ Dann kam der 29. Juli 2018, beide machten mit Freunden Urlaub in einem Luxus-Ressort in der Karibik, und über einem Kartenspiel eskalierte ein Streit, Boateng soll Sherin S. geschlagen und beleidigt haben. Das ist der Grund, warum beide jetzt vor dem Münchner Landgericht wieder aufeinander trafen.

Sie sagt, er habe nach vorne an ihren Kopf gegriffen und ihr dabei den Ballen des Daumens ins Auge gedrückt. „Welches Auge?“ – „Linkes Auge“. Dann soll er ihren Kopf an den Haaren nach vorne gerissen und ihr von oben in den Kopf gebissen haben. 

Vor Gericht schweigt Boateng und lässt seine Anwälte sprechen

Boateng hat das alles bestritten. Bereits vor gut einem Jahr verurteilte das Münchner Amtsgericht ihn wegen vorsätzlicher Körperverletzung gegen Sherin S. zur Zahlung von 60 Tagessätzen à 30.000 Euro, 1,8 Millionen Euro insgesamt. Boateng wäre damit nicht vorbestraft, das wäre erst ab 90 Tagessätzen der Fall. Der Fußballer wies die Vorwürfe zurück, sein Verteidiger forderte einen Freispruch. Sowohl Boateng als auch die Staatsanwaltschaft und Sherin S. als Nebenklägerin gingen in Berufung.

Jetzt im Berufungsprozess äußerte sich Boateng nicht, er ließ seine Anwälte sprechen: „Herr Boateng bestreitet strafbares Tun.“ Der Fußballer kam umgeben von Bodyguards in den Saal des Gerichts. Nun sitzt er zwischen seinen drei Verteidigern, fast reaktionslos, schüttelt ab und an den Kopf. Sherin S. indes bleibt mehr als drei Stunden lang im Zeugenstand und wird die Ereignisse des Abends vom 29. Juli 2018 durchgehen, im Detail, zum Teil mehrfach.

Druck, Manipulationen, Drohungen

Die Verhandlung eröffnet Einblicke in eine Welt, aus der Gewalt-Vorfälle oft nicht nach außen dringen. CORRECTIV und Süddeutsche Zeitung (SZ) hatten jüngst mehrere Fälle von Spielerfrauen aufgedeckt, die ihren ehemaligen Partnern – zum Teil namhaften Profi-Fußballern – psychische und körperliche Gewalt sowie Machtmissbrauch vorwerfen. Die Frauen sprechen von massivem Druck, Manipulation und Drohungen, die sie daran hinderten, sich juristisch zu wehren und ihre Vorwürfe publik zu machen, etwa mit Verschwiegenheitsverpflichtungen. 

Der Fall Boateng ist besonders, weil seine Ex-Freundin Sherin S. Anzeige erstattet hat. Eine Verschwiegenheitsverpflichtung hatte sie offenbar nicht unterzeichnet. Wie sie selbst vor Gericht sagte, habe sie lange Zeit geschwiegen, aus anderen Gründen. Als Richter Andreas Forstner sie fragte, warum sie nicht schon früher Anzeige erstattete, sagte sie: „Man überlegt halt öfter, wenn jemand Kinder hat und in der Position ist, in der er ist.“

Nun ist es Boateng, der schweigt, er lässt seine Anwälte reden. Sherin S. muss sprechen, auch über intime Details. Wie CORRECTIV berichtete, erhielt sie offenbar in Folge ihrer Strafanzeige Chatnachrichten von einer anderen Frau aus dem Leben des Jérôme Boateng. Diese scheint ihr nahe gelegt zu haben, keine Aussagen mehr zu machen; im Gegenzug bestehe die Aussicht auf Geld, ein Haus und Zugang zu ihren Kindern. Seit 2015 leben die gemeinsamen Zwillingstöchter bei Boateng. 

Schummeleien beim Kartenspiel

Im Zeugenstand erzählte S. nun erneut, was an jenem Abend des 29. Juli 2018 geschehen sein soll. Beim Kartenspiel habe Boateng geschummelt; einer anwesenden Freundin seien die Tricksereien aufgefallen. Danach sei es zum Streit gekommen, Boateng habe aggressiv reagiert und sich zunächst zurückgezogen.

Sie und die andere Frau hätten durch Instagram gescrollt, „wir haben ein bisschen gegossipt“, dann sei sie auf das Profil einer Frau gekommen, mit der Boateng eine Affäre gehabt haben soll. Sie habe ihn darauf angesprochen. Danach sei die Situation eskaliert. Er soll sie wüst beschimpft und ihr vorgeworfen haben, sie würde „immer alles kaputt machen“.

Ich saß auf der Bank und er kam frontal auf mich zu, hat mich beleidigt, dass ich eine Nutte bin und den Urlaub zerstöre.

Noch was Schlimmeres?

Fotze, glaube ich. Hure und Nutte.

Er soll ein Windlicht gegriffen haben, Sherin S. zeigt vom Boden aus die Höhe des Gegenstandes, bis etwa ans Knie, ein schwerer Gegenstand aus Glas, mit Holzfassung.

Diesen Kerzenhalter habe er auf sie geworfen, sie sei ausgewichen, das Glas sei an der Lehne ihres Stuhls zersplittert. Auch eine Kühltasche habe er geworfen und sie damit am Rücken getroffen. Was war drin? Dosen. Wasserflaschen. Eiswürfel. 

Nach dem Streit räumte ein Butler die Scherben weg

Dann sei er zunächst wieder gegangen, und sie habe sich mit der Freundin auf eine Bank hinter das Bungalow gesetzt, wo es dunkel gewesen sei, sie habe gewusst, es sei noch nicht vorbei gewesen. „Ich kenne ihn und weiß, dass es ihm nicht gereicht hat.“ Solche Übergriffe seien häufiger vorgekommen. „Als erstes wirft er mit Gegenständen, Handys und ich weiß, dass darauf immer noch ein körperlicher Angriff folgt.“ Also habe sie gewartet.

Er sei zurückgekommen, habe sie an den Haaren gerissen, auf den Boden geworfen und in den unteren Rücken geboxt, etwa auf Höhe der Nieren.

Mit ihrem Armband müsse sie ihn erwischt haben, als sie sich versucht habe zu schützen, jedenfalls habe seine Lippe geblutet und er habe ihr Blut ins Gesicht gespuckt.

„Der Boden war nass und voller Scherben“, sagt Sherin S. „Der Butler kam später und hat alles sauber gemacht.“

Zwei Tage später fuhr S. nach Hause und wendete sich an ihre Anwältin, das belegen Textnachrichten. Auf ihr Raten hin machte sie Fotos von ihren Verletzungen.

Auf großen Leinwänden werden die Bilder im Saal an die Wände projiziert, der Richter, Anwältinnen und Journalisten starren auf ein geschwollenes blaues Auge, auf Hämatome. Sie ging zum Arzt. Richter Forster liest aus dem Befund vor: Hämatom Augenlid links, Hämatom linke Flanke, Kopfschmerzen, Hämoglobin im Urin, stumpfes Abdomentrauma. 

Boateng kann einen Deal nicht mit seinem Gewissen vereinbaren

 Boateng wies die Vorwürfe stets zurück. Im erstinstanzlichen Prozess sagte er, Gewalt entspreche nicht seinem Naturell. Bei diesem Prozess zogen sich Kammer, Anwälte und Staatsanwaltschaft gleich am Anfang der Verhandlung zurück und handelten einen Deal aus: Demnach sollten alle Seiten die Berufung zurücknehmen, nur die Höhe der Strafe wäre noch zu verhandeln gewesen. Aber dazu hätte Boateng seine Verurteilung akzeptieren müssen. Das lehnte er ab: Eine Annahme des Vorschlags habe er „nicht mit seinem Gewissen vereinbaren können.“ Auch nicht mit Blick auf seine Kinder. 

Also musste Sherin S. aussagen und den Abend des 29. Juli 2018 wieder und wieder durchgehen. Der Richter hat Fragen, die Staatsanwaltschaft auch, so der Rechtsmediziner und Boatengs Verteidiger – es geht um die Art ihrer Verletzungen, wo sie blaue Flecken hatte, und wie groß die waren, und warum sie dieses beim Arzt meldete und jenes nicht.

Frau S., sind Sie von der Scherbe des Kerzenhalters verletzt worden?

Linke Hand, kleiner Finger.

Kann es auch rechts gewesen sein?

Ja. Genau kann sie sich nicht mehr erinnern.

Und dieses Hämatom, rechte Flanke, wo war das denn?

Ein Stück über dem Gesäß. Sie steht auf und deutet auf ihren unteren Rücken.

Wie groß war das? 

Sie formt einen Ring mit Daumen und Zeigefingern.

Es ist auch die Rede von einem Hämatom am Ellenbogen oben rechts.

Ja, aber ich weiß nicht mehr, woher die Verletzung stammt. 

Der Anwalt Boateng sagt, sie habe einen Tag danach „rumgetanzt“

Es ist eine verstörende Anatomie von Körperteilen und Verletzungen, immer wieder hinterfragt von den Juristen und Gutachtern. So will der Anwalt Boatengs noch einmal genau wissen, wie genau das Windlicht zerbrach. „Die Frage hatten wir doch schon beantwortet“, sagt Richter Forstner, lässt den Verteidiger dann aber doch weitermachen. 

Später wechselt der Anwalt das Thema: Es gebe ein Video vom folgenden Abend, im Luxusressort, auf der Karibikinsel. Da habe sie, „ich muss es jetzt so sagen: rumgetanzt“. Am Abend wurde ein Lagerfeuer gemacht, und davor habe sie getanzt, einen Abend nach dem mutmaßlichen Angriff. Sie sei gefilmt worden, den Clip werde man noch einbringen. Ob sie von der Aufnahme wisse? „Daran kann ich mich nicht erinnern.“

Ob sie seinen Schriftsatz kenne, fragt der Verteidiger. „Ein Gutachter sagt, dass man mit solchen Verletzungen nicht so tanzen kann.“ Auch die Verletzungen am Jochbein seien nicht plausibel. 

Die Verhandlung kreist immer wieder um dieselben Stunden, das Windlicht, das Kartenspiel, die Hämatome. Und das Blut in ihrem Urin: „Hatten Sie zu der Zeit Ihre Periode?“

Die Anwälte versuchen offenbar, ihre Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Einer trägt eine Reihe von Einwänden vor. Vieles ist nicht zu verstehen. Er spricht undeutlich. Auch die anderen im Saal können ihn kaum verstehen. „Bitte nuscheln sie nicht so in Ihr Mikrophon“, sagt die Staatsanwältin.

Ein Gutachter soll S. „Belastungseifer“ attestiert haben

Sherin S. wirkt konzentriert, irgendwann aber auch erschöpft, verwechselt rechts und links, verhaspelt sich, Boatengs Anwalt fragt weiter: Wie groß waren die Hämatome? Woher kamen die Schürfwunden?

Zwischendurch fragt der Richter sie, wie es ihr jetzt gehe. Schlecht, sagt Sherin S., das alles sei aufwühlend und anstrengend. Sie rechne damit, dass ihr die Schuld gegeben werde. „Hier mit den drei Anwälten“, sie blickt nach links. „Ich rechne damit, hier auseinander genommen zu werden.“

Boatengs Anwalt antwortet: Er wisse nicht, wie sie zu der Annahme komme. „Wir haben nicht vor, hier Schmutz über Frau S. zu schütten.“

Wenig später sagt er, Sherin S. würde mit ihren falschen Gewaltvorwürfen versuchen, sich das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre Kinder zu ertricksen. Die Kinder leben bei Boateng; beide streiten seit 2015 um das Sorgerecht. Sie habe die Gewaltvorwürfe auch vor dem Familiengericht vorgetragen. Das soll darauf deuten, dass sie Anschuldigungen kalkuliert einsetze. Auch vor dem Familiengericht ist das Sherin S. offenbar negativ ausgelegt worden. Der Verteidiger beruft sich auf einen psychologischen Gutachter, der Sherin S. „Belastungseifer“ attestiert habe. Als ihre Anwältin und die Staatsanwaltschaft einschreiten, beharrt er: „Es ist sinnvoll, eine Motivation für die Falschbelastung anzuführen. „Ich werde mir nicht den Mund verbieten lassen.“

Er beantragt, Akten aus dem familienrechtlichen Verfahren als Beweis zuzulassen. Das bedeutet, dass noch mehr intime Details aus dem Leben beider vor Gericht zur Sprache kommen werden.