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„Viele Clubs werden nie barrierefrei sein“

Menschen mit Behinderung sind vom Schweizer Nachtleben weitgehend ausgeschlossen. Nicht, weil sie das wollen – sondern weil Clubbetreiber ihnen keine Chance dazu geben. Betroffene aus Luzern greifen deshalb zur Selbsthilfe.

von Hanna Fröhlich

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Collage: Ivo Mayr/CORRECTIV (Fotos: Hanna Fröhlich & Haley Lawrence/unsplash.com)

Es ist ein kalter Dienstagabend im Februar dieses Jahres und im Luzerner Treibhaus ist nicht viel los. Erst am Wochenende erwacht das Haus mit dem mintfarbenen Anstrich zum Leben – wird zum Club mit hohen Decken, einer grossen einladenden Bar und einer vollen Tanzfläche. An diesem Abend sind hier diejenigen zusammengekommen, die dann nicht dabei sind. Dabei möchten Armando, David, Ibrahim, Mike* und Cloé nichts Aussergewöhnliches. Sie möchten Party machen, so wie alle anderen auch.

Für Menschen mit Behinderung ist das jedoch oft unmöglich. Viele Clubs sind schon für Rollstuhlfahrende schlicht unzugänglich, oft führen nur Treppen in die Keller. Das herauszufinden, ist schwer. Kaum ein Club macht transparent, welche Infrastruktur vorhanden ist. Gibt es doch eine Rampe? Eine barrierefreie Toilette? Solche Angaben sind in den seltensten Fällen auf den Webseiten der Clubs zu finden.

Cloé, die Sängerin ist und davon leben möchte, nickt. Sie geht selten an Partys. Ihre Angst gilt nicht den Treppen, sondern den oft genutzten Strobolichtern. „Ich bin schon einmal ohnmächtig geworden. Ich möchte sicher sein, dass mir jemand hilft, wenn etwas passiert.“ Auf dem Flyer ihrer Party müsse zwingend stehen: kein Strobo.

Was banal klingen mag, ist für Betroffene ein Problem: Es fehlt an Räumen, die offen sind für alle. Solche Räume will die Gruppe junger Menschen aus Luzern schaffen, die sich unter der Überschrift Fe:in – kurz „für ein inklusiveres Nachtleben“ zusammengeschlossen haben. Mit dabei sind neben Armando, David, Ibrahim, Mike* und Cloé auch Rachel, Lena, Louis und Antek, die zwar nicht gleichermassen von den genannten Hürden betroffen sind, sich aber wünschen, dass alle Personen ein selbstbestimmtes Nachtleben führen können.

An diesem Abend startet die Gruppe, versammelt um einen grossen Tisch, also die Planung einer inklusiven Party. Das Treffen verläuft harmonisch, fast ritualisiert. Jeder kommt zu Wort, niemand wird übergangen. Armando lebt mit Trisomie 21. Er erzählt, dass er viel in den Ausgang geht, meistens an Kontaktpartys von Insieme, einer Organisation für Menschen mit Behinderung. „Aber inklusive Partys gibt es nicht viele. Da habe ich gedacht: Ich will auch mal selber eine Party machen.“ 

Ein weiterer Grund sind soziale Hürden. Cloé sagt: „Ich will nicht ausgelacht oder gezwungen werden, Alkohol zu trinken. Deshalb kann ich nicht auf andere Partys gehen.“ Mike*, der hier anonymisiert auftritt und in Luzern beim Radio arbeitet, ergänzt: „Die Gesellschaft, die uns nicht akzeptiert, die finde ich gemein.“ 

Unfreiwilliges Abenteuer Ausgang

„Was die Gründe dafür sind, dass Menschen mit Behinderung keinen Zugang zum Nachtleben haben?“ Jahn Graf ist Inklusionsbeauftragter am Kleintheater Luzern und sitzt selbst im Rollstuhl. „Wenn der Weg zur Party schon ein Abenteuer darstellt, dann entscheide ich mich am Samstagabend halt lieber dafür, mit Netflix auf dem Sofa zu bleiben.“

Graf geht es wohlgemerkt nicht darum, dass alle ausgehen müssen – sondern dass sie es können. „Aber solange die Informationen wie der Zustand der Infrastruktur nicht zur Verfügung gestellt werden, müssen wir immer diese Abenteuerreise machen.“ Mit dem Risiko, vor einer unüberwindlichen Barriere vor der Partylocation zu stranden. Je mehr Energie das koste, desto weniger sei man bereit dazu.

Hinzu kommt der öffentliche Verkehr. Nur die Hälfte der Bahnhöfe ist barrierefrei nutzbar. Die SBB bieten ihren Begleitservice ohnehin nur bis Mitternacht an. Wer danach noch nach Hause will, bleibt auf sich allein gestellt. 

„Das Problem ist nicht nur die Infrastruktur“, sagt Graf, „es ist die Haltung. Wenn man uns ernst nehmen würde, würde man uns fragen, was wir brauchen. Stattdessen wird gleich darüber gesprochen, warum es nicht geht.“ 

Das Gleichstellungsgesetz garantiert Menschen mit Behinderung ein gleichberechtigtes Leben. In der Praxis aber bewegt sich kaum etwas. „Seit über zwanzig Jahren macht man uns zum Problem. Dann ziehen wir uns zurück in unsere Räume. Und am Ende passiert gar nichts.“

Das Totschlagargument der Veranstalter sei stets: zu teuer. Diese betriebswirtschaftliche Entscheidung habe aber gesellschaftliche Folgen, warnt Graf. „Dass Menschen mit Behinderung als ‘die Komischen’ wahrgenommen werden, ist schlicht die Folge fehlender Begegnungsorte.“

Nirgendwo in der Schweiz gibt es mehr Clubs als in Zürich. Die Zürcher Bar- und Clubkommission ist demnach die grösste Interessensvertretung derjenigen, die das Nachtleben gestalten. Doch über das Thema Barrierefreiheit redet man nicht gerne. Auf unsere Nachfrage,  wieso aus Sicht von Betroffenen nicht genug für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung getan wird, erhalten wir folgende Antwort: „Da sich Clubs oft im Keller und in sogenannten Zwischennutzungen befinden, das heisst die Räumlichkeiten wurden nicht als Club geplant oder gebaut, ist die Barrierefreiheit oft nicht gegeben.“ Viele Clubs gibt es indes schon seit Jahrzehnten. Sofern die Gebäude nicht denkmalgeschützt sind, wäre ein barrierefreier Umbau also durchaus möglich.

Der Sprecher der Bar- und Clubkommission schreibt von Unsicherheiten, „was dieses Thema betrifft.“ Typische Fragen seien: „Was sind die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen? Wie reagieren diese Menschen auf all die Reize, die es im Club gibt, wie Strobo-Licht, Laser, Kunstnebel etc.? Wie steht es um das Thema Sicherheit, wenn jemand sich mit dem Rollstuhl auf dem Dancefloor bewegt?“ Die Fragen sind die richtigen. Vor nicht zu langer Zeit habe man sich mit einer Fachperson der Organisation Insieme getroffen, um sich dem Thema anzunehmen. Offen bleibt, ob daraus Resultate erfolgen.

Dabei betonen die Betreiber: „Clubs stehen für Offenheit, das bezieht sich auch auf Menschen mit Behinderung. Wir hören immer wieder davon, dass Menschen in Rollstühlen die Treppen in den Club runtergetragen werden, damit sie ein Teil der Party sein können.“ Wir wollen wissen:  Haben Clubbetreibende Angst davor, dass ihnen die Gäste wegbleiben? „Nein“, heisst es. „Aber es gibt sicher Veranstalterinnen und Veranstalter, die sich aufgrund genereller Unsicherheit diese Frage stellen.“ Für die Zukunft sind momentan keine Verbesserungen in Sicht. 

„Es braucht ein Verständnis dafür, dass ein grosser Teil der Clubs, aufgrund dessen, dass die Investitionen wegen der zeitlich beschränkten Nutzung zu teuer sind und/ oder der Denkmalschutz diese verhindert, nie barrierefrei sein werden.“ Gesetzliche Vorgaben, die Clubbetreiber zu Inklusionsmassnahmen treiben würden, gibt es nicht.

Strukturen, die trennen

Was den Betroffenen bleibt, ist die Eigeninitiative. Zurück im Treibhaus. Es ist der 1. April, Armando und seine Mitstreitenden von Fe:in tragen Frühlingskleidung und Sneakers. Die Planungen werden konkreter.

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Armando berichtet, dass sein Arbeitskollege vielleicht auflegen könne – wenn er nicht in den Ferien sei. „Ich muss ihm noch einen Zettel geben, den er seinen Eltern zeigen kann, dann wissen wir, ob er Zeit hat“, sagt er.

Rachel, Betreuerin und Mitgründerin von Fe:in, hält das fest, zählt nebenbei Aufgaben auf: Flyer, Deko, Programm. Die Behindertenseelsorge übernimmt die Gagen für die DJs, der Eintritt ist deshalb frei. 

Armando schlägt einen zweiten DJ vor: „Er macht Schlager. Aber er redet nicht.“ Es wird gelacht. Antek zweifelt, ob Schlager wirklich das richtige Publikum anzieht. Rachel schlägt vor: zuerst Schlager, später Techno. So sollen sich die Gruppen durchmischen. Stattfinden soll die Party von 19 bis 24 Uhr. 

Dass die Gruppe überhaupt so planen muss, hat mit den Wohnheimen und Institutionen zu tun. „Bei uns ist um 22 Uhr Nachtruhe“, erzählt Mike*, der in einem Wohnheim wohnt. „Ich habe zwar einen Badge, aber wenn ich später komme, fragen sich alle, wo Mike ist.“

Rachel ergänzt: Institutionen lägen traditionell weit weg vom Rest der Gesellschaft. „Es entsteht also wenig Austausch, weswegen sich die Institutionen stark um Inklusion bemühen müssen, was ein grosses Engagement erfordert.“ Die Bewohnenden würden am gleichen Ort leben, arbeiten und auch ihre Freizeit verbringen. „Es ist auch eine finanzielle Frage für die Institutionen, da plant man keine zusätzliche Betreuung ein, die dann noch bis um 24 Uhr im Ausgang ist.“

Für Rachel war das ein Grund für die Gründung der Gruppe. „Ich habe durch meine Arbeit mitbekommen, wie das in den Wohngruppen läuft.“ Ohne Angebot würden sich die Wohngruppen auch nicht anpassen. 

Armando lebt in einer Wohngruppe, die ihn unterstützt. „Wenn man will, kann man Begleitung bekommen.“ Doch auch er weiss: Ohne diese Unterstützung wäre es unmöglich.

Dass Menschen mit Behinderung oft abgeschottet leben, bestätigt auch Jahn Graf. Institutionen müssten sich grundlegend verändern, findet er; weg vom Gesamtpaket aus Wohnen, Arbeiten, Freizeit – hin zu einzelnen, flexiblen Dienstleistungen. Auch fehle die gesetzliche Grundlage, um eine Assistenz gezielt fürs Nachtleben einzusetzen.

Und selbst wenn es Angebote wie jene von Fe:in gibt, heisse das nicht automatisch, dass sie alle Bedürfnisse treffen. „Andere Menschen wollen ja auch nicht alle nur an Schlagernächte“, so Graf.

Die Party

Es ist der 28. Juni um 20 Uhr und an der Party, die nach längerer Diskussion nun den Namen „Grill und Disco“ trägt, wird wild getanzt. Das Tanzen kann dabei unterschiedlich aussehen. Ein Mann im Rollstuhl dreht sich immer wieder um die eigene Achse, während er ab und an die Hand eines anderen Party-Gastes hält, eine Frau hüpft aufgeregt von einem Bein aufs andere. 

An der Bar, die sich vor dem Clubraum befindet, liegen laminierte Bestellkarten auf dem Tresen. Sie sind mit Illustrationen von verschiedenen Getränken bedruckt, darunter steht immer die Bezeichnung. 

“Solche Karten sind gut für mich, so verstehe ich alles”, sagt Armando, der heute Abend ein Hemd trägt. Bei der Darstellung auf der Karte handelt es sich um einfache Sprache. Eine eigene Sprache für Menschen mit kognitiver Behinderung. 

Draussen ist es noch hell, aber die Gäste scheint das nicht zu stören. „Es sind vor allem Leute aus den Institutionen gekommen”, sagt Rachel. „So früh ist es halt schwierig, auch andere zu begeistern.“  

Die Stimmung im Clubraum ist gut. Es gibt zwar Alkohol, aber wenige trinken. Die Feiernden sind ausgelassen. Keiner der Anwesenden scheint sich für irgendetwas zu genieren. Hier stellt sich nicht die Frage, ob es komisch ist, die erste Person im Raum zu sein, die sich in die Mitte stellt und die Hüften schwingt.

Auch Rachel, Lena, Antek und ein paar ihrer Freunde tanzen ausgelassen. „Party machen mit Menschen mit Behinderung könnte auch uns Nicht-Behinderten helfen, Hemmungen abzubauen”, sagt Rachel. 

Armando nimmt Rachel an der Hand, beide drehen sich im Kreis. In diesem Moment wirkt alles sehr selbstverständlich, als hätten Partys schon immer so ausgesehen. Doch draussen, im Rest des Nachtlebens, bleiben die Türen für viele verschlossen.

*Name der Redaktion bekannt

Text & Recherche: Hanna Fröhlich
Redaktion: Marc Engelhardt
Faktencheck: Janina Bauer
Bilder: Ivo Mayr
Kommunikation: Charlotte Liedtke