Alles außer Grün: Wie der Grüne Punkt gegen den Umweltschutz der EU kämpft
Sie versuchen Pfandsysteme zu verhindern, weil sie mit Plastikmüll gut verdienen. Der Grüne Punkt stand früher für umweltfreundliche Mülltrennung. Heute sperren sich Organisationen des Grünen Punktes in mehreren EU-Ländern gegen effektives Recycling.
Auf Niederländisch nennt er sich „Zwerfinator“, der „Wegwerf-Terminator“. Dirk Groot sammelt in seiner Nachbarschaft den Müll auf, den seine Mitbürger achtlos weggeworfen haben – das Problem wird als Littering bezeichnet. Der ehemalige IT-Spezialist fotografiert Verpackungen oder Plastikflaschen, markiert die Fundstelle mit Geodaten, und speichert seine Funde in einer App. So belegt er das wachsende Problem von Müll in der Umwelt mit Daten.
„Mindestens 40 Prozent der Menge von gelitterten Abfällen besteht aus Getränkeverpackungen“, sagt Groot.
In den Ländern der EU werfen die Bürger nur etwa 70 Prozent der Plastikflaschen in die gelben Tonnen. Jede dritte Plastikflasche landet folglich im Hausmüll und wird später deponiert und verbrannt. Die PET-Ressourcen, die recycelt werden könnten, sind damit verloren. Die Plastikflaschen landen auch im Wald, an Flussufern, oder im Straßengraben, wo Dirk Groot sie vielleicht aufhebt. Die Länder geben jeweils mehrere Hundert Millionen Euro aus, um die Natur von weggeworfenem Müll zu reinigen.
Deswegen will nun auch die EU aufräumen. Für die achtlos weggeworfenen Plastikflaschen hat die Europäische Union in 2019 eine Einweg-Plastik-Richtlinie erlassen: Bis 2025 müssen die Mitgliedstaaten 77 Prozent der Plastikflaschen einsammeln, bis 2029 sogar 90 Prozent. In diesem Jahr müssen die Mitgliedstaaten ihre Pläne nach Brüssel senden, wie sie die Richtlinie umsetzen wollen. Eine Lösung ist, mehr auf Pfandsysteme zu setzen.
Aber es gibt Widerstand – von jenen Organisationen, die den „Grünen Punkt“ tragen, und die seit Jahrzehnten an der Plastikflut quer durch die EU verdienen. Unsere Recherchen zeigen: Sie wollen lieber noch mehr gelbe Tonnen aufstellen und gelbe oder blaue Säcke verteilen.
Wir haben mit Dutzenden Quellen aus Industrie, Wissenschaft und Umweltschutz gesprochen, Anfragen bei der EU und den Grünen Punkten gestellt, und Dokumente gesichtet. Unser Fazit: Mit dieser einflussreichen Plastik-Lobby wird Europa weiter im Müll versinken.
Die EU empfiehlt ihren Mitgliedern ausdrücklich, Pfandsysteme einzurichten – ist aber auch offen für Alternativen. Und genau darum gibt es Streit. Bisher erheben nur wenige Mitgliedstaaten wie Deutschland, Litauen oder Kroatien Pfand auf Einwegplastikflaschen, während in den meisten Ländern wie Österreich, Belgien, Tschechien oder Spanien Plastikflaschen nach wie vor in gelben Säcken eingesammelt werden.
Gelbe Säcke und grüne Punkte – eine deutsche Erfindung
Vor rund 30 Jahren erfand Klaus Töpfer die Mülltrennung für Plastik. Der damalige Umweltminister unter Helmut Kohl hatte das Ziel, „die Kosten der Umweltbelastung unmittelbar dem Verursacher zuzuordnen.“ So äußerte er sich 1991 in einem Beitrag der Tagesschau. Nahrungsmittelkonzerne und Getränkehersteller sollten also ihre Verpackungen in gelben Tonnen recyceln. Und dafür zahlen.
Die Hersteller beschlossen, Lizenzgelder an eine Organisation zu bezahlen, die wiederum das Geld an die Müllabfuhr und Recyclingunternehmen weitergibt. So wurde das „Duale System Deutschland“ (DSD) geboren, eine Organisation in den Händen der Industrie, ihr Logo: „Der Grüne Punkt“. Die Bürger sind seither aufgerufen, ihren Plastikmüll zu trennen und in die gelbe Tonne oder den gelben Sack zu werfen. Die deutsche Erfindung machte Schule. Auch Spanien, Österreich oder Belgien richteten Grüne Punkte ein.
Doch das Yin und Yang, für das die verschlungenen Pfeile des Grünen Punktes tatsächlich stehen, verkörpert den Widerspruch des Systems: Einerseits sind die Hersteller verantwortlich für ihren Müll. Andererseits hat das System die Plastikmenge nicht verringert – das eigentliche Ziel des Gesetzes.
Die Organisationen des Grünen Punkts verdienen an jeder Plastikflasche, die nicht über ein Pfandsystem abgewickelt wird. Deswegen kämpfen sie europaweit um ihre Plastikflaschen – und gegen die EU-Richtlinie.
Ein Blick über Deutschlands Grenzen hinaus zeigt, wie die Grüne-Punkt-Lobby ihren Einfluss nutzt, um an der Macht zu bleiben, in Tschechien etwa, oder in Belgien.
Tschechischer Grüner Punkt sitzt wie „eine Krake“ auf den Flaschen
Vor ziemlich genau drei Jahren, Frühjahr 2018, klingelte Vojtech Vosecky’s Telefon: Der Umweltexperte und Mitgründer des tschechischen Kreislaufwirtschafts-Instituts INCIEN sollte den Materialstrom verbrauchter Plastikflaschen ausrechnen. Der Wasserabfüller Mattoni wollte ein Pfandsystem aufbauen und deswegen wissen, wie viele Plastikflaschen vermarktet und recycelt werden.
Für seine Studie fragte er den tschechischen Grünen Punkt EKO-KOM nach dem Verbleib der Plastikflaschen. Das Ergebnis überraschte ihn: der Grüne Punkt schien gar nicht genau zu wissen, wie viele Plastikflaschen er sammeln und recyceln lässt, sagt Vosecky. Daten würden anhand der Auswertung von 104 Mülltonnen hochgerechnet, schrieb ihm der Grüne Punkt. EKO-KOM ließ unsere Anfrage unbeantwortet.
„EKO-KOM hat ein riesiges Monopol geschaffen, das das Umweltministerium und die Abfallwirtschaft kontrolliert. Die sitzen wie eine Krake auf der getrennten Sammlung und steuern das ganze System“, sagt Vosecky. Offenbar ohne belastbare Zahlen.
Sie verteidigen ihr Monopol vor feindlichen Eindringlingen. Nach unseren Recherchen haben mindestens zwei andere Unternehmen in den vergangenen Jahren versucht, ins Geschäft mit den Lizenzgeldern einzusteigen – vergeblich.
In einem Fall soll das Umweltministerium gar Unterlagen von einem Bewerber an EKO- KOM weitergereicht haben. Später urteilte ein Gericht, das Umweltministerium dürfe keine Daten von Bewerbern mit EKO-KOM teilen – eine übersetzte Abschrift des Urteils liegt uns vor. Auf unsere Nachfrage hin kann das Umweltministerium den Fall nicht mehr zuordnen.
Die deutsche Firma Interseroh wollte schon mit dem tschechischen Grünen Punkt konkurrieren. Interseroh gehört zum Abfallkonzern Alba, bekannt als Sponsor des Basketballvereins Alba Berlin. „Das Umweltministerium ist der Überzeugung, dass ein Monopol bei der Verpackungssammlung der beste Weg für Tschechien sei. Wir teilen diese Auffassung nicht, haben sie aber zu respektieren“, schreibt uns dazu der Alba-Pressesprecher Henning Krumrey.
So ist es wenig verwunderlich, dass das tschechische Umweltministerium selbst eine Studie zum Pfand in Auftrag gab. Fazit der Studie: „PET-Flaschen zu bepfanden ist momentan riskant. Es wird Littering nicht verhindern.“
Später sagte der Chef des tschechischen Grünen Punktes, Zbynek Kozel, lokalen Medien, EKO-KOM wolle durch eine intensivierte Sammlung, also mehr gelbe Tonnen, und durch weniger Müllverbrennung seine Sammelquoten steigern.
Im Mai letzten Jahres wurden im tschechischen Parlament noch einmal Vorschläge zu einem verpflichtenden Pfandsystem abgelehnt. Seither steht die Diskussion um das Pfand still. Das Umweltministerium erlaubt nun aber einzelnen Abfüllern, ihr eigenes Pfandsystem aufzubauen, wie uns die Pressesprecherin des Ministeriums auf Anfrage schreibt.
Böse Mails vom Grünen Punkt in Belgien
Auch in Belgien kämpft der Grüne Punkt Fost Plus um seine Einnahmen aus Plastikflaschen – und gegen ein Pfandsystem. Ein Grund womöglich: Fost Plus sei die einzige gesetzlich zugelassene Organisation für die Verwaltung von Verpackungsabfällen.
Den Druck von Fost Plus kam auch sein Mitglied Ecover zu spüren, er produziert Öko-Reinigungsmittel. Ecover organisierte im Jahr 2018 eine Aktion, bei der Verbraucher Pfand-Verpackungen in ein „Depotgeschäft“ in Antwerpen zurückbringen konnten. „Unser Projekt kam bei Fost Plus nicht gut an. Ich bekam eine ziemlich harte E-Mail, um die Initiative sofort zu stoppen“, sagt Tom Domen, damals Innovationsmanager bei Ecover.
Der belgische Grüne Punkt übt nicht nur direkten Druck auf Mitglieder aus, sondern hat mit der alleinigen Quelle der Abfallstatistik ein weiteres Druckmittel auf die Politik in der Hand, um ein Pfandsystem zu verhindern und seine gelben Tonnen und blaue Säcke zu rechtfertigen. Denn nur Fost Plus weiß, wie viele Flaschen in Belgien auf den Markt kommen, muss diese Informationen aber nicht einmal der Regierung mitteilen. Stattdessen veröffentlicht Belgiens Grüner Punkt nur, wieviel PET nach dem Sortieren übrig bleibt, was als recycelt gilt.
Unsere Nachfrage zur Diskrepanz von vermarkteten und tatsächlich recycelten Flaschen ließ Fost Plus unbeantwortet. Stattdessen schreibt der belgische Grüne Punkt, sein System sei die beste Lösung, um in Europa an der Spitze des Recyclings zu stehen.
Auf politischer Ebene scheint die Fost Plus-Lobby durchaus erfolgreich zu sein. Erst nach 2022 soll ein Pfandsystem im flämischen Parlament wieder diskutiert werden, obwohl die Opposition darauf drängt, Pfand schon früher auf die Tagesordnung zu setzen.
Direkter Draht nach Brüssel
Die Grünen Punkte und ihre Teilhaber – Verpackungshersteller und die Lebensmittelindustrie – lobbyieren nicht nur in den Staaten, in denen sie präsent sind. Die Grünen Punkte haben seit 2013 auch eine Lobbyorganisation in Brüssel sitzen: die EXPRA.
Zwischen 2015 und 2019 gab die EXPRA laut dem Transparenzindex der Organisation Lobbyfacts bis zu 1,5 Millionen Euro aus, um die EU in ihrem Sinne zu beeinflussen, etwa für Gesetze zur Kreislaufwirtschaft und die Einwegplastikrichtlinie. Konkret setzte sich die EXPRA schon früh gegen Pfandsysteme ein.
In einem Schreiben an die Generaldirektion Umwelt der EU-Kommission aus dem Jahr 2017, das uns von der Kommission auf Anfrage zugeschickt wurde, schrieb die EXPRA: „Wir möchten auch unsere Bedenken hinsichtlich einer ausdrücklichen Empfehlung von Pfandsystemen (…) zum Ausdruck bringen.“
Die Ablehnung von Pfand in Ländern mit getrennter Sammlung – wie Belgien, der Tschechischen Republik oder Österreich – soll Einnahmequellen der Grünen Punkte sicherstellen, heißt es in dem Schreiben weiter.
Auf Anfrage war EXPRA nicht bereit, Stellung zum Budget oder ihrer Strategie zur Umsetzung der Einwegplastikrichtlinie zu nehmen.
Ihr Hauptlobbyist ist Joachim Quoden. Er war jahrelang Abteilungsleiter Internationales beim deutschen Grünen Punkt DSD, bevor er Geschäftsführer der Grüne-Punkte-Lobby EXPRA wurde. Seiner Meinung nach mache es keinen Sinn, in Ländern ein Pfandsystem einzuführen, in denen es den Grünen Punkt gibt.
Wir haben Joachim Quoden gebeten, dazu noch einmal Stellung zu nehmen – ohne Erfolg.
Denn weniger Plastikflaschen würden für die Organisationen des Grünen Punkts wohl weniger Einnahmen, weniger Macht und Einfluss bedeuten.
Briefe von Österreichs Grünem Punkt an den Kanzler
Die Monopole der Grünen Punkte müssen anscheinend darum kämpfen, um zu überleben, mit einer recht erfolgreichen Lobby wie in Belgien oder Tschechien. In anderen Ländern setzte sich trotz Einflussnahme das Pfand durch, etwa in Österreich.
Auch die ARA ist ein ausgesprochener Pfandgegner. Im Winter 2019 verschickte sie sogenannte „Appellschreiben“ an Vertreter der Politik; darunter Bundeskanzler und ÖVP- Parteiobmann Sebastian Kurz. In diesen Schreiben heißt es: „Für die Menschen in Österreich bringt ein solches Einweg-Pfandsystem höhere Kosten, Kaufkraftbindung und eine erhebliche Reduktion der Bequemlichkeit in der Entsorgung.“
Die ARA hat gute Gründe, gegen das Pfand auf Einwegflaschen zu kämpfen. Sie verliert nach eigenen Angaben 34 Millionen Euro Lizenzeinnahmen, sollte ein Pfandsystem eingerichtet werden.
Trotz der Einflussnahme des Grünen Punkts in Österreich kam vor gut einem Jahr eine Studie im Auftrag des Umweltministeriums zum Ergebnis: ein Pfand auf Plastikflaschen sei die beste und sogar die günstigste Lösung, um die Sammelquote zu erreichen. So wird es nun kommen: Das Umweltministerium kündigte im September 2020 mit einem 3-Punkte-Plan auch ein Pfandsystem an.
Die ARA schreibt auf Anfrage, die Appellschreiben seien eine Einladung zum „offenen Diskurs“ gewesen. Und zum kommenden Pfand schreibt die ARA uns: „In einem integrierten Abfallwirtschaftssystem besteht die Gefahr, durch Parallelstrukturen und Convenience-Rückgang die Effizienz zu beeinträchtigen.“
In den Niederlanden war der Grüne Punkt ebenfalls erfolglos mit seiner Lobby gegen das Pfand. Genau wie in den anderen Ländern versuchte auch Afvalfonds, die niederländische Organisation des Grünen Punkts, das Pfand auf kleine PET-Flaschen zu verhindern. Vergeblich: Auch dort soll ab Sommer dieses Jahres Pfand auf 0,5-Literflaschen erhoben werden.
Zwei Sammelsysteme kämpfen in Italien um die PET-Flaschen
Ein Blick nach Italien zeigt, dass sich Alternativen zu den Monopolen der Grünen Punkte durchsetzen konnten. Dort war Giancarlo Longhi viele Jahre so etwas wie der Herrscher über den italienischen Müll, als Chef von Conai, dem italienischen Abfallmonopol. 2010 wechselte er die Seiten, um etwas für eine „wahre Kreislaufwirtschaft“ zu tun, wie er sagt.
Longhi ist jetzt einer der Chefs von Coripet, einem Zusammenschluss von Wasserabfüllern und Recyclern. Das Unternehmen stellt Rücknahme-Automaten für PET-Flaschen auf und kauft sie den Konsumenten ab – im Prinzip dasselbe wie ein Pfandsystem, nur dass zuvor kein Pfand entrichtet wurde.
Auch in Italien wehrte sich das Monopol der Abfallverwalter gegen den neuen Konkurrenten. So wurde eine Conai-Tochter von der Kartellbehörde gezwungen, mit Konkurrent Coripet zusammenzuarbeiten, um Recyclingziele zu erfüllen. Die Conai-Tochter wurde zudem im November 2020 wegen Wettbewerbsverzerrungen zu einer Strafe von 27 Millionen Euro verurteilt.
Ist das deutsche Pfandsystem die Lösung?
Die geplanten Sammelquoten für Plastikflaschen der EU hat Deutschland schon seit über 15 Jahren erfüllt, als das deutsche Pfandsystem eingerichtet wurde. Von den fast 500.000 Tonnen Plastikflaschen, die heute jährlich auf den Markt kommen, geben die Verbraucher über die „Deutsche Pfandgesellschaft“ fast 100 Prozent zurück.
Doch auch das deutsche Pfandsystem macht Ausnahmen: Wie jüngst das ARD-Magazin Monitor berichtete, sollen mit Milch gefüllte Plastikflaschen und auch Getränkekartons weiterhin im gelben Sack gesammelt werden – laut Monitor ein Erfolg der Milchlobby.
Und ob aus einer Flasche tatsächlich eine neue Flasche wird, ist in Deutschland gar nicht geregelt. Die Flaschen sind nach Rückgabe Eigentum des Handels, also von ALDI, Rewe und Co. Die Supermärkte können monopolartig entscheiden, welchen Recyclern sie gepresste Flaschen und Dosen verkaufen, und dürfen den Erlös behalten.
Die Recycler verkaufen ihr recyceltes PET wiederum auch an die Textilbranche oder Autohersteller. So muss für Plastikflaschen neues Plastik produziert werden. Zurzeit wird nur aus etwa jeder dritten PET-Flasche eine neue.
So würden auch die EU-Mitgliedstaaten gut daran tun, den Beispielen von Schweden und Finnland zu folgen: Dort ist gesetzlich geregelt, dass aus einer Flasche immer eine neue Flasche wird. Klaus Töpfer, der Erfinder des Grünen Punktes, sagt: „Die Kreislaufwirtschaft kann nie als hinreichend angesehen werden. Sie muss immer weiterentwickelt werden. Wir müssen mit unseren Ressourcen noch besser umgehen, als wir das damals gemacht haben.“
Diese Recherche wurde durch den IJ4EU und Journalismfund gefördert. In Kooperation mit Médor, Apache (BE) und dem EU Observer.