Zum Hintergrund unserer Recherche
CORRECTIV steht für fundierte Recherche zu Themen von allgemeiner Relevanz. Unser Ziel ist es, wichtige Diskussionen auf Basis geprüfter Fakten anzuschieben. So auch mit unserer Berichterstattung zu dem Abschuss des malayischen Passagierflugzeugs MH17 Mitte Juli über der Ostukraine.
In den Monaten nach dem Abschuss des Flugzeugs mit 298 Toten wurden viele unsachliche Gerüchte veröffentlicht – und als Fakten ausgegeben. Das war ein wichtiger Beweggrund für Correctiv, so viel Zeit in eine Ergebnis-offene Recherche zu investieren.
Investigative Recherchen stellt man nicht an, wenn man bereits im Vorfeld alle Fakten und Ergebnisse zu kennen glaubt. Auch wir hatten – wie ein Lesebriefschreiber im „Freitag“ — erste Grundannahmen, Thesen, die einem der gesunde Menschenverstand nahelegt. Aber im Gegensatz zu unseren Kritikern haben wir viele Monate intensiv daran gearbeitet, unsere Annahmen zu überprüfen. Und wurden dabei immer wieder selbst überrascht von den Ergebnissen unserer Recherchen.
Vor allem drei Vorwürfe sind uns nach Veröffentlichung unserer Rechercheergebnisse gemacht worden;
1) Dass wir die These nicht verfolgt haben, dass Flug MH17 von einem ukrainischen Kampfflugzeug abgeschossen wurde
2) Dass eine BUK-Lenkwaffe sehr wohl zwischen Zivil- und Kampfflugzeugen unterscheiden könne.
3) Dass weder ein Panzerkrieg tobte, noch dass BUK-Lenkwaffen im Einsatz waren.
Gern nehmen wir zu den Vorwürfen Stellung.
1) Kann Flug MH 17 von einem ukrainischen Kampfflugzeug abgeschossen worden sein?
Nein. Aus mehreren Gründen.
a) Die Zerstörungen am Flugzeug können nicht von einem Angriff aus der Luft stammen. Denn die Sprengkraft einer Luft-Luft-Rakete ist deutlich geringer als die Sprengkraft einer wesentlich größeren und schwereren Boden-Luft-Rakete. Die Boeing 777 – ein großes und massives Flugzeug — wurde durch die Sprengkraft der Rakete in mehrere Teile zerrissen. Das, so die von uns konsultierten Experten, könne nicht das Werk einer Luft-Luft-Rakete sein.
b) Zudem sucht sich eine russsiche oder ukrainische Luft-Luft-Rakete ihre Ziele mit Hilfe von Infrarot-Wärmequellen. Bei einem großen Passagierflugzeug sind das die Triebwerke. Die wurden aber nicht angegriffen.
c) Im russischen Fernsehen wurden die durchlöcherten Trümmerteile gezeigt und wurde behauptet, man sehe hier Spuren von Flugkanonensalven. Im niederländischen Untersuchungsbericht finden sich dazu keine Hinweise. Kampfpiloten bestätigen, dass ein Angriff aus der Luft zuerst mit einer Rakete erfolge. Nur wenn die Rakete ihr Ziel verfehle, werde die Attacke mit Kanonenfeuer fortgesetzt. Die Theorie eines Beschusses durch eine Flugkanone ist nicht haltbar.
d) Auch tauchte die Behauptung auf, Flug MH17 wurde von der Seite angegriffen. Auch das ist nicht belegbar. Fotos im niederländische Untersuchungsbericht zeigen, dass hochenergetische Objekte das Cockpitdach von außen durchschlugen und anschließend von innen den Cockpitboden durchlöcherten. Dieses Schadensbild erlaubt nur eine Schlussfolgerung: Dass die angreifende Rakete vor und oberhalb des Flugzeugs explodiert ist. Naturgemäß wurde auch die linke Cockpitseite durch die Schrapnellwolke beschädigt – was aber kein hinreichender Hinweis auf einen seitlichen Angriff ist.
e) Da Flug MH17 zweifelsfrei von vorn attackiert wurde, hätte ein attackierendes Kampfflugzeug aus dem russischen Luftraum kommen müssen. Das bestätigten Kampfpiloten aus dem Osten und dem Westen. Ein solches Kampfflugzeug wäre der russische Luftverteidigung aufgefallen.
f) Ein schwer wiegendes Argument ist zudem der Blick auf die von CORRECTIV und OpenDataCity erstellte Übersicht der zivilen Überflüge der Ostukraine. Eine Woche nach dem Abschuss von Flug MH17 flogen russische Airlines wieder über die Absturzstelle – während andere Fluggesellschaften das Krisengebiet mieden. Hätte tatsächlich ein ukrainischer Kampfjet Flug MH17 vom Himmel geholt – hätten dann nicht gerade die russischen Airlines die Gegend meiden müssen?
2) Konnten die BUK-Operateure zweifelsfrei erkennen, dass sie auf ein ziviles Flugzeug zielten?
Nein. Auch wir gingen, wie viele Leserbriefschreiber, anfangs davon aus, dass ein Luftabwehrsystem wie die BUK zwischen Militär- und Zivilflugzeugen unterscheiden kann. Wir mussten im Lauf unserer Recherche aber feststellen, dass dies nicht der Fall ist. Das bestätigten ehemalige BUK-Schützen, westliche Militärexperten und Führer der Separatisten. Das BUK-Raketensystem wurde in den 1970er Jahren für den Kriegseinsatz entwickelt. Im Krieg gibt es im Luftraum über dem Kampfgebiet nur Freunde und Feinde, aber keine neutralen Zivilmaschinen.
3) Gab es in der Ostukraine einen Panzerkrieg, der einen Einsatz der teuren BUK-Lenkwaffen gerechtfertigt hätte?
Eine unserer wichtigsten Festellungen war, das russische Panzer nicht ohne schlagkräftige Luftabwehr im Kampfgebiet operieren — also von BUK-Lenkwaffen begleitet werden. Ein Lehrsatz, den erfahrene Offiziere aus Russland und den NATO-Staaten zigfach bestätigt haben.
Natürlich tobte keine offene Panzerschlacht, wie etwa im Zweiten Weltkrieg, wo sich Hunderte oder sogar Tausende gepanzerter Fahrzeuge in einer offenen Feldschlacht gegenüberstanden. Aber: Im Ukraine-Konflikt waren Panzer zentral, um Städte und strategisch wichtige Punkte zu erobern und zu halten. Bereits Mitte Juni warnte die NATO vor russischen Panzern in Snizhne. Die russische Militärdoktrin griff: Kurz darauf setzte sich ein Konvoi mit BUK-Lenkwaffen von der westrussischen Stadt Kursk aus Richtung ukrainische Grenze in Bewegung.
4) Sind die Bilddokumente, Zeugen und Experten glaubwürdig?
a) Bilddokumente. Bellingcat hat in einer monatelangen Recherche Fotos und Videos gesucht, anaylsiert und systematisch verifziert. Wir sind zu allen Schauplätzen gefahren, die den Weg einer BUK-Abschussrampe am 17. Juli durch die Ostukraine zeigen, um deren Echtheit zu überprüfen. Und können bezeugen, dass sämtliche Bilddokumente tatsächlich an diesen Orten aufgenommen wurden. Und beweisen das mit eigenen Fotoaufnahmen.
b) Augenzeugen. Wir sind auf unserer Reise an den möglichen Abschussorten und haben dort Zeugen befragt. An zwei Tagen haben wir die Anwohner in einem nördlichen Stadtteil befragt. Wir haben an den Türen geklopft und Passanten angesprochen. Ein Teil der Menschen hatte so viel Angst, dass sie nichts gesagt haben. Andere sind nach einer Weile aufgetaut und haben erzählt, was sie gesehen und gehört haben – einen Knall, Rauch, eine Explosion, brennendes Gras. Am zweiten Tag fanden wir den Hauptzeugen, der das komplette Geschehen beschreiben konnte – unter Todesangst. Jeder, der das bezweifelt, möge hinfahren und sich selbst ein Bild machen.
c) Experten. Informantenschutz ist ein hohes Gut. Wir haben den besten europäischen Experten in Sachen postsowjetischer Luftverteidigung befragt. Er ist über jeden Zweifel erhaben. Wir haben uns entschieden, seine Aussagen zu verwerten – weil sie von unbestechlicher Qualität sind.