Gefährliche Keime

Undercover in der Charité

Zwölf Tage lang war unser Reporter Benedict Wermter verdeckt in der Berliner Charité. Als Pflegepraktikant hat sich Benedict im September in das größte Universitäts-Krankenhaus Europas eingeschleust. Wie geht die Charité mit Hygiene und Keimen um? Nicht immer sauber.

von Benedict Wermter

Vor der Stationsküche sehe ich Maria Müller* am Kaffeetisch stehen. Sie füllt ein Glas mit Kakao. Müller ist Patientin in der Charité, sie hat einen multiresistenten Keim. Damit sie keine anderen Patienten anstecken kann, wird sie eigentlich in ihrem Zimmer isoliert. Trotzdem läuft sie auf der Station herum. Sie benutzt auch die Behindertentoilette auf dem Gang. Nachts, erzählen die Schwestern, sei sie oft stundenlang im ganzen Haus unterwegs.

Bis zu 15.000 Menschen sterben nach offiziellen Zahlen jährlich in Deutschland an Krankenhaus-Infektionen. Tatsächlich sind es wohl viel mehr, haben Recherchen von DIE ZEIT, ZEIT ONLINE, der Funke-Mediengruppe und CORRECTIV ergeben. Als verdeckter Reporter von CORRECTIV bin ich zwölf Tage lang auf der Gastroenterologie der Charité im Berliner Wedding unterwegs. Auf dieser Station liegen vor allem Patienten mit Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts oder der Leber. Ich will herausfinden, wie die hygienische Versorgung im größten Universitätsklinikum Europas funktioniert.

Ich bewerbe mich als Praktikant und kann sofort anfangen. Offenbar brauche ich keine offizielle Einweisung in Pflege und Hygiene. Auf meiner Station spiele ich den tollpatschigen Spätzünder, der um einen Ausbildungsplatz in der Krankenpflege kämpft.

Knapp drei Wochen später werte ich aus, was ich erlebt habe. Ich habe zahlreiche verkeimte Patienten frei auf der Station herumlaufen sehen. Das Personal hat sich und andere nicht immer vor resistenten Erregern geschützt. Viele meiner Kollegen wirkten in ihrem Arbeitsalltag überfordert. Gleichzeitig habe ich Besucher und Patienten oft schlecht informiert erlebt. Viele infizierte Patienten habe ich auf die Keime angesprochen. Die meisten hatten entweder keine Ahnung oder verdrängten das Problem.


Hier gibt es unsere Reportage auch in lesefreundlicher Variante als eBook, für jeden kostenlos zum Download:

eBook – Undercover Charité, etwa 82 Seiten

Eine Kurzversion der Recherche ist heute bei den Kollegen der Berliner Morgenpost gedruckt worden.

Falls Sie Recherchen wie diese finanziell unterstützen möchten, können Sie hier Mitlied und damit ein Teil von CORRECTIV werden. Wir sind offiziell als gemeinnützig anerkannt, alle Mitgliedsbeiträge sind von der Steuer absetzbar.

[*alle Namen von Patienten sind zu deren Schutz geändert worden]

Montag, Schwesternzimmer, Tag 1

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Meine erste Morgenbesprechung. Es riecht nach Kaffee und Krankheit. An der Wand hängen Urlaubspläne. Auf dem Tisch steht Sekt und Süßes, geschenkt von den Patienten. Worte wie Teerstuhl oder Sammelurin geben einen Ausblick auf die kommenden zwölf Frühschichten.

Die Nachtschwester übergibt: Wir tragen Zimmer, Name, Diagnose in die Formulare ein. Meine größte Sorge sind die offenen Wunden, bei deren Anblick mir schwindelig wird. Ein Patient wird die nächsten Tage nicht überleben, gibt uns die Schwester mit auf den Weg. Bei einer Frau funktioniert der Harnkatheter nicht. Jemand spuckt Blut, ein gebrochener Zeh und ein gezogener Zahn. Raus geht es auf die beiden Gänge A und B, eine Einweisung gibt es für mich nicht.

Mir machen die ersten Tage in der Charité doppelt zu schaffen. Ich habe erstens noch nie in der Pflege gearbeitet und zweitens muss ich aufpassen, nicht aufzufliegen. Als Mann falle ich in der Pflege ohnehin schon auf. Meine Angst und mein Ekel helfen da nicht. Warum will jemand in die Pflege, der Probleme mit Blut und Wunden hat? Mein angelesenes Wissen zu multiresistenten Keimen muss ich einsetzen, um die richtigen Fragen zu stellen. Gleichzeitig darf ich nicht zu sehr bohren, nicht zu viel Wissen zeigen. Wenn die Schwestern misstrauisch werden, platzt die komplette Recherche.

Etwa jeder fünfte Deutsche trägt MRSA auf seiner Haut, den wohl bekanntesten multiresistenten Erreger. Durch offene Wunden, einen Katheter oder eine Operation dringen die Keime in die Blutbahn ein. Sind sie im Blut, ist man infiziert. Vor allem sehr junge, alte und schwache Patienten sterben an den Keimen. Bakterien wie MRSA sind resistent gegen die meisten Antibiotika. Sie sterben bei einer Behandlung nicht mehr ab, sondern fressen sich durch krankes Gewebe oder vergiften das Blut. Die Keime entstehen, weil in Krankenhäusern, bei ambulanten Ärzten und in der Tiermast zu viele Antibiotika benutzt werden.

Die tödlichen Keime verbreiten sich immer stärker. Das liegt auch an der mangelnden Hygiene in Krankenhäusern. Deshalb gehe ich als verdeckter Reporter in die Charité. Das, was ich hier als Pfleger hautnah erlebe, finde ich nur als Beteiligter heraus. Als jemand, der sich vorher alles zum Thema Hygiene angelesen hat, kann ich die Pfleger, Schwestern und Ärzte nicht nur beobachten – ich kann auch testen, wie viel sie über tödliche Keime und Hygieneregeln wissen.

Als Ort meiner verdeckten Recherche habe ich mir bewusst die Berliner Charité ausgesucht. Im Mittelalter ein riesiges Pesthaus, ist sie jetzt das größte Universitäts-Krankenhaus Europas. Vier Berliner Standorte, mehr als 3000 Betten, 13.000 Mitarbeiter, jedes Jahr 140.000 stationäre und 640.000 ambulante Fälle, mehr als eine Milliarde Euro Jahresumsatz.

Dienstag, Gänge A und B, Tag 2

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Ich teile Essen aus, fülle hunderte Spritzen, Kanülen und Katheter in passende Behälter. Dazu messe ich Blutzucker und Vitalwerte wie Druck und Puls. Die ganze Zeit arbeite ich unkontrolliert in direktem Kontakt mit den Patienten.

Die Keimzimmer sind mit einem gelben Warnschild im DIN A4-Format gekennzeichnet. Buchstaben darauf stehen für die Keime, die der Patient hat: Ein M steht für MRSA, ein V für VRE, ein 3M oder 4M für die Keime, die gegen drei beziehungsweise vier von vier Antibiotikasorten resistent sind. Über den Buchstaben steht: Vor dem Betreten bitte beim Personal melden. Während meiner Zeit besuchen dutzende Menschen die isolierten Patienten. Die meisten kommen täglich vorbei. Dass sich jemand beim Personal meldet, sehe ich kein einziges Mal.

Die Charité schreibt auf Anfrage von CORRECTIV im Anschluss an meine verdeckte Recherche, „alle Besucher sind dazu angehalten, sich vor dem Betreten von Isolierzimmern beim Personal zu melden.“

Die Keime machen mir Angst. In den ersten Tagen frage ich gewissenhaft nach Symptomen und Infektionswegen. Eine Schwester sagt mir, ich solle mich erst um die Keime kümmern, wenn ich die Berufswahl getroffen habe. Es kämen so schnell so viele neue Keime hinzu, dass niemand genau wisse, was gerade los ist. Eine andere Schwester sagt, ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen: „So schnell geht das nicht. Nur die Patienten — da haben es manche heute nicht und morgen schon.“

Kein Betriebsarzt, keine offiziellen Dokumente helfen mir anfangs im Umgang mit den Keimen. Nur eine Auszubildende gibt sich Mühe: „Die Gefahr, sich anzustecken, ist gering. Viel wichtiger ist es, die Keime nicht auf der Station zu verteilen.“ Die Charité setze auf Eigenverantwortung der Patienten. Die sollen angeblich selbst für Hygiene sorgen. So richtig sprechen möchte mit mir niemand über das Problem.

Die Aufgaben meiner Kollegen kann ich schnell an der Farbe ihrer Leibchen erkennen. Die Putzkräfte tragen rosa, Auszubildende grün, die Schwestern und Pfleger weiß oder blau. Die Ärzte tragen steifes, langes weiß. Die Haut der Patienten schimmert unter ihren Hemdchen gelb. Viele haben Probleme mit der Leber, Krebs, Hepatitis oder Zirrhosen. Wen ich schon vor der Schicht morgens um 6 Uhr vor dem Gebäude rauchen sehe, der hat meist einen langen Leidensweg. Andere hat es mitten aus dem Alltag über die Notaufnahme auf die Station verschlagen. Neben den Putzleuten, Pflegern und Ärzten kommen und gehen im dritten Stock auch Physiotherapeuten, Krankentransporter, Sozialarbeiter, Personalmanager und Besucher. Theoretisch müssen alle die Hygieneregeln befolgen, um sich und andere vor den Keimen zu schützen. Doch die Einhaltung wird so weit ich es beobachten kann von niemandem kontrolliert.

Mittwoch, auf den Zimmern, Tag 3
Mein Weg zur Arbeit führt mich auf dem Rad entlang der Osloer- und der Seestraße bis zum Virchow Klinikum, wo das Personal der Charité die U-Bahn verlässt und sich schweigend auf die Stationen verteilt. Im dritten Stock sammelt sich nach dem Umziehen das Team der Frühschicht im Schwesternzimmer. Um 6.30 Uhr geht es in die offizielle Morgenübergabe. Da ich keinen Dienstplan habe, weiß ich nie, mit wem ich zusammen arbeite. Die Schicht geht bis um 14.48 Uhr, auf die Minute genau. Mich schlaucht die Arbeit sehr. Am Nachmittag muss ich immer noch in die Redaktion, um die Beobachtungen mit den Kollegen zu teilen. Meist kann ich um 14 Uhr gehen, wenn die Schwestern es erlauben.

Ich messe Blutdruck, Puls, Temperatur und Blutzucker. Jetzt bin ich in direktem Kontakt mit den Keim-Patienten in den isolierten Zimmern. Die Auszubildende hat mir gezeigt, wie man mit der Stichlanzette den desinfizierten Finger des Diabetikers punktiert. Mit einem Ein-Weg-Teststreifen, der an das digitale Blutzuckermessgerät angeschlossen ist, ermittle ich einen Wert. Die Azubi legt Wert auf Handschuhe. Schließlich gehe es um Blut. Einen Tag vorher habe ich sie beim Blutzucker messen begleitet. Gegen Ende der Runde trägt sie keine Handschuhe mehr. Sie desinfiziert sich weder die Hände, noch desinfiziert sie das Gerät. Sie weiß, dass die Teststreifen eigentlich in den dafür vorgesehenen Behälter und nicht in den Mülleimer kommen.

Die Charité schreibt: „Das Tragen von Handschuhen bei möglichem Kontakt mit Blut, Sekreten und Exkreten ist eine grundlegende Forderung des Personalschutzes, die auch in der Charité konsequent umgesetzt wird.“

Im Schwesternzimmer liegt ein Hygieneordner, knapp 100 Seiten dick. Die Anweisungen an die Schwestern kommen von der Chef-Hygienikerin der Charité, Professor Petra Gastmeier. Das Wichtigste: Bei direktem Kontakt mit Patienten in Isolation und bei Kontakt mit seiner „unmittelbaren Umgebung“ müssen das Personal und ich immer Schutzkleidung tragen, Kittel und Handschuhe. Das bezieht sich auf Oberflächen und Gegenstände. Den Mund-Nasenschutz müssen wir tragen, wenn mit einer „möglichen Kontamination“ zu rechnen ist. Wenn der Patient beispielsweise hustet oder niest. Das sollen wir Patienten und Besuchern erklären. Die Umgebung des isolierten Patienten muss täglich wischdesinfiziert werden. Auch beim Transport sollen isolierte Patienten Schutzkleidung tragen.

Ich behandele die Patienten auf den isolierten Zimmern völlig unkontrolliert. Ich versuche mich dabei an die hygienischen Vorschriften zu halten, die ich ungenau finde. Erst viel später sagt mir jemand, dass ich das Blutzuckermessgerät eigentlich mit einem Handschuh schützen muss. Oder dass ich die Manschette vom Blutdruckmesser, die dem Patienten um den Arm gebunden wird, gelegentlich desinfizieren sollte. Und dass ich diese Gegenstände nicht auf das Bett der Patienten legen darf.

Die deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) gibt einen Hygieneleitfaden zur Blutzuckermessung heraus: Dort stelle ich erst nach meinem Praktikum fest: Für das Antiseptikum des Fingers gibt es eine Mindesteinwirkzeit, die nicht unterschritten werden darf. Auf Desinfektion der Hände und des Gerätes nach jeder Anwendung wird dort extra hingewiesen. Außerdem auf das Tragen von Handschuhen. Einen Handschuh als sterilen Schutz für den Blutzuckermesser erwähnt die DGKH dagegen nicht.

Handdesinfektion sei sehr wichtig, betonen verschiedene Schwestern mir gegenüber. Wie genau ich mir die Hände desinfizieren soll, sagt mir niemand. In den isolierten Zimmern sollen immer Handschuhe getragen werden, manchmal auch Kittel und Mundschutz, sagen die einen. „Ich habe den Patienten nicht berührt“, antwortet eine Schwester auf meine Frage, warum sie sich nicht die komplette Schutzkleidung angezogen habe, wenn sie doch in der unmittelbaren Umgebung des Patienten ist. Das hänge vom Kontakt mit dem Patienten und vom Keim ab.

Eine Auszubildende hält sich anders an die Vorgaben. Sie sagt: „Wir müssen uns vor jedem isolierten Zimmer den Schutz anziehen. Manche machen das und manche nicht. Das ist das Problem.“ Sie mache es, um sich daran zu gewöhnen. Sie könne schließlich jederzeit schulisch geprüft werden. Ich beobachte eine Schwester auf mehreren isolierten Zimmern komplett ohne Schutzkleidung. Auf meine Frage, ob wir uns nicht zumindest die Handschuhe anziehen sollten, antwortet sie: „Na, eigentlich immer, weißt du doch“.

An der Uniklinik in Essen hat eine Studie vor fünf Jahren die durchschnittlich zu verwendende Menge an Desinfektionsmitteln pro Patient mit dem tatsächlichen Verbrauch verglichen. Das Ergebnis: Der Verbrauch liegt weit unter der eigentlich nötigen Menge.

„Handdesinfektion ist die entscheidende Maßnahme, um einen Transfer von Keimen auf den Patienten zu verringern“, sagt Dr. Peter Walger, Sprecher der DGKH. Vor jedem Patientenkontakt und jeder sensiblen Handlung wie Katheter legen müssten die Hände desinfiziert werden. Wenn ich Dinge anfasse, die der Patient auch hätte anfassen können, wie Auffangbehälter oder das Bett, muss ich mir erst die Hände desinfizieren, bevor ich den Patienten anfasse. Dazu braucht es „gut erreichbare und feste Installationspunkte für Desinfektionsmittel in der unmittelbaren Umgebung des Patienten“, sagt Walger.

In der Praxis läuft es oft anders. Die anderen Pfleger und ich drücken das Desinfektionsmittel vor dem Patientenzimmer, fassen die Klinke an und helfen dann den Patienten aus dem Bett – ohne eine weitere Desinfektion. Mal desinfizieren wir uns vor, mal nach dem Patienten, manchmal gar nicht. In bester Erinnerung: Die unzähligen, kleinen Desinfektionsfläschchen im Arbeitsraum, die nach meinen Beobachtungen kaum jemand bei sich trägt. An den „festen Installationspunkten“ in den Zimmern steht zwar tragbares Desinfektionsmittel, in meiner Anwesenheit sehe ich Schwestern dieses aber nur benutzen, wenn die Behandlung unter die Haut geht.

Die Charité schreibt, die Händedesinfektion gemäß dem Modell der Weltgesundheitsorganisation WHO sei Grundlage jeder Patientenverorgung der Charité. „Alle Mitarbeiter werden hierin im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Fortbildungen geschult.“ Dort werde auch vermittelt, wie wichtig die Mindesteinwirkzeit der Desinfektionsmittel ist „und es wird routinemäßig auf deren Einhaltung im Stationsalltag geachtet.“

Ich traue mich nicht, andere auf Hygiene-Regeln hinzuweisen. Die Hackordnung ist klar. Die Stationsleitung hat mit Ihrer kräftigen Stimme das Sagen über die Schwestern, die teilweise schon mehr als zehn Jahre gemeinsam Dienst leisten. Der Kern der Mannschaft wirkt wie eine Familie. Darunter folgen die Pfleger, die so weit ich sie beobachten konnte ihre Arbeit ruhig machen, wenig sagen. Sie scheinen sich damit abgefunden zu haben, wenig Beachtung zu finden unter all den Frauen, die täglich über Brustkrebs oder Shopping diskutieren. Ganz unten in der Hackordnung kümmern sich die Servicekräfte um Essen und Material. Die Putzfrau, noch darunter, kommt nur selten ins Schwesternzimmer.

Irgendwo dazwischen kämpfen die Auszubildenden um Anerkennung. Noch in der ersten Woche gibt es Kompetenzgerangel: Eine ehrgeizige Auszubildende nimmt alles extra genau und möchte sich klar von mir – dem Praktikanten – abheben. Sie korrigiert mich wieder und wieder. Hier habe ich vergessen, das Licht auszumachen, dort vergessen, Material nachzufüllen. Mal war ich zu langsam, mal zu blöd.

Donnerstag, Isolierzimmer eins, Tag 4

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Ein neuer isolierter Patient. Der Mann hat ein Ganzkörperödem – überall sammelt sich Wasser. Er ist außerdem mit VRE in einer offenen Stelle am Steiß infiziert. Ich betrete das Zimmer, um den Blutzucker zu messen. Der Patient sagt, ich solle das Fenster öffnen. Er sei zum Sterben auf die Station gekommen. Vielleicht blendet mein Unterbewusstsein den Satz in diesem Moment aus, ich jedenfalls gehe ohne zu antworten aus dem Zimmer und schaue die nächsten Stunden bei der OP eines anderen Patienten zu.

„Der Kranke, der aus dem Bett fiel und starb“ ist kein Titel einer skandinavischen Komödie, sondern bittere Realität: Ein paar Stunden später, zurück auf der Station, berichten mehrere Schwestern von einem lauten Knall. Sie finden den über 100 Kilo schweren Mann auf der Seite liegend neben seinem Bett. Er muss notoperiert werden, trägt innere Blutungen davon und wird nie wieder nach einem geöffneten Fenster fragen. Vier Tage später sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Leiche. Man sagt, dass der Tod sich ankündigt. Die Vorstellung, der Patient habe sich absichtlich aus dem Bett fallen lassen, verfolgt mich bis in meine Träume.

Ich lerne, dass ein Gitter am Bett die Patienten dazu motiviert, aus dem Bett zu klettern. Eine kritische Fallhöhe, die man vermeiden will – mit offensichtlich dramatischen Kollateralschäden. Der bewusstlose Mann wird von seiner Frau und bis zu drei weiteren Angehörigen in seinen letzten Tagen fast unentwegt begleitet – ohne Schutzkleidung. Einige Schwestern berichten sogar, die Ehefrau des Patienten dusche ihn und übernachte in seinem Zimmer. Den Raum verlassen die Angehörigen nur, um sich am Kaffeetisch der Station zu bedienen. Bei Patientenkontakt – wie der Hilfe am Bett – müssen sich eigentlich auch die Besucher schützen. Ohne Schutzkleidung wird jede Hilfe am geliebten Ehemann oder Vater zur Gefahr für alle anderen.

Die Charité schreibt mir: „Besucher, die auf eigenen Wunsch pflegerische oder pflegeähnliche Tätigkeiten bei den Patienten durchführen, haben dieselben Schutzmaßnahmen einzuhalten, wie unsere Mitarbeiter. Die Besucher werden entsprechend aufgeklärt.“

Während der zwölf Tage, die ich verdeckt in der Charité unterwegs bin, stirbt noch ein anderer Patient. Der Mann hat mit Anfang 60 gesundheitlich „noch eine Chance bekommen“, sagt mir eine Schwester. Er ist stark depressiv und will nicht mehr leben. Nur noch das tägliche Capri-Eis scheint den „sterbenden Schwan“, wie eine Schwester ihn nennt, zu beglücken. Überraschend stirbt er während einer Untersuchung. Er hatte die Behandlung vorher mündlich verweigert, erst seine Frau hatte ihn überredet, den Eingriff doch machen zu lassen. Aus der Vollnarkose sei er nicht wieder aufgewacht, berichtet mir eine Schwester.

Beide nun toten Männer waren mit VRE infiziert und wurden isoliert. Bei beiden haben Teile des Personals und der Besucher die Schutzmaßnahmen willkürlich ausgelegt. Ein mit Keimen infizierter Patient lag neben dem Isolierzimmer einer der beiden Männer.

Würde die Arbeitskleidung der Schwestern es hergeben, dann wären die Ärmel hoch gekrempelt. Das eingespielte Team auf der Station packt gemeinsam an. Die Schwestern treffen sich abseits des Schichtdienstes zum Backen, fahren gemeinsam in den Urlaub oder organisieren Partyschiffe für Feiern mit befreundeten Stationen. Ihre Feinde sind schlechte Leasingkräfte, die für die Nachtschichten eingekauft werden, Studenten, die sich nicht ans Bett trauen, oder Physiotherapeutinnen, die unbequeme Patienten ignorieren.

Beim zweiten Frühstück um zehn Uhr sorgt auch schonmal ein Penis für Gelächter: Das Glied eines Mannes hatte sich in den Körper zurückgezogen. So war es für die Schwestern schwierig und lustig zugleich, den Harnkatheter zu legen. Patienten, die alkoholisiert zur Aufnahme erscheinen und in ihr Zimmer getragen werden müssen, machen die Schwestern dagegen richtig böse.

In der ersten Woche bekomme ich großen Respekt vor der Leistung der „kranken Schwestern“, so steht es auf einem Paar weißer Schuhe. Sie arbeiten nachts oder stehen sehr früh auf – jahrelang. Auch wenn einige von Ihnen oft genervt sind und sich derbe Scherze erlauben oder eine Schwester während der Schicht stundenlang Onlinespiele zockt, behandeln sie die Patienten gleich routiniert und wohlwollend, so mein Eindruck. „Das hier ist eine gute Station. Es gibt andere Stationen, da geht es viel heftiger zu. Da hat man keine Zeit für dich“, sagt eine Auszubildende mit erhobenem Finger zu mir.

Eine dieser unliebsamen Stationen liegt eine Etage tiefer. Wenn ich nach Medikamenten frage, die uns oben ausgegangen sind, wirkt das Personal unfreundlich auf mich und kurz angebunden. Es sieht nicht so ordentlich und sauber aus wie bei uns im dritten Stock. Auch im vierten Stock herrscht ein anderer Ton. Ich suche das Bett eines Patienten, der zu uns heruntergekommen ist. Nur kurz auf dem Gang höre ich eine Patientin wüten: „Alles totale Scheiße hier wieder heute mit dem Essen.“

Eine Schwester erzählt mir, sie habe schon im Virchow gelernt, als es noch nicht die Charité war. Damals sei alles wesentlich ruhiger und angenehmer gewesen, auch wegen der besseren Finanzierung. Von einer anderen Schwester bekomme ich den Unterschied zwischen Häusern im Osten und im Westen erklärt: Das Personal im Osten sei viel hierarchischer orientiert und unfreundlicher obendrein.

Auch ich habe schon schlechtere Krankenhäuser gesehen. Die Recherche von CORRECTIV baut auf Recherchen der Funke Mediengruppe auf. Mehrere CORRECTIV-Reporter arbeiteten damals für das Recherche-Ressort der Gruppe. Eine besorgte Pfarrerin hatte sich dort gemeldet. Die Krankenhaus-Seelsorgerin beklagte die Zunahme von MRSA-Fällen in den Häusern der Helios-Gruppe in Westdeutschland. Es gab dort offenbar Tote durch Keime. Helios ist einer der größten Krankenhaus-Konzerne Europas, hat im vergangenen Jahr 3,4 Milliarden Euro Umsatz gemacht.

Damals habe ich mich unter dem Vorwand, meine Großmutter dort behandeln zu lassen, in einem Helios-Haus in Duisburg umgesehen. Man zeigte mir überfüllte Zimmer und dreckige sanitäre Einrichtungen. Auf einer Intensivstation sah ich Ess-Besteck neben Desinfektionsmitteln, leere und volle Betten nebeneinander, einen total chaotischen Arbeitsraum.

Im Gegensatz zu den damals beobachteten Zuständen der Helios-Klinik in Duisburg scheint es auf meiner Charité-Station gut zu laufen. Trotzdem fallen mir mit der Zeit immer mehr Fehler auf. Das liegt sicher auch daran, dass viele Pfleger einfach überlastet sind. In einer Langzeitstudie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin fragten die Wissenschaftler im Jahr 2008 die Arbeitsbedingungen im Krankenhaus ab. Pfleger beurteilen die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit, also Patientenzahl und Dokumentationsaufwand, als gleich bleibend schlecht oder schlechter werdend.

Der Personalrat der Charité, Carsten Becker, bestätigt die Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse. Um Hygiene hoch und Infektionen niedrig zu halten, bräuchte es eine Mindestbesetzung an Personal und umfassende Reinigung bei ausreichender Finanzierung. Doch das passiere nicht. Durch befristete Arbeitsverhältnisse sowie den Einsatz von wenig geschultem Personal blieben die Probleme akut.

“Die Zahl der Keimpatienten nimmt zu. Und Desinfektion und Isolation bedeuten natürlich einen Mehraufwand“, sagt Carsten Becker. „Alle hygienischen Vorschriften einzuhalten, ist extrem aufwändig.“ Ein Problem: Zu wenige Pfleger pro Patient. Auf Intensivstationen sollte der Personalschlüssel eigentlich ein Pfleger pro zwei Patienten sein. „Ich kenne kein Krankenhaus in Deutschland, dass den stringent vorhält. In der Realität läuft es eher auf ein 1:4 hinaus.“

Überall herrsche Personalmangel. „Deutschland ist bei der Anzahl Patienten pro Pflegekraft das Schlusslicht, die rote Laterne“, sagt Becker. Das erzeuge Druck und Frustration, was dann dafür sorge, dass viele Pflegekräfte den Job wechseln.

Einige Schwestern erzählen mir beim Frühstück von Kolleginnen in anderen Häusern, die einen aggressiven Keim über Jahre nicht loswerden. Die Wäscherei in diesen Krankenhäusern sei nicht mehr in der Lage, die Keime mit speziellem Waschmittel zu bekämpfen. Kleinere Kliniken und Reha-Zentren könnten sich isolierte Räume nicht leisten und würden die Problematik einfach ignorieren. Wenn einige der Schwestern über Keime in Krankenhäusern sprechen, dann sagen sie, die Sache gerate richtig außer Kontrolle. Am besten wäre es, wenn alle Patienten, Personal und Besucher immer die Schutzkleidung tragen würden. Das sei aber zeitlich und ökonomisch nicht umsetzbar.

„Nicht jedes Haus hat genügend Kapazitäten für die Isolation“, sagt Peter Walger, der Sprecher der DGKH. Natürlich dürfe man Patienten eigentlich nicht abweisen oder sich nicht an die Isolation halten. Ausschließen könne man solches Fehlverhalten aber nie. Die Arbeitskleidung würde in der normalen Reinigung der Krankenhäuser nur keimreduzierend und nicht steril gewaschen. „Die Arbeitskleidung muss nicht steril sein, nur keimarm“, sagt Walger. „Die Keime sind nie auf Null.“

Montag, Glaskasten, Tag 6
Ich frage immer wieder nach hygienischen Vorschriften. Erst jetzt bekomme ich den Hygieneordner in die Hand gedrückt, zur Ansicht. In dem Ordner finde ich auch dutzendfach kopierte Informationsblätter für Patienten, die sich infiziert haben. Ich habe nicht gesehen, dass jemand diese Dokumente an Patienten oder deren Angehörige verteilt hat. Im Ordner finde ich Vorschriften für Abstrichserien bei Infizierten und für Screenings bei Kontakt- und Risikopatienten. In dem Ordner steht nicht, was passieren muss, wenn ein isolierter Patient sein Zimmer verlässt. Das ist für mich und offenbar auch für meine Kolleginnen ein großes Problem, wie sich schon bald zeigen wird.

Viele Informationen bekomme ich unter vier Augen zugesteckt. Keime scheinen ein Tabu zu sein. In der Charité höre ich von Problemen in der Chirurgie oder der Infektiologie. Problematisch seien immer Stationen mit vielen isolierten Zimmern oder sehr kranken Patienten, wie die Intensivstationen. Ich versuche für ein paar Tage auf einer Intensivstation zu arbeiten, werde aber abgewiesen. Es sei zu aufwendig, mich noch einmal in die Abläufe einer anderen Station einzuarbeiten. Das könne ich mit meiner Arbeitskraft nicht wett machen. „Ich möchte mich zumindest auf einer Intensivstation umsehen, damit ich bei der Bewerbung für die Ausbildung weiß, wie es dort abläuft“, lautet mein Vorwand für einen Ausflug auf die Intensiv nebenan am nächsten Tag.

Im Anschluss an die Schichten werte ich Sprachnotizen aus, die ich heimlich während der Arbeit im Treppenhaus oder auf einer der Toiletten aufgezeichnet habe. Ich höre mich gehetzt in mein Handy flüstern, wie mir eine Patientin von den Schmerzen durch Keime berichtet oder wie die Putzfrau mit dem Wischer von einem isolierten in ein normales Zimmer übergeht, ohne das Material zu wechseln. Nichts soll mir entgehen. Zusätzlich schreibe ich mit meinem Handy Notizen an meine Freundin.

Aus den Aufnahmen und Notizen schreibe ich das Rechercheprotokoll — ein journalistisches Gedankenprotokoll, das als Grundlage für spätere Texte dient. Jeden Nachmittag besprechen und unterschreiben wir das Protokoll in der Redaktion. Um uns juristisch abzusichern, trage ich die Notizen handschriftlich in einen gebunden Block ein und markiere jede Seite mit dem aktuellen Datum. Wenn wir durch sind, ist es draußen schon wieder dunkel. Abends gehen bei mir um 22 Uhr die Lichter aus. Um fünf Uhr morgens weckt mich mein Handy.

Dienstag, Intensivstation, Tag 7
Auch ich muss klingeln, um Einlass auf der Intensivstation zu bekommen. Niemand nimmt mich in Empfang. Ich sehe mir alles an, ungestört. Die geöffneten Münder in den leblosen Gesichtern, die piepsende Technik. Ohne Einweisung in die Hygiene und ohne offizielle Führung. Ein kurzes Hallo in den Glaskasten der Schwestern genügt.

Die Charité schreibt mir, es sei „nichts daran auszusetzen, wenn Kollegen, die sich auf der Station auskennen und die klar festgelegte Aufgaben haben, nach dem Einlass nicht in Empfang genommen werden.“

Wieder zurück auf der Station beobachte ich eine Schwester bei einer Neuaufnahme, die isoliert werden muss. Sie sagt dem Mann, wo seine eigene Toilette ist. Was sie ihm nicht sagt: Wie er sich desinfiziert, was er für einen Keim hat, wie die Isolierung funktioniert. Keine Informationszettel aus dem Hygieneordner, die einsam auf ihren Einsatz warten.

Peter Walger von der DGKH sagt, dass keine schriftliche oder mündliche Bestätigung des Patienten erforderlich ist, über Hygiene und Keime aufgeklärt worden zu sein. Zudem gebe es keine einheitliche Vorgehensweise zur Information der Patienten.

Die Charité schreibt mir, es gebe „klar festgelegte Vorgehensweisen und Regeln, um sicherzustellen, dass Patienten und Besucher die grundlegenden Hygiene-Maßnahmen einhalten.“ Dazu seien Flyer zu den spezifischen Hygieneproblemen auf allen Stationen verfügbar „und werden denjenigen Patienten ausgehändigt, die sie betreffen.“

Manchmal laufe ich am Glaskasten des Personals vorbei und spüre die Blicke der Schwestern. Ich frage mich dann, ob sie längst wissen, dass ich ein verdeckter Reporter bin. Und mich trotzdem gewähren lassen. Es sind nur Momentaufnahmen, die mich unsicher machen. Wenn eine Schwester zu der anderen sagt: „Oh Gott, das wusste ich nicht“ und sie verstummen, wenn ich um die Ecke komme. Oder wenn ich gefragt werde, wie ich denn auf diese Station gekommen sei.

Eine Google-Suche mit meinem Namen hätte mich auffliegen lassen: Ganz oben stehe ich in Verbindung mit Recherchen im Krankenhaus aus dem Jahr 2013. Das macht mich unsicher, lässt mich auf den Gängen manchmal die Schwestern meiden. Dann wiederum wird klar, dass niemand einen Verdacht hegt und dass mein Schauspiel als etwas verwirrter Versager, der in der Pflege Fuß fassen will, funktioniert. So erklärt mir eine der Schwestern wie einem Grundschüler, dass man traurig ist, wenn man ins Krankenhaus muss.

Maria Müllers große Leidenschaft sind Tätowierungen. Mit Anfang 20 beginnt sie damit, Farbe in ihren eigenen und in die Körper anderer zu ritzen. Heute ergeben die vielen, kleinen Bilder keinen Sinn mehr – nur der Sensenmann auf dem linken Unterarm ist gut zu erkennen. Seit mehr als 20 Jahren dominieren Drogen Müllers Leben – besonders Heroin. Als ich sie auf der Station treffe, ist sie schon länger als einen Monat dort. Sie hat Krebs, Probleme mit der Leber, Diabetes und nimmt Mittel ein, die Heroin ersetzen. Hinzu kommt ein Abszess unter der Gürtellinie. Dort hat sich VRE eingenistet, der gefährliche, multiresistente Darmkeim.

Ich sehe diese Frau immer wieder im Bademantel und mit weißem Turban über die Station hinken. Sie spricht mit metallischer Stimme, langsam und leise. Ihre Haut schimmert fahl und gelblich, darauf die vernarbten, blassen Tattoos. Das Gesicht ist eingefallen und faltig, aus dem Hals schauen unter einem Pflaster die Venenkatheter hervor. Maria Müller ist Anfang 40.

Eine ältere Dame, die mit zwei multiresistenten Erregern infiziert ist, erzählt mir von großen Schmerzen in der Leiste. Dort attackiere MRSA eine offene Wunde. Den Keim habe sie vom Benjamin Franklin Klinikum mitgebracht, erzählt sie, einem anderen Haus der Charité. Ihre Familie reagiere hysterisch und komme sie nicht mehr besuchen. Die Frau liegt einsam in ihrem isolierten Zimmer, kann sich nicht bewegen und braucht künstlichen Sauerstoff. Dazu hat sie einen Dekubitus, eine wundgelegene Stelle am Gesäß, die mit VRE infiziert ist. Die Dame muss intensiv gepflegt werden.

Ich beobachte, wie der Dame ohne Schutzkleidung das Essen gebracht wird, wie sie dabei berührt wird. Ihre leeren Wasserflaschen kommen in einen Kasten vor der Küche, der für alle frei zugänglich ist. Wenn der Geschirrwagen bereits abgeholt worden ist, legen wir ihr Geschirr auf einen Tisch vor der Küche. Auch Flaschen und Geschirr aus anderen isolierten Räumen wird zum Teil so unkontrolliert gesammelt.

„Man muss sich mindestens die Hände desinfizieren, sollte aber einen Handschuh bei Umgang mit Tablett und Flaschen aus isolierten Zimmern überziehen“, so lautet die offizielle Erklärung des Experten von der DGKH. Peter Walger ist sich am Telefon sicher: „Das Geschirr wird unmittelbar in einem Spülraum entsorgt. Es kann nicht passieren, dass Flaschen in einem Kasten auf der Station gesammelt werden, so wie man es privat auch macht. Die Flaschen werden so entsorgt, dass sie nicht von anderen angefasst werden können.“ Die Gefahr einer Übertragung von Keimen durch Flaschen sei grundsätzlich aber gering.

Die Charité schreibt, benutzte Gegenstände würden grundsätzlich in einer Weise entsorgt, „die Kreuzkontaminationen oder andere Risiken für Mitpatienten weitestgehend ausschließt. Dazu gehören u.a. die Trennung von Versorgungswegen und die Vermeidung einer offenen Zwischenlagerung. In Ausnahmesituationen erfolgt eine gezielte Desinfektion potentiell kontaminierter Flächen.“

Auch Maria Müller, die Frau mit dem Sensenmann-Tattoo, wird wegen des Keimes isoliert. In ihrem Krankenzimmer stapeln sich auf dem Tisch und am Bett Bücher, Süßigkeiten, persönliche Gegenstände. Die Putzfrau sehe ich immer nur den Boden schrubben. Während meines Praktikums sehe ich Müller oft auf den Gängen. Sie sitzt auf den Holzstühlen vor dem Glaskasten oder geht auf die Waage und legt ihren Bademantel auf den Kopierer. Ein anderes Mal sehe ich sie, wie sie die frische Wäsche auf dem Gang nach einem passenden Hemdchen durchsucht. Dann wiederum macht sie sich am Kaffeetisch auf dem Gang zu schaffen. Sie fasst Besteck an, Gläser, den Kakao. Sie hält sich am Geländer auf dem Gang fest, geht auf die Behindertentoilette. Eine Schwester sagt mir, sie könne nachts schlecht schlafen. Sie sei dann stundenlang im ganzen Haus unterwegs.

Nach Aussage unseres Experten ist der Ausgang von isolierten Patienten streng geregelt, aber nicht verboten. „Isolierte Patienten dürfen das Zimmer nicht alleine und unkontrolliert verlassen“, sagt Walger. Die Patienten würden trainiert und informiert. Vom Übertragungsrisiko und vom Keim sei dann abhängig, wie frei sich die Patienten auf der Station bewegen können. Bei Durchfall zum Beispiel sollte man das Zimmer nicht verlassen und im Haus unterwegs sein, wenn keine eigene Toilette in der Nähe ist.

Die Charité schreibt, dass infizierte Patienten nur in seltenen, gut begründeten Ausnahmen „überhaupt ihr Zimmer verlassen“. Bei kolonisierten Patienten, also Keimträgern ohne Infektion, könne man die Bewegungsfreiheit nur im Rahmen der gesetzlichen Grenzen einschränken. „Selbstverständlich erklären wir aber unseren besiedelten Patienten, wie sie sich zu verhalten haben.“ Man erkläre Patienten grundsätzlich, dass sie „sich die Hände zu desinfizieren haben, wenn sie ihr Zimmer verlassen“. Die Patienten bekämen „je nach Erreger und Besiedlungsart spezifische Hygieneregeln mitgeteilt.“

Die Schwestern diskutieren diese Probleme im Glaskasten: „Die Katze beißt sich in den Schwanz, wenn wir uns die Pelle anziehen sollen und die müssen sich nur die Hände desinfizieren, wenn die auf dem Gang sind“, sagt die Schwester aus Jochen Schmidts Zimmer. Andere beharren darauf, dass sich diese Patienten lieber die Hände desinfizieren sollten, statt Handschuhe anzuziehen: „Wer weiß, wo die mit den Handschuhen überall dran waren.“ Wenn ein Patient in Isolation sein Zimmer verlässt, sind einige der Schwestern uneinig, was passieren muss. Sie sind irritiert: Noch vor einigen Wochen hätten die isolierten Patienten die komplette Schutzkleidung tragen müssen.

Die Charité schreibt, alle Mitarbeiter wüssten über die Hygiene-Regeln Bescheid. Unklarheiten in Einzelfällen könnten über den Leitfaden im Intranet und über den Kontakt zur Hygienebeauftragten oder zu Hygienefachkräften geklärt werden.

Ein Patient wundert sich, dass er noch beim letzten Besuch Schutzkleidung tragen musste. Die Stationsleitung beruhigt uns: Sie möchte eine Fortbildung zur Hygiene veranlassen. Fortbildungen finden verpflichtend statt, die Anwesenheit wird schriftlich festgehalten, sagt der Sprecher der DGKH, Peter Walger. „Ob das in der Realität so eingehalten wird, ist eine zweite Frage.“ Die Charité schreibt: „Alle Mitarbeiter unterliegen der Fortbildungspflicht und werden regelmäßig geschult.“ Ein bis zwei Mal im Jahr würden solche Schulungen flexibel in kleinen Gruppen stattfinden. Die Teilnahme, so die Charité, sei in der Regel verpflichtend.

Vor allem immunschwache Patienten können mit multiresistenten Keimen riesige Probleme bekommen. Frank Meier ist unheilbar krank. Der fast 80-Jährige hat Bauchspeicheldrüsenkrebs, sagt mir eine Schwester. Ich sehe ihn tagelang komatös in seinem Bett liegen. Später, bei Bewusstsein, gibt er sich kämpferisch. Als letzter Überlebender einer von Krebs geplagten Familie will er wieder nach Hause an den Teich mit den Koi-Karpfen. Er atmet sehr schwer. Ich wasche ihn, er bezeichnet mich als seinen „persönlichen Assistenten“.

Meier möchte operiert werden. Eine Schwester sagt: „Wenn die das Messer noch einmal ansetzen, bleibt der auf dem Tisch.“ Die Krankenkasse würde dann die Kosten für die Behandlung nicht übernehmen, so dass die Charité darauf sitzen bleibt.

Meier liegt einfach da in seinem Bett, Venen- und Harnkatheter am Körper, keine Bücher, der Fernseher ist aus. Er starrt aus dem Fenster, sieht eine Krähe auf dem Dach. „Da sitzt mein Freund.“ Meier ist pflegebedürftig. Eine Keiminfektion wäre für die Gesundheit des Mannes wohl lebensbedrohlich. Meier und sein Bettnachbar, dem „die Infizierten“ große Sorgen bereiten, sind umgeben von drei isolierten Zimmern. Meiers Bett wird nach meinen Beobachtungen nicht frisch bezogen, seine „unmittelbare Umgebung“ nicht gereinigt.

Die Charité schreibt: „Wenn jeder Patient in einem eigenen Zimmer isoliert wurde, ist dies aus krankenhaushygienischer Sicht nicht zu beanstanden.“

In der zweiten Woche verliere ich den Respekt der ersten Tage. Ich wundere mich, wie mechanisch und rabiat einige der Schwestern mit den Patienten umgehen. Bei Fragen der Patienten zucken sie zum Teil mit den Achseln oder geben patzige Antworten. Einige Schwestern und Pfleger scheinen extrem genervt zu sein vom Arbeitsaufwand, besonders vom Papierkram.

Ein Pfleger bezeichnet einen Patienten als Alkoholiker und dummen Idioten, weil der nach einem Becher für seine Tabletten fragt. Der Pfleger hatte ihm die Tabletten zuvor blank auf den Tisch geworfen, erzählt mir der Patient. Die Patienten können über einen roten Knopf mit der Pflege kommunizieren. Ich sehe diese Knöpfe oft lange gleichzeitig leuchten. Dann ist es zum Beispiel „nur ein Patient, der Insulin braucht“, damit er essen kann. Dieser Patient wartet dann stundenlang.

Die Charité schreibt, dass „der korrekte Umgang mit oralen Medikamenten“ bereits in der Ausbildung gelehrt und individuelles Fehlverhalten korrigiert werde.

Für die Station gibt es eine eigene Putzfrau. Die sagt, sie habe zuvor auf der Intensivstation geputzt. Für die Arbeit dort sei ihr Herz aber zu schwach. Zu viel Leid und zu viele Tote. Ich frage nach Putzplänen oder offiziellen Anordnungen, an die sie sich halten muss. Es gebe keine Pläne, sie sei für die Station verantwortlich und was sie heute nicht schaffe, müsse sie eben an den anderen Tagen erledigen.

Die Frau durchläuft gründlich abwechselnd isolierte und normale Zimmer – mit dem selben Material. Unterstützt werden die Reinigungskräfte von Desinfektoren, welche die zu isolierenden Räume fachgerecht einrichten und reinigen. Ein Patient in einem isolierten Zimmer regt sich später über einen Pfleger auf, der ihm Tabletten in einer Nierenschale gegeben hätte, die schon vor seinem Einzug in das Zimmer im Raum gelegen hätte. Diese habe der Desinfektor offenbar übersehen.

Die Charité schreibt, die Wischdesinfektion der direkten Patientenumgebung gehöre zu den festen Aufgaben der Reinigungskräfte. Medizinische Geräte würden dagegen „mindestens einmal täglich vom Pflegepersonal wischdesinfiziert“.

Dienstag, Arbeitsraum, noch immer Tag 7

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Eine neu aufgenommene Patientin wird auf der Station wie eine alte Freundin begrüßt. Umarmungen, Küsschen links, Küsschen rechts. Die Station ist ihr Catwalk, den Arbeitsraum kennt sie besser als ich. Sie weiß, in welchem Schrank die besten Pflaster liegen. Ein wenig später folge ich dem massiven Parfumduft der Diva bis an das Ende von Gang A. Verwundert stehe ich vor einem geöffneten Isolierzimmer. Aus dem Zimmer tönt Jazzmusik, bunte Tulpen dekorieren den Tisch am Fenster. Hier finde ich auch den Ganzkörperspiegel, der eigentlich im Arbeitsraum steht. Ich frage sie nach den beiden Keimen, die sie in sich trägt. Sie winkt ab. Keine Auskunft, nicht so wichtig.

Die Charité schreibt mir später, der Zugang zu den Arbeitsräumen sei für alle Patienten eingeschränkt. „Sofern sich Patienten nicht daran halten, werden sie darauf hingewiesen.“

Viele isolierte Patienten sind nur Träger der Keime. Sie haben keine Infektion. Viele wissen nicht, was die Keime bedeuten, die sie in sich oder auf der Haut tragen. Sie kennen oft die Abkürzungen für die Keime nicht oder können die Keime nicht aussprechen. Die Isolation empfinden die von mir beobachteten Patienten als lästig und unangenehm. Sie versuchen, die Problematik herunterzuspielen oder interessieren sich wenig für die Risiken der Keime.

In einem anderen Isolierzimmer treffe ich ein freundliches, älteres, türkisches Ehepaar. Die Frau des isolierten Patienten ist Dauergast in seinem Zimmer und übernachtet dort auch gelegentlich. Das Ehepaar bewegt sich oft auf dem Gang. Besonders gerne bereitet einer der beiden frischen Kaffee am Kaffeetisch auf dem Gang zu. Die Hände desinfizieren sie sich offenbar nicht. In der zweiten Woche sprechen wir: Das Ehepaar weiß nicht, was für einen Keim der Mann hat und wo er Träger des Keims geworden ist. Ich weiß von einer Schwester, dass er unter Verdacht stand, sich VRE eingefangen zu haben. Der Verdacht bestätigte sich jedoch nicht und der Mann kam in ein normales Doppelzimmer. Dann stellte sich heraus: Er trägt einen anderen Keim in sich — sein Bettnachbar ist nun Kontaktpatient und muss beobachtet werden. Das Ehepaar erzählt noch, dass ihr Bett seit über einer Woche nicht frisch bezogen worden sei.

Die Charité schreibt, Besucher dürften „grundsätzlich nicht in den Patientenzimmern übernachten. Ausnahmen sind nur bei Kindern und sterbenden Patienten unter Berücksichtigung besonderer Hygienemaßenahmen vorstellbar.“ Beim Verlassen des Zimmers sei die hygienische Händedesinfektion zudem „eine der grundlegenden Forderungen an alle Besucher von Patienten, die mit multiresistenten Keimen besiedelt oder infiziert sind.“ Der Wechsel der Bettwäsche erfolge nach individuellen Kriterien.

Mittwoch, Gang B, Tag 8
Vor mir sitzt ein hagerer Mann mit eingefallenem Gesicht und rundem Rücken auf dem Bett in seinem Zimmer. Jochen Schmidt erzählt mir von seiner Infektion mit dem multiresistenten Keim MRSA. Ich trage Mund-Nasenschutz, Kittel und Handschuhe. Dann betritt eine Krankenschwester das isolierte Zimmer. Sie trägt keine Schutzkleidung, keine Handschuhe, keinen Mundschutz.

Jochen Schmidt erzählt mir seine Keim-Geschichte. Als Schmidts Herz schlapp macht, wird es in der Charité in Berlin ausgetauscht. Bei der Transplantation bekommt Schmidt zu wenig Sauerstoff. Das schädigt seine Nieren, seine Leber stirbt zur Hälfte ab. Er infiziert sich bei der Operation mit multiresistenten Erregern. Niemand bemerkt, dass sich MRSA auf seine Bronchien legt. Eines nachts, erzählt er, wird er wach, kann nicht mehr atmen, wird mit dem Helikopter ins Krankenhaus gebracht und notoperiert.

Seit der Transplantation muss er Immunsuppressiva nehmen. Die schalten das Abwehrsystem des Körpers aus und sollen seinem Körper helfen, das neue Herz zu akzeptieren. Schmidt ist jetzt Risikopatient, darf sich auf gar keinen Fall mit schweren Krankheiten oder weiteren Keimen infizieren. Dennoch, sagt Schmidt, stünden ständig Ärzte ohne Schutzkleidung vor ihm. „Sie glauben doch nicht, dass die Ärzte sich einen Mundschutz anziehen. Die sind doch über alles erhaben.“ Schmidt ist schwach, hat Schmerzen in den Beinen und kann kaum laufen. Sein Gesicht ist frei von Emotionen. Er lacht nicht. Nie.

Die Charité schreibt auf meine Anfrage, es müsse „immer die empfohlene Schutzkleidung getragen werden“ wenn mit „direktem Kontakt zum Patienten oder seiner unmittelbaren Umgebung“ zu rechnen sei. „Wenn mit Kontamination zu rechnen ist, muss grundsätzlich ein Mund-Nasen-Schutz getragen werden. Dies ist den Mitarbeitern bekannt und wird grundsätzlich so praktiziert.“ Die Charité schreibt zudem, das „grundsätzlich nicht bei allen immunsuppressiven Patienten eine Umkehrisolierung zu empfehlen“ sei. Dies hänge von der Grunderkrankung, den Therapien und dem Grad der Immunsuppression ab.

Ein junger Patient aus der Intensivstation wird auf die Station geschoben. Noch im Bett liegend weist er auf seine Immunschwäche hin. Stark immunsupprimierte Patienten müssen isoliert werden: Sie kommen in die sogenannte „Umkehr-Iso“, eine präventive Isolation, die sich nicht von der anderen Isolation unterscheidet. In diesem Fall sollen der Mann und alle Kontaktpersonen den Mund-Nasenschutz tragen. Er sitzt eine Stunde später mit seinen Eltern im Aufenthaltsraum – ohne jeden Schutz.

Die Charité schreibt, dass „nicht bei allen immunsupprimierten Patienten eine Umkehrisolierung zu empfehlen“ sei.

Ein anderer Mann steht nachts auf dem Flur, sprachlos wippt er von einem Bein auf das andere. Dann fällt das durchnässte linke Hosenbein des knapp zwei Meter großen Mannes auf. So erzählt es die Nachtschwester am nächsten Morgen. In seinem Zimmer: eine Spur Kot, vom Bett bis zur Tür. Dem Mann sei die Leber „ausgestiegen“, die Leber habe die Funktion zeitweise einstellt. Toxische Stoffe wie Ammoniak haben sich im Körper gesammelt, das hat eine Enzephalopathie ausgelöst — eine reversible Funktionsstörung des Gehirns, bei der der Betroffene verwirrt und hilflos erscheint.

Der Mann ist durch die Enzephalopathie, hohes Fieber und fehlende weiße Blutkörperchen stark immungeschwächt und muss vor den gefährlichen Keimen geschützt werden. Auch er soll in die Umkehr-Iso, bis sich das Fieber gelegt hat und die Leber wieder arbeitet. Er wird isoliert, bis sich seine Werte stabilisiert haben. Dann wird die Isolation aufgehoben, bis sich seine Werte wieder verschlechtern. Mich irritiert, dass der Mann nicht einfach länger in der Umkehr-Iso geblieben ist.

„Zum Teil wird die Notwendigkeit der Umkehrisolierung von Laborwerten […] im Blut abhängig gemacht“, schreibt mir die Charité. „Die Entwicklung dieser Werte ist nicht immer vorhersehbar, weshalb in Einzelfällen eine Wiederaufnahme von Maßnahmen notwendig wird.“

Donnerstag, Arbeitsraum, Tag 9

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Immer öfter spüre ich den Schweiß unter meinem grünen Hemdchen und sehne mich nach einer warmen Mahlzeit zu Hause. Ich muss neben dem Dienst am Bett ständig auf Abruf sein. Das Pflegepersonal erledigt darüber hinaus viel Papierkram, bestellt Material und organisiert die Aufnahmen. Ich sehe meine Kollegen ständig die Patientendaten und Medikamentengaben am Computer digitalisieren und zu den Betten rennen. Dazwischen gibt es lebensmüde Patienten, trauernde Angehörige und Neuaufnahmen, die stundenlang im Wartezimmer hocken und protestieren. Es ist die große Reise nach Jerusalem, die vom Glaskasten aus organisiert werden muss.

Ein großes Problem: Untersuchungen planen. Ich lasse einen schwachen Patienten vor einer Darmspiegelung literweise Abführmittel trinken und verweigere ihm das Essen. Stunden später die Ansage: „Die Untersuchung kann leider heute doch nicht stattfinden.“ An manchen Tagen werden etliche Untersuchungen verschoben. Die Patienten sind frustriert, laufen auf den Gängen auf und ab und fragen nach den Ärzten. „Such dir was anderes für die Ausbildung. Das ist die letzte popelige Klitsche hier“, offenbart mir ein Pfleger in der Umkleide, als wir über die abgesagten Untersuchungen sprechen.

Die Charité schreibt mir, dass in Einzelfällen die Notfälle nunmal vorgezogen werden müssten. „Hierdurch bedingt kann es leider gelegentlich zu Verschiebungen/Verspätungen geplanter Untersuchungen kommen.“

Notaufnahmen, zum Teil offenbar chaotische Organisation – und obendrauf der Aufwand für die Isolation der verkeimten Patienten. Während meines Praktikums sind von den 30 Patienten im Schnitt etwa acht in Isolation. Einige Schwestern blasen bei jedem neuen Keimpatienten erstmal die Backen auf. Wieder dauert es, bis die Räume vorbereitet sind, wieder müssen wir den zusätzlichen Hygiene-Aufwand irgendwie bewältigen.

Montag, Mittelallee, Tag 11

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Auf dem Weg zur Wäscherei berichtet mir eine Auszubildende von einer anderen Station, auf der ausschließlich isolierte Räume sind. „Das ist voll nervig da. Man muss sich vor jedem Raum die Schutzkleidung anziehen. Glaub mir, keiner hat da Bock drauf.“ Besonders ältere Mitarbeiter würden das nicht einhalten. Das habe sie auf verschiedenen Stationen beobachten können. Auch sie habe anfangs Angst vor den Keimen gehabt. Das habe sich aber schnell gelegt.

Auch wenn die Auszubildenden ihre Angst vor den Keimen offenbar schnell verlieren, missfällt einigen der Umgang mit Maria Müller, der isolierten Frau mit den Tätowierungen, die gerne auf der Station unterwegs ist. Selbst wenn isolierte Patienten ihr Zimmer grundsätzlich verlassen dürfen, könne man die Frau so nicht umherlaufen lassen. „Ich würde die ins Zimmer sperren“, sagt eine Schülerin. Einige der jungen Auszubildenden konfrontieren damit auch ältere Schwestern und beschweren sich über die wandernde Keimpatientin.

Während der Morgenbesprechung fordert Müller mit der Krücke an den Glaskasten klopfend ihr Polamidol ein, den Ersatzstoff für Heroin, ohne den sie ruppig wird und der sie müde macht. Ein Pfleger erzählt, dass ein wichtiges Medikament im Wert von tausenden Euro entsorgt werden musste, weil Müller betäubt im Bett liegend die zeitgerechte Einnahme versäumte. Ein Assistenzarzt zeigt mir später die Tests auf Antibiotika, die gegen ihren VRE-Darmkeim wirken. Von über 20 Antibiotikasorten war ihr Keim nur gegen einen Stoff sensibel. Dieser Stoff sei dann sehr, sehr teuer.

In der dritten Woche – gegen Ende meines Praktikums – merke ich, wie ich selbst abstumpfe. Die schwarzen, giftigen Ausscheidungen der Kranken, den Teerstuhl, kann ich problemlos beseitigen. Den beißend riechenden Sammelurin, über den die gesamte Ausscheidungsmenge eines Patienten über eine bestimmte Zeit kontrolliert wird, trage ich unbeeindruckt in den Arbeitsraum. Ich wasche ohne Probleme Menschen im Intimbereich. Auch wird mir nicht mehr schwindelig, wenn ich Nadeln in Arme oder Portkatheter in die Brust wandern sehe. Die Arbeit ist zur Routine geworden. Die Routine, die ich auch bei einigen Schwestern bemerke. Die Routine, die offenbar zur Fahrlässigkeit verleitet.

Erst in den Berichten an meine Kollegen in der Redaktion fällt mir auf, wie unreflektiert ich in der Charité stundenlang in der Pflege versunken bin. Wie ich der Macht der Gewohnheit offensichtlich schon nach wenigen Tagen folge und sich dabei kleine, möglicherweise fatale Fehler einschleichen. Auch ich vergesse ab und zu die Handschuhe und werde nachlässig bei der Handdesinfektion.

Wenn Patienten aus der Isolation die Station verlassen, müssen die nächsten, die sich mit dem Patienten beschäftigen, über die Keimbelastung informiert werden. Dafür gibt es spezielle Formulare. Für den Transport gelten die selben hygienischen Standards wie für isolierte Zimmer. Das ist aufwändig. Deshalb sollen Keimpatienten so selten wie möglich transportiert werden. Einen Krankentransporter beeindrucken die Sicherheitsmaßnahmen in meiner Gegenwart nicht: „Was hat er denn? Einen VRE? Halb so wild. Standard.“

Einige Patienten halten sich eben noch in ihren isolierten Zimmern auf, dann sitzen sie im vollen Aufenthaltsraum neben neuen Patienten, denen von Assistenzärzten Blut abgenommen wird. „Ein solches Vorgehen ist nach unseren Vorgaben und Regeln nicht vorgesehen“, schreibt mir hierauf die Charité.

Dienstag, isoliertes Zimmer Gang A, Tag 12, letzter Tag

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Ich stehe in der Tür zu Maria Müllers Zimmer. Ihre Entlassung steht bevor. Ein Haus für betreutes Wohnen soll die nächste Station sein, für soziale Härtefälle mit dicker Krankenakte. Dort wäre Müller nicht isoliert, im Gegenteil. Sie stünde in Kontakt mit vielen Menschen, die aus der Drogenszene stammen. Sie hat Angst, wieder an die Nadel zu kommen, sagt sie im Dämmerzustand in ihrem Bett. Die Alternative ist ein Platz in einer Reha-Einrichtung in einer anderen Stadt. Doch ihr Zustand verschlechtert sich. Und nicht nur das: Sie hat sich während meiner Zeit mit MRGN infiziert, einem weiteren multiresistenten Erreger. Ich verlasse die Station und blicke in ihr geöffnetes Zimmer. Noch liegt sie da, mit schmerzverzerrtem Gesicht.

Einige Wochen nach meiner verdeckten Recherche rufe ich eine meiner ehemaligen Kolleginnen an. Die bestätigt mir all meine Beobachtungen, verstärkt sie sogar. Sie sagt, die von mir festgestellten Problem seien keine Einzelfälle. Besucher würden sich niemals beim Personal melden, verkeimte Patienten sich kaum einmal die Hände desinfizieren und die Informationspapiere für Patienten und Besucher habe sie noch nie zu Gesicht bekommen. Die Handdesinfektion des Personals sei mangelhaft, Schutzkleidung würde oft falsch getragen und die Putzkräfte würden isolierte und nicht-isolierte Zimmer stets durcheinander wischen.

Während der Recherche zu den Keimen sind mir einige unwissende Angehörige und renitente Patienten begegnet. Das Personal legt hygienische Vorschriften offenbar zum Teil willkürlich aus und tabuisiert die multiresistenten Keime. Die Charité ist bemüht, die hygienischen und personellen Anforderungen zu bewältigen. Das Personal ist bemüht, sich trotz Routine an die Standards zu halten und dem Arbeitsaufwand gerecht zu werden. Trotzdem habe ich viele Fehler und Probleme gesehen. Mit Keimen besiedelte Patienten und Angehörige werden nicht immer ausreichend über Hygiene informiert. Teilweise gefährden infizierte Patienten und Teile des Personals durch fahrlässigen Umgang mit den Keimen andere Patienten.

Über allem steht das große Tabu. Es mangelt offenbar an Bewusstsein und Mut, sich dem Problem ernsthaft zu stellen. Und das, obwohl in Krankenhäusern ab einer Größe von 400 Betten Hygieniker als ausgebildete Fachärzte gesetzlich verordnet sind. Obwohl Ärzte und Schwestern in Weiterbildungen zu Hygienebeauftragten ausgebildet werden. An der Charité gibt es mehr als 40 hygienebeauftragte Ärzte und mehr als 100 entsprechend fortgebildete Pflegekräfte, schreibt mir die Charité. Den oder die Hygienebeauftragte auf meiner Station, der Gastroenterologie, habe ich mit Sicherheit kennen gelernt. Ich weiß es nur nicht.

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